Allgemeine Rechtsgrundsätze

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1. Begriff und Beispiele

Der Begriff der A.n R. (general principles of law; principes généraux de oder du droit; principi generali del diritto) changiert beträchtlich. Wie alle Rechtsbegriffe relativ zu Verwendungszusammenhang und Funktion, ist er nach Kontexten zu unterscheiden. Kontextunabhängig lassen sich A.R. zunächst nur als übergreifende Rechtsmaßstäbe beschreiben. Als „Grundsätze“ sind sie meist grundlegende, generalklauselartige Maßstäbe. Ihre Weite schlägt sich nicht nur auf Tatbestands-, sondern auch auf Rechtsfolgenseite, nämlich in vielfältigen möglichen Rechtsfolgen nieder; so kann der Grundsatz von Treu und Glauben (Treu und Glauben), ein zentraler A.r R., Pflichten begründen, erweitern oder auch begrenzen. In diesem Sinne lassen sich A.R. als Prinzipien verstehen (ohne per se Prinzipien im Sinne der Prinzipientheorie Robert Alexys zu sein, d. h. abwägungsfähig [ Abwägung ] und auf Optimierung drängend). Man mag sie als Grundsätze in einem Gegensatz zu Rechtssätzen stellen, doch sind sie selbst – in näher zu bestimmender Weise – Rechtsnormen, nicht bloße Rechtsgedanken. Als „Rechtsgrundsätze“ erheben sie den Anspruch, Teil des geltenden Rechts zu sein, verhalten sich aber nicht zur Frage der Rechtsbegründung, sondern stehen lediglich einem engen Gesetzespositivismus entgegen. Auch können sie auf verschiedenen Rangstufen (insb. im Verfassungsrecht und im einfachen Recht) begegnen. Insofern „allg.“, geben A.R. vor, rechtsgebietsübergreifende Maßstäbe zu enthalten; sie sind daher bereichsspezifischen Rechtsgrundsätzen (wie dem Vorsorgeprinzip im Umweltrecht oder dem Meistbegünstigungsprinzip im Sozialrecht oder im Völkerrecht) gegenüberzustellen. Z. T. wird unter der „Allgemeinheit“ der A.n R. auch ihre Ableitung aus bes.n Rechtsregeln im Wege der Induktion verstanden. Meist fasst man unter A.n R.n keine formalen Sätze (Grundsätze der Rechtslogik oder sonstige Grundbedingungen einer jeden Rechtsordnung wie den lex-specialis-Satz), sondern materiale Grundsätze, gleich ob des materiellen, des Verfahrens- oder des Prozessrechts, etwa Treu und Glauben, pacta sunt servanda, Herausgabe ungerechtfertigter Bereicherung, Willkürverbot, Gleichbehandlungsgebot, Rechtssicherheit, Vertrauensschutz, Rechtliches Gehör, due process, nemo iudex in causa sua, Verhältnismäßigkeit – die alle kontextabhängig differenziert zu verstehen und zu konkretisieren sind.

2. Funktionen und funktionale Äquivalente

Wegen ihrer Allgemeinheit dienen A.R. typischerweise der Erstreckung bzw. Verallgemeinerung von Einzelwertungen in teilkodifizierten Rechtsordnungen, aber auch in Mehrebenensystemen (Mehr-Ebenen-Regieren), und damit der Einheits- und Systembildung: horizontal der Lückenfindung und Lückenfüllung (Extensionsfunktion), vertikal der Rechtsangleichung (Integrationsfunktion). Daneben kann die auslegungsleitende Funktion (Interpretationsfunktion) treten. Gelegentlich werden A.R. herangezogen, um Vorschriften zu modifizieren oder zu korrigieren (Korrekturfunktion). Auf von Rechtsprechung oder Rechtswissenschaft identifizierte A.R. greift der Normsetzer gelegentlich durch Positivierung in Generalklauseln (Generalklausel) oder Einzelnormen zurück; so hat der Bundesgesetzgeber den aus dem Gedanken der Rechtserhaltung entwickelten Grundsatz der Planerhaltung in §§ 214 ff. BauGB ausgeformt. Hierin liegt aber keine eigenständige Funktion der A.n R. – Die Berufung auf A.R. ist von der Gesamtanalogie dadurch unterschieden, dass bei dieser die Rechtsfolgen durch die entsprechend anzuwendenden Normen (Norm) bereits vorgegeben sind, wohingegen der Rechtsgrundsatz vielfältige neue Rechtsfolgen hervorbringen kann. Entbehrlich sind A.R. und Gesamtanalogie, wo Vorgaben aus höherrangigem Recht, insb. als Subprinzipien von Verfassungsprinzipien, hergeleitet werden. Hierin liegt ein überschießendes funktionales Äquivalent, weil der normative Gehalt mit Verfassungsrang, d. h. mit Vorrang gegenüber dem einfachen Recht ausgestattet wird.

3. Entwicklungslinien

Die regulae iuris des römischen Rechts werden überwiegend eher als Zusammenfassung geltender Rechtsregeln denn als unmittelbar anwendbare Rechtsmaßstäbe verstanden. Dagegen erlangen sie im kanonischen Recht des Mittelalters einen Selbststand, der sie in die Nähe des modernen Begriffs A.R. rückt. Auch die thomistischen universalia principia iuris, zumal in der vernunftrechtlichen Konkretisierung zu mittleren Prinzipien, lassen sich als eine Vorform der A.n R. betrachten. Eine völkerrechtliche Wurzel (Völkerrecht) A.r R. liegt in den Entscheidungsmaßstäben des praetor peregrinus, der auf der Basis des von der Formenstrenge des ius civile befreiten ius gentium judizierte. Ab dem 18. Jh. wird die Figur A.R. bes. intensiv genutzt. Sie dient der Wissenschaft als heuristisches Instrument zur Ausarbeitung juristischer Argumentationen im noch unerschlossenen nationalen Rechtsstoff, im deutschsprachigen Raum etwa bei Johann Stephan Pütter, später auch den Gesetzgebern vernunftrechtlicher Kodifikationen. So verpflichtete die Einleitung ALR im (freilich wenig angewandten) § 49 den Richter für Lückenfälle, „nach den in dem Gesetzbuche angenommenen allg.en Grundsätzen, und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandnen Verordnungen, seiner besten Einsicht gemäß“ zu urteilen, und enthielt in ihrem zweiten Teil unter der Überschrift „Allg.e Grundsätze des Rechts“ einen Fundus von Rechten, Pflichten und Rechtsanwendungsregeln, die z. T. heute noch benutzt werden, so die Figur der Aufopferungshaftung (§§ 74 f.). Weit größere Bedeutung entfalteten die principes généraux und maxime générales allerdings in Frankreich, auch als unmittelbare Entscheidungsgrundlage. Im allg.en deutschen Staatsrecht scheinen A.R. im Laufe des 19. Jh. die Funktion der Analogie zu übernehmen; wie diese gehen A. R. über die Figur des Parallelismus (der, in den Worten Klübers, nur „erklärendes Hülfsmittel“ ist) hinaus, insofern normative Folgerungen aus ihnen abgeleitet werden.

4. Katholisches Kirchenrecht

In gewisser Weise lassen sich die regulae iuris in den Dekretalen und im Liber Sextus bereits als A. R. verstehen. Wie der CIC 1917 verpflichtet der CIC 1983 (CIC) den Rechtsanwender für Lückenfälle zur Entscheidung „unter Berücksichtigung von Gesetzen, die für ähnlich gelagerte Fälle erlassen worden sind, von allg.en Rechtsprinzipien (generalibus iuris principiis) unter Wahrung der kanonischen Billigkeit sowie unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung und Rechtspraxis der Römischen Kurie und der gemeinsamen und ständigen Ansicht der Fachgelehrten“ (can. 19). Diese Ergänzungshilfen stehen in keiner Rangfolge und können kumulativ herangezogen werden; die A.n R. sind bei Lücken also nicht nur subsidiär anwendbar. Zurückzugreifen ist bei ihnen primär auf allg.e Grundsätze des geltenden Kirchenrechts, sekundär auf sonstige A.R., ggf. auch des weltlichen Rechts.

5. Privatrecht

A.R. spielen in der dicht kodifizierten nationalen Zivilrechtsordnung, die A.R. sowohl in Einzelvorschriften als auch in Generalklauseln (Generalklausel) positiviert, nur mehr eine Hintergrundrolle. Zwar werden sie, sofern sie Außenwirkung haben, als Rechtsnormen und daher als Gesetze (Gesetz) im Sinne des Art. 2 EGBGB, § 12 EGZPO betrachtet; auch können sie als Maßstab für die Inhaltskontrolle von AGB fungieren, weil die Rechtsprechung sie zutreffend als „Rechtsvorschriften“ im Sinne des § 307 Abs. 3 BGB ansieht. Insgesamt ist die Berufung auf sie aber selten; z. T. findet sie (ungenau) auch dort statt, wo die Rechtsprechung eine Gesamtanalogie bildet, also an vergleichbare Tatbestände von Einzelnormen anknüpfend deren identische Rechtsfolge anwendet. Von großer Bedeutung sind general principles hingegen für die Entwicklung und Entfaltung transnationaler Privatrechtsordnungen (Internationales Privatrecht), insb. des staatsvertraglichen Einheitsrechts (vgl. bspw. Art. 7 Abs. 2 CISG) und der neuen lex mercatoria. Sie sind hier nicht nur Gegenstand zahlreicher Wissenschaftsprojekte; vielmehr dienen sie auch als Maßstab zur Streitentscheidung, etwa wenn Schiedsgerichte vermehrt auf die UNIDROIT-Prinzipien zurückgreifen. Sie werden neben der Vertragspraxis und der Spruchpraxis der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit als weitere Quelle der lex mercatoria genannt.

6. Völkerrecht

A.R. sind von Anfang an, ante litteram, Teil des Völkerrechts gewesen. Insofern war Art. 38 Nr. 3 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs (1920) deklaratorisch, der die principes généraux de droit reconnus par les nations civilisées/general principles of law recognized by civilized nations zu den Entscheidungsmaßstäben für den Gerichtshof und damit zu den Rechtsquellen des Völkerrechts zählte. Auch die Nachfolgeregelung, Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut, spricht von civilized nations (Kulturvölkern), worunter man heute überwiegend Staaten, und zwar alle Mitgliedstaaten der UNO, versteht. Es muss freilich keine Anerkennung des Grundsatzes durch alle Staaten nachgewiesen sein; genügen soll ein wertender Rechtsvergleich (Rechtsvergleichung) der großen Rechtskreise. An die Stelle eines universellen tritt damit ein selektiver Rechtsvergleich; wie die europäische tendiert auch die völkerrechtliche Rechtsprechung zu einem funktional-wertenden Ansatz: „Allg.er Rechtsgrundsatz ist nicht, was die Mehrheit der Rechtsordnungen übereinstimmend anordnet. Allg.er Rechtsgrundsatz ist vielmehr, was sich bei einer kritischen Analyse der Lösungen, die sich nach einer rechtsvergleichenden Umschau ergeben, als die beste Lösung darstellt“ (Zweigert 1964: 611). Zusätzliche – ungeschriebene – Voraussetzung ist damit die Transponierbarkeit des jeweiligen Rechtsgrundsatzes aus der nationalen auf die internationale Ebene. Ferner darf es sich bei den A.n R.n nicht um reine Billigkeitserwägungen (Billigkeit) handeln; diese werden in Art. 38 Abs. 2 IGH-Statut geregelt. Im Ergebnis kommen damit am ehesten privatrechtliche und prozessrechtliche Grundsätze als A.R. in Betracht. Sie werden gegenüber Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht als subsidiär betrachtet, haben also im Gefüge der völkerrechtlichen Rechtsquellen inzwischen eine „Lückenbüßerrolle“ (Laun 1948: 118).

Die in Art. 2 der UN-Charta festgelegten Grundsätze (weiterentwickelt durch die Friendly Relations Declaration der UN-Generalversammlung von 1970 und durch Art. 42 Abs. 1 EUV in Bezug genommen) – souveräne Gleichheit der Staaten (Souveränität), Treu und Glauben (Treu und Glauben), Gebot der friedlichen Streitbeilegung, Gewaltverbot, Kooperation – werden dagegen unbeschadet inhaltlicher Überschneidungen nicht als A.R. bezeichnet; sie gelten als Völkergewohnheitsrecht. Auch der Verfassungsbegriff der „allg.en Regeln des Völkerrechtes“ (Art. 25 GG) ist nicht identisch mit den A.n R.n, umfasst diese aber. Als bes. wichtiges völkerrechtliches Subsystem kennt das WTO-Recht neben dem Rückgriff auf WTO-interne Rechtsprinzipien auch den Rekurs auf externe Prinzipien, darunter A.R. – Teil eines „remarkable development towards the use of principles in WTO law“ (Hilf 2001: 129).

7. Unionsrecht

Bereits die Römischen Verträge (EU) sahen vor, dass EWG und EURATOM im Bereich der außervertraglichen Haftung Schadensersatz „nach den allg.en Rechtsgrundsätzen“ leistet, „die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“ (principes généraux communs aux droits des États membres; jetzt: Art. 340 Abs. 2 AEUV). Die hierin liegende Verweisung auf die A.n R. der Mitgliedstaaten war faktisch ein Rechtsfortbildungsauftrag an den EuGH. Ob sie eine wertende Rechtsvergleichung erfordert, ist zweifelhaft. Wesentlich wichtiger wurden A.R. allerdings im Bereich der Grundrechte. Seit 1969 hat der EuGH Grundrechte als Teil der „allg.en Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung“ zum ungeschriebenen Gemeinschaftsrecht gezählt, soweit die Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sei. Hier hatte der Rekurs auf A.R. die Funktion, die Annahme ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts zu erleichtern. Mit den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ werden aber nochmals A.R. (nun wieder auf mitgliedstaatlicher Ebene) in Bezug genommen, wiederum ohne dass dem ein expliziter Rechts- bzw. Verfassungsvergleich zugrunde läge; die Fragen nach Übereinstimmungsniveau, Vergleichsgrundlage und Methode bleiben offen. In jedem Fall sind A.R. auch im grundrechtlichen Bereich Instrument der Rechtsfortbildung gewesen. Diese Rechtsprechung wurde 1992 positiviert (Art. F EUV). Wenn heute die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, „als allg.e Grundsätze Teil des Unionsrechts“ sind (font partie du droit de l’Union en tant que principes généraux/fanno parte del diritto dell’Unione in quanto principi generali), liegt in dieser missverständlichen Formulierung des Art. 6 Abs. 3 EUV (abweichend englisch: shall constitute general principles of the Union’s law) keine Relativierung des Grundrechtsschutzes. Insb. sind A.R. im Unionsrecht nicht primär objektivrechtlich zu verstehen. Das zeigen auch die vom EuGH entwickelten A.n R. der Staatshaftung der Mitgliedstaaten und des Rechtsschutzes innerhalb angemessener Frist. Zu den A.n R.n gehören nach der Rechtsprechung des EuGH weiter der Bestimmtheitsgrundsatz, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Rechtssicherheit, das Recht auf Anhörung, die Begründungspflicht. Im Rückblick gilt der Beitrag der A.n R. zur Entstehung der Gemeinschaftsrechtsordnung als „spektakulär“ (Lecheler 2003: 338).

8. Verfassungs- und Verwaltungsrecht

Im geltenden deutschen Landes- und Bundesverfassungsrecht sind A. R. eine quantité négligable.

Zwar hat das BVerfG früh ausgesprochen, dass „das Verfassungsrecht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung besteht, sondern auch aus gewissen sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allg.en Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem bes.n Rechtssatz konkretisiert hat“ (BVerfGE 2, 380, 403). Hierbei handelt es sich aber um ungeschriebene Verfassungsprinzipien im Sinne verfassunggestaltender Grundentscheidungen (d. h. Staatsstruktur- und Staatszielbestimmungen), die sich mit A.n R.n überschneiden mögen, aber nicht decken. Denn der Verfassunggeber hat den impliziten wie den expliziten Verfassungsprinzipien eine konkrete Ausformung gegeben. Ebensowenig dürfen A.R. mit „Grundsätzen“ im Sinne des Art. 23 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1, Art. 79 Abs. 3 GG identifiziert werden; hierbei handelt es sich um bestimmte Kernbestände. Bestimmte Subprinzipien von Staatsziel- und Staatsaufgabenbestimmungen dürften vielmehr funktionales verfassungsrechtliches Äquivalent zu A.n R.n sein, bspw. Vertrauensschutz als Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip. Gelegentlich erstreckt die Rechtsprechung mit Hilfe der Figur der A.n R. eine Position, so den Gleichheitssatz auch zugunsten juristischer Personen (Juristische Person) des öffentlichen Rechts, unter Berufung auf das „Prinzip der allg.en Gerechtigkeit“. Im Verwaltungsrecht haben A.R. durch die intensive Heranziehung des Verfassungsrechts zur Durchformung des einfachen Rechts sowie durch die Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts stark an Bedeutung verloren. Was bisher als Inhalt von A.n R.n erschien, lässt sich i. d. R. auch als Konkretisierung verfassungsrechtlicher Prinzipien beschreiben oder wird, wie im Staatshaftungsrecht, als Gewohnheitsrecht aufgefasst.

9. Strafrecht

Im materiellen Strafrecht spielen A.R. wegen des Analogieverbots (Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 7 Abs. 1 EMRK, § 1 StGB) allenfalls eine strafausschließende oder -mindernde Rolle. Zwar hält Art. 7 Abs. 2 EMRK die Möglichkeit offen, „dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allg.en Rechtsgrundsätzen strafbar war.“ Die Norm zwingt aber nicht hierzu, so dass die BRD den mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG gemachten Vorbehalt zurückgenommen hat. Im Strafprozessrecht besteht mehr Raum für A.R. Entgegen BGHSt. 27, 260, der von „einem allg.en Rechtsgedanken“ spricht, ist nicht anzuerkennen, dass die Verletzung eines Rechtes in Kauf genommen werden müsse, wenn es nur so möglich erscheine, ein höheres Rechtsgut zu retten.

10. Anwendungsfragen und künftige Bedeutung

Für die Begründung der A.n R. werden drei Wege genannt: rechtssysteminterne Induktion, Rechtsvergleich und Rückgriff auf früher geltendes Recht. In jedem dieser Fälle müssen die Rechtsanwender die in den geltenden Einzelnormen geronnenen Entscheidungen des jeweiligen Normsetzers mit ihren Begrenzungen achten, anstatt sie unter Berufung auf A.R. zu überspielen. Wichtigster Begründungsweg ist die Induktion, deren Überzeugungskraft mit einer sorgfältigen Zusammen- und Darstellung der Induktionsbasis steht und fällt. Wo möglich, ist der Gesamtanalogie als dem normnäheren Rechtsgewinnungsverfahren der Vorzug vor der Bildung A.r R. zu geben. Denn die Konkretisierung A.r R. – durch Bildung von Subprinzipien, Fallgruppen und Fallnormen – ist ebenso fehler- und streitanfällig wie ihre Begründung: „Längere, auch vernunftrechtliche Deduktionsketten lassen eher Streitigkeiten als brauchbare Ergebnisse erwarten“ (Wolff 1955: 41).

Bei zunehmender Dichte des gesatzten Rechts (d. h. umfassender Positivierung) haben A.R. in ihrer Extensionsfunktion abnehmende Bedeutung, sie werden nach Fritz Ossenbühl unsichtbar. Gleiches gilt bei zunehmender Bedeutung höherrangigen Rechts (Konstitutionalisierung), weil sich hier konkrete Vorgaben durch Subprinzipien ableiten lassen. Durch ihre Interpretationsfunktion bleiben A.R. auch in dicht positivierten Rechtsordnungen präsent, wiewohl mit Vorsicht zu handhaben, weil sie auch schroffe Entscheidungen des Normsetzers achten müssen. Wo an nicht oder disparat geregelte Bereiche zunehmende Regelungserwartungen getragen werden, können A.R. ihre Integrationsfunktion entfalten. Hier besteht die Schwierigkeit, einerseits Einheitsbildung durch wertenden Rechtsvergleich im Wege einer faktischen Majorisierung und andererseits Zersplitterung oder Normlosigkeit auf der Basis des Prinzips des kleinsten gemeinsamen Nenners zu vermeiden.

Das erfolgreiche Operieren mit A.n R.n in Mehrebenensystemen setzt bereits einen Teil jener rechtlichen und kulturellen Homogenität voraus, die es zu finden behauptet und zu schaffen beabsichtigt.