Billigkeit

  1. I. Rechtlich
  2. II. Philosophisch

I. Rechtlich

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B. (griech. epieikeia, lat. aequitas, engl. equity) ist eine Grundkategorie des Rechtsdenkens (Recht). Das zeigt sich bereits in Formeln wie „recht und billig“, im Hinweis auf die „Anschauung aller billig und gerecht Denkenden“ oder in der Reaktion des Rechtsgefühls auf eine „grobe Unbilligkeit“. Der Sinn des Begriffs weist freilich je nach Perspektive und Kontext eine große Variationsbreite auf. Häufig meint B. eine rechtliche Orientierung, die neben der positiven Rechtsordnung (Rechtspositivismus) für eine Einzelfallentscheidung berücksichtigt werden muss, um ein gerechtes Ergebnis zu erreichen (Gerechtigkeit). Die B. kann zur Auslegung einer positiven Norm, zu deren Korrektur und sogar zu deren Verwerfung, insb. aber zur Lückenfüllung herangezogen werden.

1. Die historische Dimension

Prägend für das abendländische Rechtsdenken waren die Aussagen von Aristoteles zur epieikeia (NE V.14, 1137 b; rhet. I.13, 1374 a), die eine höhere Gerechtigkeit als das positive Gesetz erreicht (Rechtspositivismus): Die in ihrer generalisierenden Einheit zunächst gerechte Norm vermag die Besonderheit des Einzelfalls nicht immer angemessen zu berücksichtigen und kann daher zu ungerechten Ergebnissen führen. Die B. verpflichtet dazu, die konkreten Umstände des Einzelfalls in die Abwägung einzubeziehen. Im Römischen Recht führt die aequitas zu einem Handlungsmaßstab sowohl für den Gesetzgeber wie für den Richter, wobei die Vernachlässigung der B. dazu führen kann, dass die buchstabengetreue Anwendung einer Norm zu einer ungerechten Entscheidung führt, dass somit aus „summum ius“ „summa iniuria“ werden kann (Cicero, off. 1.33).

Auch in der mittelalterlichen Philosophie wird die Höherwertigkeit der Einzelfall- gegenüber der Norm-gerechtigkeit betont (z. B. Albertus Magnus, Super Ethica, V.15, 379, 10–12: „iustitia quasi supra iustitiam“). So verweist Thomas von Aquin auf die B., wenn die Befolgung des Gesetzes für das vom Naturrecht geforderte Gemeinwohl schädlich wäre (STh II – II, qu. 96 a. 6). Der Begriff der B., der bei den Kirchenvätern und in der Scholastik mit Begriffen wie misericordia, benignitas und clementia verbunden wurde, spielt im kanonischen Recht (Kirchenrecht) seit dem 12. Jh. eine erhebliche Rolle: Seit Ivo von Chartres, Gratian und Heinrich von Segusia (Hostiensis) erscheint „aequitas canonica“ als Terminus der kirchlichen Rechtssprache. So wird in der Zeit des Abendländsichen Schismas (1378–1417) die B. als ein Notrecht der Kardinäle oder der weltlichen Fürsten verstanden, gegen das geschriebene Recht, das im Regelfall nur eine Ladung durch den Papst erlaubt, ein Konzil einzuberufen. Die aus der Not (necessitas) abgeleitete B. begleitet die konziliare Epoche bis in die Neuzeit und spielt auch noch in der reformatorischen Lehre (Ordinationspraxis, ius reformandi der Fürsten) eine Rolle.

2. Die B. im englischen und im kirchlichen Recht

Im englischen Recht führte die Erstarrung des Common Law zu einer korrigierenden Rechtsprechung des Kanzlers, der im königlichen Auftrag als „keeper of the king&s_apo;s conscience“ tätig wurde. Die auf Verbesserung und Aktualisierung des Common Law ausgerichtete Judikatur des Court of Chancery, die von der Kanonistik inspiriert worden war, urteilte seit dem 14. Jh. ex aequo et bono und entwickelte die Equity als ein dem Law gegenüberstehendes Normengefüge. Erst eine Justizreform der Jahre 1873/75 fügte den Court of Chancery und die Common Law-Gerichte zu einer einheitlichen Organisation von Gerichten zusammen, die beide Rechte anwenden. Als eine große Leistung der Equity-Rechtsprechung gilt die Herausarbeitung des Rechtsinstituts der Treuhand (trust). Das geltende katholische Kirchenrecht nimmt mehrfach auf die B. Bezug, so etwa, wenn in can. 19 CIC/1983 für die Rechtsfindung, insb. bei Gesetzeslücken, auf die „cum aequitate canonica“ anzuwendenden allgemein Rechtsprinzipien verwiesen und somit eine dynamische Rechtsfortbildung ermöglicht wird.

3. B. als Begriff des geltenden Rechts

B. ist zunächst ein allgemeiner Rechtsgrundsatz (Allgemeine Rechtsgrundsätze), doch ist er inzwischen in viele Normen des positiven Rechts (Rechtspositivismus) aufgenommen worden. Im Bürgerlichen Recht (Privatrecht) finden sich Hinweise auf die B. bspw. im Vertragsrecht, wenn bei der Leistungsbestimmung auf das „billige Ermessen“ verwiesen wird (§§ 315, 317, 319 BGB). Im Schadensersatzrecht spricht der Gesetzgeber bei immateriellen Schäden eine „billige Entschädigung in Geld“ zu (§ 253 Abs. 2 BGB) oder gewährt eine Ersatzpflicht „aus B.-Gründen“ (§ 829 BGB). Im Unterhaltsrecht und bei der Regelung von Scheidungsfolgen versucht man Härten bei „grober Unbilligkeit“ zu vermeiden (u. a. §§ 1361 Abs. 3, 1381, 1579 BGB). Eine zunehmende Rolle spielt die B. im Arbeitsrecht, wo z. B. § 75 BetrVG Arbeitgeber und Betriebsrat verpflichtet, die im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von „Recht und B.“ zu behandeln. Auch bei der Kontrolle von Energiepreisen, im Regulierungsrecht und im europäischen Privatrecht gewinnt die B. an Raum. Im öffentlichen Recht liegt die B. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zugrunde. Ferner steht der Gedanke der B. hinter der Normierung von Härteklauseln, die in vielen Gesetzen (u. a. Baurecht, Steuerrecht) enthalten sind. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass der Begriff der „unbilligen Härte“ der unbeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dies ist bedeutsam, denn die Berufung auf Begriffe wie „unbillige Härte“ oder „billiges Ermessen“ muss im Einzelfall durch Sachgründe belegt werden und darf nicht dazu führen, dass durch eine verschwommene Anwendung von B.-Argumenten die Rechtssicherheit gefährdet wird.

II. Philosophisch

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Mit dem Konzept der B. soll der Problematik Rechnung getragen werden, wie Gerechtigkeit in der Entscheidung von konkreten Streitfällen zu erzielen ist, obschon die hierfür in Anschlag gebrachten Gesetze allgemein und abstrakt sind. Hatte Platon auf diesen Mangel der Gesetze mit dem Verweis auf den idealen, über den Gesetzen stehenden Herrscher bzw. auf einen richterlichen Ermessensspielraum reagiert, so nutzt Aristoteles die B. als Korrektiv der Gesetze.

Gemäß frühgriechischen Denkens in homerischer und vorsokratischer Zeit verhielt sich billig, wer sich in positiver Weise in die gegebenen sozialen Muster fügte. Bereits bei Herodot kann ein billiges und lobenswertes Handeln gerade im Verzicht auf eine rigorose Rechtsanwendung zum Ausdruck kommen. Im philosophischen Kontext wendet erst Aristoteles B. (epieikeia) als terminus technicus in positiver Konnotation an. Weil kein Gesetz alle Handlungsbedingungen berücksichtigen kann, wird eine kompensative Leistung erforderlich, die für Aristoteles aber Teil der Gerechtigkeit ist. Konkret können damit sowohl eine angemessene ethos- und erfahrungsbezogene Urteilsbildung durch den Richter, der alle Umstände berücksichtigt, wie auch der Verzicht auf einen sich aus dem Gesetzestext ergebenden, in der Situation aber überzogenen Anspruch durch eine der streitenden Parteien bezeichnet werden.

Thomas von Aquin versteht aequitas (Epikie) ebenfalls als Teil der Gerechtigkeit und bestimmt sie deshalb als Teiltugend (Tugend). Dabei bringt er das patristische Ideal der Milde und Nachsicht mit der durch Aristoteles und die römische Rechtstradition geforderten akribischen Berücksichtigung aller konkreten Umstände in einen Zusammenhang.

Dass und ob diese grundsätzliche normative und rechtsethische Problemstellung unter dem expliziten Stichworte Epikie, aequitas oder B. verhandelt wird, hängt v. a. an den Rezeptionstrassen der aristotelischen Ethik und der römischen Rechtstradition. Immanuel Kant vollzieht zwar das Ausgangsproblem nach, welches Aristoteles zur Forderung nach B. als über die Gesetzesgerechtigkeit hinausgehende Gerechtigkeit veranlasst hatte, will aber nicht zugestehen, dass es im Rechtssystem ein Institut gibt, welches das Gesetz im Zweifelfall einschränkt oder aufhebt. B.s-Forderungen können nach I. Kants „Metaphysik der Sitten“ deshalb nicht zwangsbewährt sein.

Innerhalb der jüngeren praktischen Philosophie spielt das Konzept der B. selbst in den neoaristotelischen, topischen (Topik) und kasuistischen Ansätzen kaum eine Rolle. Die meisten zeitgenössischen Theorien der Gerechtigkeit kommen ohne Rekurs auf die B. aus. Lediglich in der gesundheitsethischen Debatte über den angemessenen Zugang wird etwa im Anschluss an Art. 3 der Oviedo-Konvention ein billiger Zugang zur Gesundheitsversorgung (equitable access to health care) gefordert. Darunter solle zwar nicht ein egalitärer Zugang, wohl aber ein zufriedenstellendes Maß an Versorgung und der Ausschluss von Diskriminierungen (Diskriminierung) verstanden werden. Eine begrifflich klare Verhältnisbestimmung von B. (equity) und Gerechtigkeit (justice) steht indes noch aus.