Widerstandsrecht

Version vom 8. Juni 2022, 09:09 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Widerstandsrecht)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

1. Überblick

Der Begriff W. (facultas resistendi, ius resistendi, right to resist, droit de résistance à l’oppression), in Deutschland erst im 19. Jh. gebräuchlich, teilt mit dem Begriff des „Widerstands“ dessen Unschärfe. Mit ihm lassen sich sehr unterschiedliche – theologisch, philosophisch und juristisch beantwortbare – Fragen erfassen: der seit der Antike diskutierte Tyrannenmord, die sonstige Ersetzung ungerechter Hoheitsgewalt, die Notwehr gegen Hoheitsträger in Form defensiver Abwehr oder eines Gegenangriffs und der passive Ungehorsam. Deutlich zu unterscheiden ist die moderne Kategorie zivilen Ungehorsams als symbolische Regelverletzung. Meist geht es beim W. heute um ein individuelles, seltener um ein institutionelles Recht, während es in der frühen Neuzeit meist als ständisches Recht verstanden wurde. Den Begriff des W.s von asymmetrischen auf symmetrische Machtverhältnisse zu übertragen (etwa auf das mittelalterliche Recht des Papstes, weltliche Herrscher abzusetzen), dürfte den Begriff überdehnen. Eine Widerstandspflicht – im NT angelegt, aber theologisch und juristisch erst wesentlich später entfaltet – wird ebenfalls v. a. als individuelle Pflicht diskutiert.

2. Theologisch

Anknüpfungspunkte für ein W. lassen sich bereits im AT finden (bspw. Ri 3–9, 1 Makk 2, Dan 6), woran bspw. Johann Althusius anknüpfte. Im NT wird die Forderung nach dem Verzicht auf Widerstand (Mt 5,39) und nach Gehorsam gegenüber der Obrigkeit (Röm 13) ergänzt durch den Vorrang des Gehorsams gegenüber Gott (Apg 5,29). Dies wird von Thomas von Aquin differenziert entfaltet. So dürfen Gesetze von Tyrannen, die zu Idolatrie verführen, auf keine Weise befolgt werden; hier besteht ein kategorisches W., genauer: eine Pflicht zu (passivem) Widerstand. Wo dagegen ein Gesetz die Betroffenen nur ungerecht belastet, steht das W. unter dem Vorbehalt, dass weder Ärgernis noch größerer Schaden eintritt („sine scandalo vel maiori detrimento“, STh I-II, 96,4). In ähnlicher Weise ist die Bekämpfung des Tyrannen erlaubt, es sei denn, sie verursache größeren Schaden („detrimentum“) als dieser selbst (STh II-II, 42,2).

Martin Luther bejahte nach anfänglichem Zögern ein W. der Kurfürsten gegen den Kaiser und ein W. aller gegen den Papst. Im Calvinismus bejahen die Monarchomachen ein breiteres W. gegen Tyrannen; das übernehmen später unter umgekehrten konfessionellen Vorzeichen katholische Monarchomachen. Gegenüber katholischer Moraltheologie und reformierter Ethik wird der lutherischen Ethik bis 1945 ein restriktiveres Verständnis des W.s zugeschrieben, das sich unter dem Einfluss Dietrich Bonhoeffers öffnete. D. Bonhoeffer zufolge bindet die Gehorsamspflicht den Christen „solange, bis die Obrigkeit ihn direkt zum Verstoß gegen das göttliche Gebot zwingt, bis also die Obrigkeit offenkundig ihren göttlichen Auftrag verleugnet und so ihres Anspruchs verlustig geht“. Doch könne der Ungehorsam „immer nur eine konkrete Entscheidung im Einzelfall sein“ (Bonhoeffer 1996: 522). Nur der halte stand, „dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf“ (Bonhoeffer 1998: 23). „Civilcourage“ könne nur „auf der freien Verantwortlichkeit des freien Mannes erwachsen“; sie beruhe „auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht“ (Bonhoeffer 1998: 24).

3. Philosophisch

Platon stellt in der Person des Sokrates den Vorrang des Gehorsams gegenüber Gott (Plat. apol. 29d) neben die Forderung nach Gesetzesgehorsam bis in den Tod (Plat. Krit. 50a ff.). Demgegenüber betont Cicero das Recht, das eigene Leben ungestraft zu verteidigen (Rede für Titus Annius Milo 6). In Thomas Hobbes Vertragstheorie „kann niemand das Recht aufgeben, denen Widerstand zu leisten, die ihn mit Gewalt angreifen, um ihm das Leben zu nehmen“ (Hobbes 2011: 129). Daher darf der Einzelne auch dem Souverän den Gehorsam zum Schutz des eigenen Körpers verweigern, nicht aber zum Schutz anderer. Orientiert an scholastischem und calvinistischem Denken bejaht J. Althusius gegen Tyrannen ein W. der Optimaten und Ephoren, nicht aber der Privaten, außer wiederum gegen den Usurpierenden. Auch John Locke erkennt ein differenziertes W. an. Strikt gegen jedes W. wendet sich Immanuel Kant, der „kein Recht des Aufstandes (seditio), noch weniger des Aufruhrs (rebellio), am allerwenigsten gegen ihn als einzelne Person (Monarch), unter dem Vorwande des Mißbrauchs seiner Gewalt (tyrannis)“ anerkennt (Kant 1914: 320); sein Einfluss war über mehr als 100 Jahre prägend für die deutsche Diskussion um das W. Dagegen wird in den USA im 19. Jh. mit Henry David Thoreau eine Stimme einflussreich, die eine Widerstandspflicht artikuliert. Im 20. Jh. knüpft John Rawls daran mit der Frage an, ob eine Pflicht zum Gehorsam gegenüber ungerechten Gesetzen bestehe. Die Gehorsamspflicht erlösche, wenn der Volkswille hinreichend ungerecht sei. Dem zivilen Ungehorsam, den J. Rawls von der Weigerung aus Gewissensgründen unterscheidet, widmet er eine ausgebaute Theorie „für den Spezialfall einer fast gerechten Gesellschaft“ (Rawls 1998: 399). Ziviler Ungehorsam stelle einen öffentlichen Appell an den Gerechtigkeitssinn (Gerechtigkeit) der Mehrheit dar, die Weigerung aus Gewissensgründen dagegen sei keine Handlung vor dem Forum der Öffentlichkeit.

4. Juristisch

Vorläufer eines W.s lassen sich in germanischen Vorstellungen von einer Sanktionierung der Verletzung der Schutz- und Treuepflichten der Obrigkeit durch die Untertanen, in der mittelalterlichen Vorstellung einer Sanktionsbefugnis bei Missachtung von Privilegien und Freiheiten durch Fürsten, Land- bzw. Reichsstände und im naturrechtlichen Rückgriff auf antike Vorstellungen vom Tyrannenmord finden. Die frühe Positivierung eines W.s wird in Kap. 61 der Magna Charta von 1215 gesehen. In der Neuzeit garantierte Art. 3 der Virginia Bill of Rights 1776 der Mehrheit der Gemeinschaft gegenüber jeder unangemessenen Regierung das „indubitable, unalienable, and indefeasible right to reform, alter or abolish it“. Die ausdrückliche Garantie eines W.s enthält Art. 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789, der zu den natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechten „la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l’oppression“ zählt. In Deutschland hielt es Hermann Conring am Ausgang des 17. Jh. für allg. anerkannt, dass, was dem Naturrecht oder den göttlichen Geboten zuwiderlaufe, nicht zu befolgen sei. Bei Umwälzungen der Staatsform sah er ein gestuftes W.: zunächst durch Bitten und Eingaben, dann Ungehorsam bei Inkaufnahme von Strafen, dann eine defensive und schließlich offensive Gewalt. Im Allgemeinen Staatsrecht des 18. Jh. war das W. beinahe zum Allgemeinplatz geworden. Auch im 19. Jh. und frühen 20. Jh. blieb das W. im Wesentlichen unpositiviert: Weder die Paulskirchenverfassung noch die WRV enthielten ein W.

In Reaktion auf die Erfahrung des Nationalsozialismus normierten zwei frühe Landesverfassungen (Hessen und Bremen) sowie die DDR-Verfassung 1949, jeweils noch über ein W. hinausgehend, eine Widerstandspflicht: Die HessVerf erklärt Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt zu „jedermanns Recht und Pflicht“ (Art. 147 Abs. 1) und verpflichtet jeden, mit allen Kräften für die Verfassung einzutreten (Art. 146 Abs. 1) sowie Verfassungsbruch zur Strafverfolgung zu bringen (Art. 147 Abs. 2). Nach Art. 19 Abs. 1 BremVerf ist bei Menschenrechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt „Widerstand jedermanns Recht und Pflicht“. Art. 4 Abs. 1 DDR-Verfassung 1949 statuierte eine Widerstandspflicht gegen Maßnahmen, die die Volksvertretung zuvor für verfassungswidrig erklärt hat (in den folgenden DDR-Verfassungen getilgt). Dagegen sprach sich der Parlamentarische Rat mit überwältigender Mehrheit gegen einen Vorschlag Hans-Christoph Seebohms aus, ein W. einzufügen („Bei Verfassungsbruch sowie rechts- und sittenwidrigem Mißbrauch der Staatsgewalt wird ein Widerstandsrecht anerkannt. Öffentliche Amtsträger sind in diesen Fällen zum Widerstand verpflichtet.“ [Deutscher Bundestag/Bundesarchiv 2009: 1432]), weil es – so Carlo Schmid – als Aufforderung zum Landfriedensbruch verstanden werden könne. Als sich im KPD-Verbotsverfahren die KPD auf ein W. berief, hielt das BVerfG fest, der grundgesetzliche Normierungsverzicht stehe einem verfassungsrechtlichen W. nicht entgegen; ein solches W. könne es aber, wenn überhaupt, „nur im konservierenden Sinne geben, d. h. als Notrecht zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung. Ferner muß das mit dem Widerstande bekämpfte Unrecht offenkundig sein und müssen alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, daß die Ausübung des Widerstandes das letzte verbleibende Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechtes ist“ (BVerfGE 5,85 [377]). Daher versagte das Gericht der KPD die Berufung auf ein W.

1968 wurde in Kompensation zur Notstandsgesetzgebung (Staatsnotstand) in Art. 20 GG folgender Abs. 4 eingefügt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Die geschützte Ordnung wird durch die in Art. 20 GG normierten Verfassungsprinzipien gebildet. Es handelt sich der Konzeption nach um ein grundrechtsgleiches Recht, das ausdrücklich mit der Verfassungsbeschwerde soll durchgesetzt werden können (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, hierzu BVerfGE 123,267 [333]). Seine Formulierung – und damit insb. die Subsidiaritätsklausel – übernahmen Sachsen und Sachsen-Anhalt in ihre Verfassungen (Art. 114 SächsVerf, Art. 21 Abs. 5 LSAVerf), während die Berliner Verfassung ein W. – ohne Subsidiarität – an eine offensichtliche Verletzung der Grundrechte knüpft (Art. 36 Abs. 3). Die Schweiz und Österreich verankern – wie viele andere europäische Staaten – kein W. in ihren Verfassungen. Das grundlegende Dilemma bei einem positivierten W. wird in der deutschen Diskussion in der Tatsache gesehen, dass es bei erfolgreicher Abwehr eines Umsturzes unnötig, bei erfolgloser Abwehr wirkungslos sei. Diese Kritik verkennt die Vorwirkung einer Verankerung des W.s: Sie erinnert an die Schutzbedürftigkeit einer Verfassungsordnung, sie ermutigt zu ihrem Schutz, und sie stellt Verfassungsfeinden tatsächlichen Widerstand in Aussicht. Ein „Vollkasko-Widerstandsrecht“ will und kann Art. 20 Abs. 4 GG nicht gewährleisten (Wittreck 2015: Rdnr. 16). Daher erscheint auch die Kritik, die Norm verschleiere das Risiko, das notwendig mit dem Widerstand verbunden sei, als überzogen.

Über einem W. dürfen die rechtsstaatlichen Alltagsinstrumente zur Verhinderung und Bekämpfung von Rechtsbruch nicht in Vergessenheit geraten: Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, verwaltungsgerichtlicher und verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz, auch in der Form der Vorlage verfassungswidriger Gesetze an das BVerfG, die Nichtanwendungskompetenz der Behörden und Gerichte für rechtswidrige einfachgesetzliche Normen und die beamtenrechtlichen Regelungen zum Umgang mit Unrecht, insb. die Remonstrationspflicht: „Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen haben Beamtinnen und Beamte unverzüglich auf dem Dienstweg geltend zu machen. Wird die Anordnung aufrechterhalten, haben sie sich, wenn die Bedenken fortbestehen, an die nächst höhere Vorgesetzte oder den nächst höheren Vorgesetzten zu wenden. Wird die Anordnung bestätigt, müssen die Beamtinnen und Beamten sie ausführen und sind von der eigenen Verantwortung befreit. Dies gilt nicht, wenn das aufgetragene Verhalten die Würde des Menschen verletzt oder strafbar oder ordnungswidrig ist und die Strafbarkeit oder Ordnungswidrigkeit für die Beamtinnen oder Beamten erkennbar ist“ (Art. 36 Abs. 2 BeamtStG).

Ob dies den sog.en zivilen Ungehorsam, d. h. die „symbolische Regelverletzung unter den Augen der Öffentlichkeit“ (Enders 2006: 2704), entbehrlich macht, ist eine Frage des Einzelfalls. Rechtlich stehen die Instrumente bereit, ihn als Rechtsverletzung zu sanktionieren, ihn zu dulden oder ihn zu entschuldigen; eine Rechtfertigung wird dagegen kaum je möglich sein. Eine Berufung auf das W. setzt jedenfalls voraus, dass der Tatbestand des Art. 20 Abs. 4 GG (einschließlich der Subsidiaritätsklausel) erfüllt ist. Meist wird, wer zivilen Ungehorsam leistet, daher die staatliche Sanktion zu tragen bereit sein.

Das Europarecht im engeren Sinne (Unionsrecht) und das im weiteren Sinne (EMRK) enthalten keine Positivierungen des W.s. Das Völkerrecht erkennt „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ an (Art. 51 UN-Charta), wenn auch unter Pflicht zu sofortiger Anzeige an den UN-Sicherheitsrat, kennt aber kein allg.es W. Derzeit werden Humanitäre Intervention und responsibility to protect kontrovers diskutiert; man kann sie als Nothilfemaßnahmen mit dem Gedanken eines W.s zu begründen versuchen. Dabei ist – auch mit Blick auf die souveräne Gleichheit der Staaten und das allg.e Gewaltverbot – das in der Scholastik benannte Prüfkriterium zu bedenken, dass der Widerstand keinen größeren Schaden als der Widerstandsgrund auslösen darf.

5. Ausblick

Der demokratische und föderale Verfassungsstaat versucht, die Ausübung des W.s durch Volkssouveränität, Machtzuweisung auf Zeit, horizontale und vertikale Gewaltenteilung, Grundrechte, Rechtsbindung und Rechtsschutz entbehrlich zu machen. Dass er darin in der Vergangenheit erfolgreich war und die historische Entwicklung in diesem Sinne innerstaatlich „vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit“ (Stourzh 1974) führte, darf nicht zur Annahme verleiten, das W. sei ein archaisches und letztlich unnötiges Element im Verfassungsstaat. Seine Erinnerungs- und Appellfunktion ist unentbehrlich, und seine Vorwirkung zielt auf die Erneuerung einer stets knappen politischen Ressource: Zivilcourage.