Rechtliches Gehör

1. Geltungsgrund

„Rechtliches Gehör ist nicht nur ein ‚prozessuales Urrecht‘ des Menschen, sondern auch ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren […] schlechthin konstitutiv ist“ (BVerfGE 107,395 [408]). Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können.

Der Grundgedanke r.n G.s ist alt und war bereits im Römischen Recht anerkannt (audiatur et altera pars). Förmliche Garantien des (prozessrechtlich bereits zuvor verwirklichten) r.n G.s haben in Deutschland jedoch erst nach 1945 – auch im Eindruck des NS-Staats – Eingang in die Verfassungstexte gefunden, zunächst in die Landesverfassungen (z. B. Art. 91 Abs. 1 BayVerf), sodann in das GG. Art. 103 Abs. 1 GG lautet: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör“. Umfasst ist die Gewährleistung auch von Art. 6 Abs. 1 EMRK; Gleiches gilt für Art. 47 Abs. 2 EuGRC.

Das Recht auf r. G. wurzelt laut BVerfG in der Menschenwürdegarantie (Menschenwürde). Es ist ein Prozessgrundrecht sowie grundrechtsgleiches Recht i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; als solches (d. h. als subjektives Recht) ist es für den Einzelnen da. Zugleich wurzelt es im Rechtsstaatsprinzip (Rechtsstaat); als solches ist es ein dieses konkretisierendes, objektivrechtliches Verfahrensprinzip und hat auch den Zweck, einer besseren Sachaufklärung und der Herbeiführung richtiger Entscheidungen zu dienen.

2. Gewährleistung

Art. 103 Abs. 1 GG garantiert r. G. nur vor staatlichen Gerichten, nicht jedoch vor sonstigen staatlichen Stellen (insb. der Exekutive). Für die Verwaltung folgen Anhörungspflichten jedoch aus dem Rechtsstaatsprinzip (z. B. § 28 VwVfG).

Das Recht steht jedermann zu, der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei beteiligt ist; dies kann auch eine ansonsten nicht grundrechtsfähige Person sein.

Inhaltlich wird die Gewährleistung durch den Dreiklang „Recht auf Information – Recht auf Äußerung – Recht auf Berücksichtigung“ beschrieben. R. G. besagt im Kern, dass grundsätzlich in einer gerichtlichen Entscheidung kein Tatsachenstoff verwertet werden darf, zu dem der Betroffene nicht vollständig und in Kenntnis seiner potentiellen rechtlichen Bedeutung hat Stellung nehmen können; das Gericht hat von einer etwaigen Stellungnahme des Betroffenen inhaltlich Kenntnis zu nehmen und sie bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Die notwendige Information des Betroffenen leistet das Gericht durch Ladung und Zustellung, durch Gewährung von Akteneinsicht sowie durch bes. Hinweise. Aus dem Recht auf Berücksichtigung folgen Erwägungs- und ggf. auch Begründungspflichten des Gerichts. Der Anspruch auf r. G. verleiht kein Recht auf ein bestimmtes Beweismittel, wohl aber ein Recht auf Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge.

Die nähere Ausgestaltung und Konkretisierung des Anspruchs auf r. G. obliegt dem Gesetzgeber. Vor dem BVerfG justiziabel sind jedoch der aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Mindeststandard (ggf. auch in Gestalt verfassungsunmittelbarer Anhörungsrechte) sowie die Prüfung, ob die Bedeutung des Grundrechts bei der Anwendung des einfachen Rechts verkannt worden ist (verfassungskonforme Auslegung). Das Grundrecht ist Beschränkungen zugänglich, die einer effektiven Verfahrensgestaltung und der Rechtssicherheit dienen. Fristsetzungen, Präklusionen und Ähnliches sind am Grundrecht auf r. G. zu messen, können bei zumutbarer Verfahrensgestaltung aber gerechtfertigt sein.

3. Verletzungsfolgen

Die Verletzung r.n G.s führt zur Aufhebung der Gerichtsentscheidung, wenn sie auf diesem Mangel beruht; auf ein Verschulden des Gerichts kommt es nicht an. Der Verletzte muss von den ihm durch das Prozessrecht zur Korrektur der Rechtsverletzung gebotenen Möglichkeiten, insb. von der Einlegung eines Rechtsmittels, Gebrauch machen. Subsidiär ist auch die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG möglich. Vorab ist gegen letztinstanzliche Entscheidungen jedoch die fachgerichtliche Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO, § 152a VwGO. § 356a StPO u. a. zu erheben, die vom Gesetzgeber nach einer – eine solche Möglichkeit einfordernden – Plenarentscheidung des BVerfG aus dem Jahre 2003 (BVerfGE 107,395) eingeführt wurde. Nach Maßgabe von BVerfGE 96,345 können landesgerichtliche Entscheidungen, obwohl sie nach einem bundesrechtlich geregelten Verfahren ergangen sind, auch vor den Landesverfassungsgerichten wegen Verletzung der mit Art. 103 Abs. 1 GG inhaltsgleichen landesverfassungsrechtlichen Garantien r.n G.s angegriffen werden. Nach wie vor wird mehr als ein Drittel der Verfassungsbeschwerden beim BVerfG auch auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützt.