Rechtsvergleichung

1. Begriff und Herkunft

Die R. befasst sich mit dem Vergleich von Rechtsordnungen oder Rechtsinstituten verschiedener Staaten. In einem weiteren Sinne umfasst sie auch den Vergleich von Rechtselementen verschiedener politischer Systeme, die nicht notwendig Staaten sind, etwa den Vergleich zwischen europäischem Unionsrecht (Europarecht) und nationalem Recht, zwischen dem Recht subnationaler Gebietskörperschaften oder zwischen völkerrechtlichen Verträgen. Obzwar vergleichende Betrachtungen zu politischen Gemeinwesen bereits in Schriften der Antike und später insb. bei Autoren der Aufklärung (z. B. bei Charles de Montesquieu und Johann Heinrich Gottlob von Justi) zu finden sind, wird die Entstehung der „modernen“ R. im Allgemeinen auf die zunehmende Befassung mit ausländischem Recht und die Ausbildung neuer rechtsvergleichender Ansätze in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zurückgeführt. Der internationale Kongress für R., der im Jahr 1900 in Paris während der Weltausstellung stattfand, steht sinnbildlich für den entscheidenden Entwicklungsschritt: die Anerkennung der R. als eigenständiges Fach der Rechtswissenschaft. Eine wichtige Strömung auf dem Pariser Kongress war zugleich mit der Vorstellung verbunden, die R. diene der Feststellung eines „der zivilisierten Menschheit gemeinen Rechts“ („droit commun de l’humanité civilisée“ [Saleilles 1905: 181]). Danach würde das im Vergleich ermittelte Recht gleichsam zu einer eigenen Rechtsquelle. Der in Frankreich für die R. gebräuchliche Begriff droit comparé (italienisch: diritto comparato; spanisch: derecho comparado), d. h. wörtlich: „verglichenes Recht“, konnotiert bis heute diese Sichtweise, wenngleich innerhalb der R. ein universeller Anspruch nur noch selten, etwa bei der Herausarbeitung allgemeiner Rechtsgrundsätze, erhoben wird und kulturalistische, d. h. die spezifische historische und kulturelle Prägung des Rechts betonende Zugänge überwiegen. Während anfangs wegen der praktischen Bedürfnisse des grenzüberschreitenden Handelsverkehrs einerseits und der relativen Geschlossenheit der nationalen Verwaltungssysteme andererseits eindeutig die Zivil-R. dominierte, hat sich dies im Laufe des 20. Jh. schrittweise geändert. Neben der bereits seit Längerem in verfassunggebenden Prozessen einflussreichen Verfassungsvergleichung hat in den zurückliegenden Jahrzehnten mit der Öffnung der Staaten für eine immer engere internationale Verwaltungskooperation – in Europa namentlich im Rahmen der EU – die Verwaltungs-R. stetig an Bedeutung gewonnen. Die verstärkte Zusammenarbeit auch im Bereich der Justiz fördert entspr. die Entwicklung der Straf-R.

2. Funktionen der Rechtsvergleichung

Die R. kann sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen. Im Ausgangspunkt geht es häufig schlicht um die Einordnung der eigenen Rechtsordnung in einen internationalen Kontext durch Herausarbeitung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Doch werden mit der R. in der Regel weitergehende Ziele verfolgt. Je nach Schwerpunkt des Forschungsinteresses lassen sich die Erkenntnisfunktion und die praktische oder rechtspolitische Funktion der R. unterscheiden.

Die Erkenntnisfunktion umfasst Aspekte wie die Schaffung von Distanz zur eigenen Rechtsordnung, um Besonderheiten, aber auch Stärken oder Schwächen zu erkennen, sowie die Ermittlung empirischer Grundlagen für rechtstheoretische und rechtsphilosophische Untersuchungen. Ebenfalls zur Erkenntnisfunktion – wenngleich bereits in Nähe zu rechtspraktischen Zielen – sind die Ermittlung überstaatlicher allgemeiner Rechtsgrundsätze (z. B. im Recht der EU oder im universellen Völkerrecht) und sich auf dieser Grundlage bildender Rechtsregime (etwa eines „internationalen Verwaltungsrechts“) zu zählen, dgl. die Berücksichtigung ausländischen Rechts und der dazu ergangenen Judikatur bei der Interpretation des eigenen Rechts (z. B. hinsichtlich der Reichweite eines Grundrechts). Auch wenn man von einer Qualifizierung der R. als „‚fünfter‘ Auslegungsmethode“ (Haeberle 1989) im Hinblick auf die unterschiedlichen Legitimationsgrundlagen der betrachteten Rechtsordnungen absehen mag, so ist doch die Einbeziehung ausländischer Rechtsdiskurse als Mittel der Erweiterung des Argumentationshaushalts und damit der Rationalitätssteigerung anzuerkennen.

Die praktische oder rechtspolitische Funktion der R. nutzt ebenfalls die R. als Inspirationsquelle und Argumentationsreservoir. Hier soll die R. helfen, in verfassunggebenden Prozessen oder bei der Ausarbeitung neuer Gesetze mögliche Innovationen oder Errungenschaften zu diskutieren und gegebenenfalls in das Vorhaben einzubeziehen. Rechtsvergleichende Hinweise können freilich auch selektiv genutzt werden, um die eigene politische Position zu untermauern. Nicht selten beruht eine derartige Argumentation auf einem lediglich oberflächlichen Vergleich.

3. Methode der Rechtsvergleichung

Die R. folgt nicht einem einheitlichen methodologischen Schema. Daraus hat man teilweise auf ein Methodendefizit der R. geschlossen. Dem ist entgegenzuhalten, dass allein die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, die mit der R. verbunden sind, unterschiedliche Vorgehensweisen erfordern. Fest steht nur, dass ein Vergleich einen Vergleichsmaßstab, d. h. die Ermittlung eines tertium comparationis, erfordert. Dieses kann sich z. B. auf eine semantische oder eine funktionale Ähnlichkeit beziehen. Dabei mag der von Léontin-Jean Constantinesco vorgeschlagene Dreischritt eine erste Orientierung bieten: erstens die Gewinnung von Kenntnis der zu vergleichenden Elemente, zweitens das Verständnis des zu vergleichenden Elementes und drittens die Vergleichung selbst. Im Übrigen ist Folgendes zu beachten:

a) Die Strukturierung rechtsvergleichender Untersuchungen muss im Hinblick auf das jeweilige Erkenntnisziel gerechtfertigt werden. Die Frage bspw., ob in der Vergleichsordnung ein gleichwertiges Rechtsschutzinstrument zur Verfügung steht (Fall eines Mikrovergleichs) erfordert eine andere Vorgehensweise als die Frage, ob zwei oder mehr Länder vergleichbare rechtsstaatliche Standards aufweisen (Fall eines Makrovergleichs); ebenso ist die Frage nach einer bestimmten Rechtstechnik mit Hilfe anderer Forschungszugänge zu beantworten als die Frage nach bestimmten rechtskulturellen Unterschieden. Schließlich ist für die Wahl der Untersuchungsschritte auch von Bedeutung, ob der Vergleich auf das geltende Recht bezogen (synchroner Vergleich) oder intertemporal angelegt ist (diachroner Vergleich).

b) Was die aus einem Vergleich zu ziehenden Schlüsse anbetrifft, so ist hierfür die Vergleichstiefe entscheidend. Allein um festzustellen, ob eine bestimmte Rechtsregel in zwei Rechtsordnungen gleichermaßen gilt, genügt es nicht, auf einen Textbefund abzustellen. Bereits in diesem Fall muss die Norm vielmehr auch in ihrem Kontext betrachtet werden. Je nachdem, ob man nur den normativen Kontext einbezieht oder zusätzlich Erwägungen zum weiteren Rechtskontext anstellt, etwa zur Stellung des maßgeblichen Gesetzes in der Rechtsordnung oder zu seiner rechtskulturellen Verankerung, wird das Vergleichsergebnis mehr oder weniger tragfähig sein.

c) Für einen Vergleich mittlerer Reichweite gilt traditionell die funktionale R. als Mittel der Wahl. Dieser heute mehrere Spielarten aufweisende Ansatz beruht auf der Grundforderung, dass der Vergleich nicht allein auf formale oder textuelle Eigenschaften zu stützen ist, sondern auf die Funktion, die eine Norm oder ein Rechtsinstitut in der sozialen Wirklichkeit erfüllt. Die funktionale R. ist freilich immer wieder Kritik ausgesetzt, nicht zuletzt von postmodernen, die Inkommensurabilität der Rechtssysteme betonenden Positionen aus. Ungeachtet dessen bleibt die Grundaussage der funktionalen R. eine maßgebliche Orientierung.

4. Rechtsvergleichung in der Praxis

Die R. hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer auf Gesetzgebung und Rechtsprechung einflussreichen Wissenschaftsdisziplin entwickelt. Dies gilt nicht nur für die Berücksichtigung rechtsvergleichender Erkenntnisse in der nationalen Rechtsetzung und Judikatur, sondern auch für die Entwicklung gemeinsamer überstaatlicher Regeln und Standards. Die Gesetzgebung der EU und die Rechtsprechung des EuGH bilden prominente Beispiele. Die Praxis der R. ist durch eine häufig enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Praktikern gekennzeichnet. Rechtsvergleichende Arbeit ist nicht zuletzt dort unerlässlich, wo es um die Veränderung nationaler Verwaltungsstrukturen und -verfahren geht mit dem Ziel, eine Interoperabilität zwischen verschiedenen Systemen herzustellen. Die rechtsvergleichende Arbeit gehört routinemäßig auch zur Vorbereitung von Entscheidungen der internationalen Menschenrechtsgerichtshöfe. Dem EGMR dient sie nicht zuletzt zur Feststellung von Beurteilungsspielräumen der Konventionsstaaten. Eine herausragende Rolle spielt die R. für Rechtsprojekte im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Die Erkenntnisse sowohl aus universalistischen als auch kulturalistischen Ansätzen der R. bilden die Grundlage für die Erarbeitung von Gesetzen und für die Entwicklung von Institutionen, die zum einen internationalen Standards genügen und zum anderen den rechts- und verwaltungskulturellen Besonderheiten des jeweiligen Landes Rechnung tragen. Je weiter die Verflechtung der internationalen Gemeinschaft voranschreitet, desto dringender wird die gebührende Berücksichtigung der R. auch in der juristischen Ausbildung.