Staatsnotstand

  1. I. Staatsrechtliche Entwicklungslinien
  2. II. Perspektiven historisch-politischer Relativierung

I. Staatsrechtliche Entwicklungslinien

Abschnitt drucken

Der Begriff S., der nicht trennscharf vom Begriff des Ausnahmezustands abgegrenzt werden kann, gibt die Antwort auf ein Verfassungsproblem: Was geschieht mit den in einer Verfassung garantierten Freiheitsrechten und den auf verschiedene Staatsorgane verteilten Kompetenzen, wenn es zu einer für den Staat existentiellen Ausnahmelage kommt? Auf der einen Seite sollen staatliche Organe zwar auch in der Krise handlungsstark sein und durch verfassungsrechtliche Begrenzungen möglichst nicht behindert werden, auf der anderen soll die Krise aber nicht zur Aushebelung der Verfassung genutzt werden können. Die Antwort auf diese komplexe Frage ist bis heute umstritten. Die verfassungstheoretischen Antworten bewegen sich zwischen zwei Polen: einem Differenzmodell in der Form des Suspensionsmodells und einem Einheitsmodell. Während das Suspensionsmodell mit dem Argument, dass Normativität Normalität voraussetze, zur Suspension der Verfassung in der existenziellen Ausnahmelage kommt, geht das Einheitsmodell von der umgekehrten Annahme aus: Auch im Ernstfall sei unverändert an der bestehenden Verfassungslage festzuhalten.

Historisch hat sich in Frankreich mit dem Gesetz von 1849 über den sogenannten état de siège (Belagerungszustand) – später über eine Migration dieses Modells in viele andere europäische Staaten – ein Mittelweg durchgesetzt: Einerseits sollte die existenzielle Ausnahmelage rechtlich eingehegt werden, weshalb ein Suspensionsmodell abgelehnt wurde. Andererseits ging man in doppelter Hinsicht von der Notwendigkeit der Modifikation der verfassungsrechtlichen Regelungen in einer großen Staatskrise aus: Suspension von Grundrechten und Übergang der Befugnisse von Zivilbehörden und Polizei auf die Militärbehörden (Militär). Für Verkündung und Aufhebung des Belagerungszustands war die Nationalversammlung zuständig.

Auch Verfassungen deutscher Einzelstaaten griffen das französische Modell des Belagerungszustands auf, freilich in modifizierter Form. Exemplarisch kann auf das preußische „Gesetz über den Belagerungszustand“ von 1851 verwiesen werden, das die preußische Verfassung von 1850 konkretisierte: Als Ausnahmelagen waren Krieg und innerer Aufruhr anerkannt. Auf Rechtsfolgenseite sah auch das preußische Gesetz die Möglichkeit der Suspension verschiedener Grundrechte und den Übergang der Exekutivgewalt auf die Militärbefehlshaber vor, ferner bes. Straftatbestände und Strafverschärfungen. Über den Belagerungszustand entschied allerdings nicht die Legislative, sondern das Staats-Ministerium. Art. 68 RV erklärte das preußische Belagerungszustandsgesetz provisorisch auf Reichsebene für anwendbar, doch blieb es bis 1918 bei dieser Rechtslage.

In der WRV regelte Art. 48 den S., den die zeitgenössische Literatur zumeist als „Ausnahmezustand“ bezeichnete. Mit der dem Reichspräsidenten eingeräumten Möglichkeit der Grundrechtssuspension knüpfte die Regelung an die Tradition des Belagerungszustands an. In der praktischen Anwendung – die Reichspräsidenten Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg griffen insb. in der Anfangs- und Endphase der Republik insgesamt rund 250-mal auf die Ausnahmegewalt zurück – warf Art. 48 WRV zudem zahlreiche verfassungsrechtliche Fragen wie diejenige nach der Zulässigkeit des praktizierten Notverordnungsrechts auf. V. a. bereiteten die auf Art. 48 WRV gestützten Präsidialkabinette ab März 1930 den Weg in die Diktatur, bevor Adolf Hitler mit der Reichstagsbrandverordnung vom Februar 1933 – wiederum gestützt auf Art. 48 WRV – sämtliche dort genannten Grundrechte suspendierte und den permanenten Ausnahmezustand herbeiführte. Doch weist die neuere Forschung zu Recht darauf hin, dass Art. 48 WRV gerade in den Anfangsjahren Weimars mehrfach zur Rettung der Republik beitrug.

Aus der Weimarer Zeit stammen auch zentrale und bis heute wirkmächtige theoretische Auseinandersetzungen mit dem Konzept des S.s, insb. Carl Schmitts „Politische Theologie“ (1922). Ihr zufolge erweist sich gerade im Moment der existentiellen Krise eines Staates, wer der wahre Souverän im Staat ist. Der Ausnahmezustand, für C. Schmitt ein rechtlicher Grenzbegriff, führe zwar zur Suspension der Rechtsordnung, doch bleibe eine Ordnung bestehen. Diese Auffassung fand zwar in der damaligen positiven Rechtsordnung keine Stütze, kann aber als hellsichtige Antizipation der späteren „Machtergreifung“ A. Hitlers gelesen werden. In jedem Fall hat sie den Rechtsbegriff des Ausnahmezustands verdunkelt. Stand dieser zuvor für eine zumindest teilweise rechtliche Einhegung des S.s, wird er seitdem häufig als Suspension des Rechts (Suspensionsmodell) bzw. als „kenomatischer Zustand“ (Agamben 2004: 59) missverstanden.

In der Nachkriegszeit stellte sich für die Väter und Mütter des GG auch im Hinblick auf den Umgang mit dem S. die Frage, welche Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik und dem ambivalenten Art. 48 WRV gezogen werden sollen. Art. 111 des Herrenchiemseer Entwurfs orientierte sich noch an dieser Norm und sah die Möglichkeit der Suspension von (politischen) Grundrechten sowie ein Notverordnungsrecht der Bundesregierung ausdrücklich vor. Wohl auf die Intervention der Alliierten hin wurde dieser Artikel jedoch vom Parlamentarischen Rat gestrichen. Regelungen zum S. fanden sich bei Inkrafttreten des GG immerhin noch in Art. 91 GG a.F., einer rudimentären Positivierung des inneren Notstands, sowie in Art. 81 GG, der den (bislang bedeutungslosen) sogenannten Gesetzgebungsnotstand betrifft und einen Ausweg bei einer Funktionsstörung des Bundestags weisen soll. Gleichzeitig kennt das GG mit den Vorschriften zur wehrhaften Demokratie ein neuartiges Ausnahmeverfassungsrecht. Innere Ausnahmelagen sollen möglichst frühzeitig verhindert werden, etwa durch Vereins- und Parteiverbote (Art. 9 Abs. 2, Art. 21 GG). Die abstrakt-generelle Grundrechtssuspension des Art. 48 WRV mutierte unter dem GG zur Möglichkeit der Individualsuspension (Grundrechtsverwirkung, Art. 18 GG), die bislang allerdings nicht relevant wurde. Insb. die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG), die Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) oder die sogenannte Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) sind umgekehrt als negatives Ausnahmeverfassungsrecht zu verstehen, das auch im S. unantastbar bleibt. Über die im S. einzuhaltenden verfassungsrechtlichen Grenzen wacht das BVerfG.

Als die Westalliierten 1955 das Besatzungsstatut aufhoben, begann die lange Diskussion um die Notstandsverfassung, die – nachdem zahlreiche Entwürfe vorgelegt worden waren – 1968 verabschiedet und von einfachen Notstandsgesetzen flankiert wurde. Zuvor hatte es vehemente Proteste gegen die Verfassungsänderung gegeben. Die eingefügten Normen der Notstandsverfassung, von denen – mit Ausnahme des Katastrophennotstandes – bis heute kein Gebrauch gemacht wurde, umfassen insb. eine ausführliche Regelung des Spannungs- und Verteidigungsfalles (Art. 80a, Art. 115a ff. GG); hinzu trat eine Ergänzung von Art. 91 GG sowie die Regelung des Katastrophennotstands (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG). Neu hinzugefügt wurde aber auch das Widerstandsrecht, Art. 20 Abs. 4 GG. Eine abstrakt-generelle Suspension von Grundrechten im S. kennt das GG – anders als etwa Art. 15 EMRK – nicht.

Die Regelungen der Notstandsverfassung gelten als hypertroph und praxisfern. Weil sie zur Lösung der RAF-Krise, in der teilweise auf Naturrecht zurückgegriffen wurde, nicht beitragen konnten, wurde die Einfügung einer Generalklausel vorgeschlagen. Auch die Corona-Pandemie im Jahr 2020 f., der wohl erste echte S. der BRD, wird außerhalb der Notstandsverfassung bewältigt; für sie wurde in den §§ 5 und 28a Infektionsschutzgesetz einfaches Notstandsrecht geschaffen.

II. Perspektiven historisch-politischer Relativierung

Abschnitt drucken

Traditionell hat der Notstandsdiskurs die extreme Ausnahmelage innerer oder äußerer Bedrohung und in ihrer Folge die Einschränkung prozeduraler Spielräume und bürgerlicher Freiheiten zur Gewährleistung öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Visier. Seine Orientierung an klassischen Modellen (des 19. Jh.) wird dem politischen, rechtlichen und sozialen Wandel (Oberreuter 1978: 275 ff.) seither nicht mehr gerecht. Neben die Sicherung der (rechtsstaatlichen) Ordnung ist die existentielle Vorsorge für die Menschen getreten, politisch und in der Mentalität der Bürger sogar mit Vorrang. Nicht nur die Aktualität weist darauf hin. Historisch erwiesen sich schon im Ersten Weltkrieg die klassischen Rechtsinstrumente als irrelevant. An deren Stelle illustrierte eine ausfächernde Kriegswirtschaftsverwaltung das Notstandsproblem moderner Industriegesellschaften. Seither hat sich Daseinsvorsorge als Staatsaufgabe voll entfaltet. Zugleich nahmen Komplexität, globale Implikationen und Abhängigkeiten sowie Anfälligkeit der sozialen Systeme zu. Ist der „Staat“ der Daseinsvorsorge (Forsthoff 1959) zugleich ein Staat der Notstands- oder Krisenvorsorge, wird entsprechendes Recht zur „Vorsorge für den Menschen“ (Schäfer 1966). Der „moderne Staat ist Verfassungsstaat in dem Maße, in dem er als Rechtsstaat und Sozialstaat sich bewährt“ (Huber 1958: 4) – auch in außergewöhnlich herausfordernden Situationen.

Zum einen partizipiert spezielles Notstandsrecht an der sozialstaatlichen Ausweitung der Staatstätigkeit: Dienstpflichten, Arbeitsplatzwechselverbote, Sicherstellung von Gütern und Dienstleistungen z. B. waren ehedem nicht sein Gegenstand. Zum anderen zieht es sich aus seiner früheren Domäne der engeren politischen Grundfreiheiten weithin zurück. Es suspendiert die politischen Organisations- und Artikulationsrechte nicht und fügt sich in jene Freiheitsordnung ein, die es zu bewahren gilt. Zum dritten entwickelte sich, von der vorherrschenden bürgerschaftlichen Mentalität getragen, das Sicherheitsrecht seit der industriellen Revolution (Industrialisierung, Industrielle Revolution) nachhaltig zum Präventionsrecht, mit dem situations- und problemorientiert ausnahmsweise Krisen rechtskonform bewältigt (oder verhindert) werden sollen, statt im engeren Sinn keineswegs zielführende Not- oder Ausnahmezustände auszurufen. Beide verlieren ihre frühere Bedeutung. Neuestens gilt dies als „antizipierter“ Ausnahmezustand (Barczak 2020: 350). Doch wird die Grenze zwischen Ausnahme- und Normalzustand keineswegs fließend, zumal dieses fallangemessene Recht an die Verfassung gebunden, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterworfen und richterlicher Überprüfung ausgeliefert bleibt. Unter diesen Bedingungen sind z. B. Katastrophen- und Infektionsschutz nicht absolut formenstreng, sondern flexibel geregelt, weil die herausfordernden Situationen nicht im Vorhinein definiert werden können. Es geht um situative Flexibilität und ihr angemessene spezifische rechtliche Maßnahmen. Zugleich sind Sensibilität und Flexibilität des Gesetzgebers gefordert, um der Gefahr exekutiver Grenzüberschreitung zu begegnen. Damit wandelt sich früheres Ausnahmerecht nicht zum Recht der Normallage, sondern das Recht der Normallage begegnet unter Beachtung seiner normativen und prozeduralen Prinzipien – u. U. auch präventiv – ungewöhnlichen Herausforderungen. Die Rechtswissenschaft widmet dem neue Aufmerksamkeit (Kaiser 2020), die sich zunehmend auch auf unklare Kompetenz- und Legitimitätsprobleme im Rahmen supranationaler Rechtssysteme (Supranationalität) wie der EU, aber auch auf (meist nachträglich richterlich korrigierte) Spielraumerweiterungen auf nationaler Ebene richtet. Jedenfalls kennt die Zeitrechnung der parlamentarischen Demokratie keine „Stunde der Exekutive“.

In jüngerer Zeit zunehmende, missbräuchliche und freiheitsfeindliche Anwendung von Ausnahmerechten in zahlreichen politischen Systemen weltweit ist ein gänzlich anderes Thema.