Marxismus

  1. I. Philosophisch
  2. II. Politikwissenschaftlich

I. Philosophisch

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1. Name und Begriffsgeschichte

Der Begriff M. bezeichnet eine auf Karl Marx zurückgehende, bei ihm auch philosophisch begründete Theorie der Geschichte und der durch kapitalistische Produktions- und Eigentumsverhältnisse bestimmten Gesellschaft. Die von K. Marx begründete Theorie wurde von ihm selbst zunächst als „historischer Materialismus“ (MEW 22: 298) bezeichnet. Sie wurde im ausgehenden 19. und 20. Jh. zum Ausgangspunkt und Kern unterschiedlicher, einander z. T. auch erheblich widersprechender Theorien der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Politik, weltanschaulich aufbereiteter Lehren sowie politischer Bewegungen und Regierungsformen, die alle zusammen betrachtet als M. bezeichnet werden können. Aufgekommen ist der Begriff M. in den Auseinandersetzungen innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung der 1870er Jahre. Mit ihm bezeichneten zunächst die K. Marx widerstreitenden Anarchisten um Michail Bakunin die Vertreter der Marxschen Lehre als „Marxisten“, eine Bezeichnung, die K. Marx selbst aber zunächst abgelehnt hatte (vgl. MEW 35: 388: „Ce qu’il y a de certain c’est que moi, je ne suis pas Marxiste.“).

Unter dem Einfluss von Friedrich Engels sowie von Wilhelm Liebknecht, Karl Kautsky u. a. wird nicht nur der Begriff M., zumal nach dem Tod von K. Marx 1883 in London, als Name für das Ensemble der Theorien von K. Marx verwendet, sondern es kommt auch zu einer Aufnahme weiterer philosophischer Theorien und politischer Bestimmungen in das Konzept des M. So fügt F. Engels dem Lehrbestand des M. eine an Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Charles Darwin orientierte Theorie der objektiven Dialektik von Natur und Geschichte hinzu. Durch diese Ergänzungen avanciert der M. zur theoretisch-weltanschaulichen Grundlage einer am Klassenkampf orientierten Politik der Arbeiterklasse in Deutschland. Im Zuge der Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zwischen Eduard Bernstein, der vom Neukantianismus beeinflusst ist („Revisionismus“), einerseits und K. Kautsky und Franz Mehring andererseits erhält der Name M. seine für die politische Arbeiterbewegung dauerhaft prägende Bedeutung, dessen richtige Interpretation im Mittelpunkt des Richtungsstreits zwischen revolutionären (Revolution) und reformorientierten (Reform) Kräften steht (vgl. hierzu die Rede bei Georg Lukács u. a. vom „Vulgärmarxismus“ [Lukács 1923: 41]). In Österreich kommt es Anfang des 20. Jh. zur Ausprägung des Austro-M., dessen Vertreter teilweise dem Neukantianismus nahestehen (vgl. u. a. Max Adler, Otto Bauer, Karl Renner oder Rudolf Hilferding).

Im 20. Jh., zumal nach dem Erfolg der Oktoberrevolution 1917 in Russland, tritt an die Stelle des Begriffs des historischen Materialismus zunehmend die auf Georgi Walentinowitsch Plechanov zurückgehende Bezeichnung des „dialektischen Materialismus“ (Plechanov 2009: 48), in der sich neben der Erweiterung der Lehren von K. Marx durch F. Engels auch die philosophische Aufnahme der Position eines harten erkenntnistheoretischen Realismus bei Wladimir Iljitsch Lenin sowie seine Theorie der kommunistischen Partei als einer „Avantgarde“ (LW 5: 446) der Arbeiterklasse niederschlägt. Der Begriff tritt seither regelmäßig in der Wortkombination M.-Leninismus auf und fungiert als eine philosophisch-politische Legitimation der Herrschaft der KPdSU in der Sowjetunion und deren Anspruch auf eine Kontrolle über alle kommunistischen Parteien (Kommunismus) in der Welt. Andere Deutungen des M. wie etwa die Lehren Leo Trotzkis werden mit Gewalt wirksam aus dem orthodoxen M.-Leninismus ausgeschlossen. Unter dem Einfluss von Josef W. Stalin erhält der M.-Leninismus die doktrinelle Gestalt einer umfassenden materialistischen Naturphilosophie und Ontologie, deren atheistische Welterklärung eine seit W. I. Lenin und J. W. Stalin innerhalb des kommunistischen Machtbereichs weltweit und für viele Jahrzehnte praktizierte Verfolgung von Religion und Kirche rechtfertigen soll. Unterstützt durch die UdSSR entwickeln sich nach dem Zweiten Weltkrieg global weitere Varianten des M., in dem sich Motive antikolonialistischer und antikapitalistischer Befreiungsbewegungen auf eine vielfach unorthodoxe Weise politisch mit Motiven des M.-Leninismus verbinden, so in China unter dem Einfluss von Mao Zedong, in Indochina und weiten Teilen Asiens, in Afrika und Süd- und Mittelamerika. In Kuba kommt es unter dem Kommando von Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara zum einzigen Umsturz in der westlichen Hemisphäre, in dessen Folge eine marxistisch-leninistische Partei dauerhaft ein politisches Regime i. S. d. Leninismus errichten kann.

Gegen die Orthodoxien des offiziellen M.-Leninismus gewandt, der bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jh. auch in den wichtigsten kommunistischen Parteien Westeuropas (Frankreich, Italien) ideologisch dominiert, artikulieren überwiegend Philosophen und andere Intellektuelle in Europa und den USA Kritik und Einspruch. Die als westlicher M. bezeichneten Beiträge sind durch den Versuch bestimmt, unabhängig von den Ideologien des Leninismus und Stalinismus unmittelbar auf Einsichten bei K. Marx zurückzugreifen, wobei sich insb. aus den erstmals in den 1930er Jahren publizierten sog.en philosophischen Frühschriften von K. Marx sozialphilosophische und gesellschaftstheoretische Perspektiven ergeben, die im orthodoxen M. ignoriert wurden. Als Repräsentanten des westlichen M. in Frankreich, in dessen philosophische Darstellung Motive des Existentialismus, der Phänomenologie bzw. des Strukturalismus eingebunden wurden, können u. a. Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Lucien Sebag, Louis Althusser oder Étienne Balibar genannt werden, in Italien Antonio Gramsci, im angelsächsischen Raum Paul Sweezy oder Maurice Dobb, im deutschen Sprachraum die Vertreter der frühen Kritischen Theorie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Walter Benjamin u. a. sowie Karl Korsch, Ernst Bloch oder G. Lukács, der jedoch später zu einem orthodoxen Theoretiker der ungarischen kommunistischen Parteiherrschaft konvertiert. Doch selbst in der Zeit der totalitären Herrschaft (Totalitarismus) kommunistischer Parteien kommt es nach dem Tod J. W. Stalins ab der Mitte des 20. Jh. auch in Mittel- und Osteuropa zu einer vorsichtigen Entwicklung neuer, dissidenter Formen des M., wie die Namen von Philosophen wie Adam Schaff oder Leszek Kolakoswki in Polen, von Karel Kosík und Milan Machovec in der &Chatsch;SSR oder von Gajo Petrović bzw. Mihailo Marković im nicht von der UdSSR kontrollierten Jugoslawien beispielhaft belegen. Als Neo-Marxismus wird in der Forschung vielfach die Rezeption der Schriften von K. Marx und die Wirkungsgeschichte des überwiegend nichtorthodox-leninistisch verstandenen M. in den Ländern Westeuropas, Nord- und Südamerikas während der 1960er Jahre bezeichnet. Mit einzelnen Vertretern eines nichtorthodoxen M. suchen christliche Theologen seit den 1950er und 1960er Jahren das Gespräch, das sich allerdings aufgrund der fortgesetzten atheistischen Kulturpolitik und Kirchenverfolgungen im Herrschaftsbereich kommunistischer Parteien im Wesentlichen auf Begegnungen in westlichen oder neutralen Staaten während der Zeit des Kalten Kriegs beschränkt. Dabei kommt es durchaus auch zu einer Rezeption ausgewählter Aspekte des M. durch Vertreter der christlichen Soziallehre und der Theologie, insb. der Befreiungstheologie (Theologie der Befreiung), aber nicht zu einer Revision der Prämissen eines weltanschaulichen Atheismus auf Seiten der Vertreter des M.

In der Gegenwart hat der M., der im 20. Jh. in allen seinen Varianten insgesamt zu den wirkmächtigsten politischen Ideologien zählt, seine frühere theoretische Anziehungskraft, zumal innerhalb philosophischer Debatten und der intellektuellen Kultur, fast vollständig verloren. Dieser Prozess setzt bereits deutlich vor dem Ende der Sowjetunion ein und führt nach dem globalen Scheitern einer marxistisch begründeten Politik auch in Russland, in Ost- und Mitteleuropa, China, Vietnam, Albanien, Jugoslawien oder Kuba zu heute noch unabsehbaren, neuen ideologischen Konstellationen bis hin zu neuen Formen eines rechten und linken Populismus. Dabei bleiben bestimmte Motive des M. in postkolonialen und in neuen und alten antikapitalistischen Diskursen der Gegenwart präsent. Zu ihnen kann auch der sog.e analytische M. gezählt werden, der bereits in den 1980er Jahren von Gerald Allan Cohen, John Roemer bzw. Jon Elster u. a. entwickelt wurde und das Programm verfolgt, mit den Mitteln der Rational Choice Theory gewisse Entwicklungstendenzen der im Zuge der Globalisierung politisch wenig kontrollierten Finanzmärkte in ihren Auswirkungen auf die Arbeits- und Sozialwelt kritisch zu analysieren. Diese Analysen bedienen sich allerdings weniger der philosophisch argumentierenden Einsichten der frühen theoretischen Ansätze von K. Marx als seiner späteren Kritik der politischen Ökonomie.

2. Philosophie und Kritik der politischen Ökonomie bei Karl Marx

K. Marx selbst sieht im „Kapital“ sein Hauptwerk, dessen „Erster Band“ im Jahr 1867 und somit noch zu seinen Lebzeiten erscheint. In ihm laufen die theoretischen Arbeiten, seine Studien zur Ökonomie, aber auch seine philosophische Interpretation von Geschichte und Gesellschaft sowie seine politischen Intentionen von mehr als 30 Jahren seines Wirkens zusammen. Er beansprucht mit seinem Werk, „das ökonomische Bewegungsgesetz“ (MEW 23: 15) der modernen Gesellschaften zu enthüllen. Hierbei ist sein wissenschaftstheoretisches Vorbild die Physik, die dem Selbstverständnis des 19. Jh. entspr. die sog.en objektiven Gesetze der Natur darstellt. Doch anders als im Fall der Physik lassen sich für K. Marx die ökonomischen Gesetze nicht durch Beobachtung und Experiment gewinnen, sondern nur durch eine Kritik bereits vorliegender Theorien von Recht und Gesellschaft wie bei G. W. F. Hegel bzw. über eine Kritik der politischen Ökonomie, wie sie von Adam Smith, David Ricardo, John Stuart Mill oder Jean-Baptiste Say formuliert worden war. In einem methodischen Rückgriff auf die Philosophie G. W. F. Hegels begreift K. Marx den Kapitalismus als ein „System“, dessen Geltungsbedingungen allen politischen, rechtlichen und geistigen Begriffen ihre Bedeutung zuweisen. Daher werden im „Kapital“ die für die Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise konstitutiven philosophischen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Begriffe systematisch so miteinander verbunden, dass es K. Marx gelingen soll, die Darstellung der Bewegungsgesetze der Gesellschaft dialektisch zugl. auch als deren Kritik einsichtig zu machen. Auf diesem Weg schließt K. Marx noch im „Kapital“ an die philosophischen Motive seiner Frühschriften an wie das „Entfremdungstheorem“ (Entfremdung) aus den „Pariser Manuskripten“ (1844) oder seine harsche Kritik am Linkshegelianismus und klassischen Materialismus bei Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer oder Max Stirner in der „Deutschen Ideologie“ (1845/46) und den „Thesen über Feuerbach“ (1845).

Den philosophischen Grundzug, der diese Motive zusammenhält, bestimmt K. Marx als historischen Materialismus, in dessen Zentrum die Einsicht steht, dass die Menschen durch ihre welthistorische Praxis die bisherige Geschichte der Menschheit aktiv selbst gemacht haben, nur noch nicht unter gesellschaftlichen oder politischen Bedingungen, die von den Menschen frei gewählt und bewusst gestaltet sind. Dem Aufweis dieses Zusammenhangs dient im „Kapital“ auch die ausführliche Analyse der Ware und ihrer Wertform. Beide sowie das aus ihnen hervorgehende Kapital nehmen K. Marx zufolge innerhalb des Kapitalismus die „phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen an“ (MEW 23: 86), die ihrerseits Macht über die privaten Akteure gewinnen, sich ihnen gegenüber verselbständigen und die Menschen schließlich beherrschen: „Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung“ besitzt für die Menschen innerhalb der kapitalistischen Ökonomie „die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu beherrschen“ (MEW 23: 89). Dem Schein der vermeintlichen Selbstständigkeit von Ware, Wertform und Kapital über die Menschen und ihren Arbeitsprozess gilt somit die Marxsche Analyse und seine Kritik. Diese zielen auf eine veränderte gesellschaftliche Organisation der Arbeit, in der die mit dem Privatbesitz von Produktionsmitteln verknüpfte Warenproduktion und Kapitalvermehrung in den Händen der privaten Eigentümer für K. Marx weltgeschichtlich überwunden werden sollen. Insofern bleiben noch in den Analysen des „Kapitals“ die Motive des von K. Marx formulierten historischen Materialismus präsent, dessen philosophische Pointe in der Kritik von „entfremdeten“ Verhältnissen besteht und gerade nicht, wie seit der Umformung des M. durch F. Engels, W. I. Lenin oder J. W. Stalin, in einer Lehre vom Primat „des Seins“ über „das Bewußtsein“ (MEW 13: 9) oder einer naturalistischen Ontologie der äußeren Natur und ihrer vermeintlich objektiven Bewegungsgesetze unter Einschluss der Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie).

II. Politikwissenschaftlich

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Der Begriff des M. ist abzugrenzen vom Begriff des M.-Leninismus, der von den osteuropäischen Legitimationswissenschaften zur Rechtfertigung der dort aufgerichteten kommunistischen Parteiherrschaft eingeführt und als Dogma verbreitet wurde. Dem Begriff des M. liegt kein geschlossenes wissenschaftliches Gedankengebäude zugrunde; vielmehr sind unter ihn sehr verschiedene, nicht immer konsistente theoretische Ansätze zu subsumieren, wie sie v. a. von Karl Marx und Friedrich Engels ausgearbeitet wurden. Als entscheidend für den Begriff des M. erwiesen sich die Analyse und Kritik des sich in der ersten Hälfte des 19. Jh. herausbildenden kapitalistischen Wirtschaftssystems (Kapitalismus) sowie Konzepte, wie dieses sich überwinden ließe. Bedeutsam wurden die unterschiedlichen Sozialisationen der beiden Protagonisten: Während K. Marx aus dem Bildungsbürgertum stammte und über das Studium von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Philosophie zur Analyse von Ökonomie und Gesellschaft gelangte, thematisierte der aus dem Besitzbürgertum stammende F. Engels früh gewonnene Einblicke in das kapitalistische Unternehmertum mit dessen verheerenden sozialen Folgewirkungen. Seit den frühen 1840er Jahren spürten K. Marx und F. Engels mit ihrer Kritik der Politischen Ökonomie tatsächlichen oder vermeintlichen Tendenzen des sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftssystems nach und folgerten daraus bestimmte Gesetzmäßigkeiten, v. a. auf der Grundlage der Analyse von ökonomisch determinierten Gesellschaftsklassen. Zentral wurden die Lehre vom daraus folgenden Klassenkampf, der sich aus dem Wechselverhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ergebe, weiterhin die Thesen zur Verelendung und Entfremdung der ausgebeuteten Lohnabhängige, und die Mehrwerttheorie. V. a. K. Marx’ Analyse der sich herausbildenden kapitalistischen Wirtschaft, welcher er früh eine enorme globale Dynamik zuschrieb, und deren (zyklische) Krisenanfälligkeit aufgrund einer systemimmanenten, periodisch wiederkehrenden Überproduktion er diagnostizierte, ließen Beobachter von einem „originellen, faszinierenden und grundlegenden Entwurf“ (Kocka 2013: 12) sprechen. Bemerkenswert sind ferner Untersuchungen zu historischen oder zeitgenössischen Prozessen, die von K. Marx und F. Engels entlang der Methode des historischen Materialismus verfertigt wurden, allen voran von K. Marx „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852) und von F. Engels „Der deutsche Bauernkrieg“ (1850). Zwar inspirierten beide mit ihrer auf ökonomische und Klassenkampf-Kategorien gegründeten Analysemethode auch Werke wie etwa die von Eric Hobsbawm, Edward Palmer Thompson oder Hartmut Zwahr. Doch es mündete diese Art der Geschichtsschreibung, zumal im Herrschaftskommunismus, i. d. R. in parteilich gebundenen Dogmen. Als grundsätzlich problematisch gilt zumal das – angeblich gesetzmäßig zu erreichende – Ziel einer Diktatur des Proletariats (Diktatur des Proletariats) als Übergangsgesellschaft hin zu einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft (Kommunismus). Hier verabsolutierten K. Marx und F. Engels das Proletariat als abschließendes revolutionäres Subjekt (Revolution) der Geschichte.

Obschon mit dem 1848 erstmals veröffentlichten „Manifest der Kommunistischen Partei“ ein sprachgewaltiges und immer wieder neu und in immer mehr Sprachen aufgelegtes Dokument vorlag, das wichtige Grundpositionen des M. enthielt, hatte v. a. der späte F. Engels an der Popularisierung der gemeinsam mit K. Marx entwickelten Ideen und Theorien maßgeblichen Anteil. Im Grunde kann deshalb die von F. Engels geprägte Phase als die eigentliche Entstehungszeit des M. angesehen werden. Noch zu Lebzeiten von K. Marx erreichte er mit seinem Buch „Herrn Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ (1878) – dem „Anti-Dühring“ – ein größeres Publikum. Und das galt erst recht mit dem – auf Bitten Paul Lafargues publizierten – schmalen Band „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (1883), das aus drei Kernkapiteln des „Anti-Dührings“ entstand und bis zum Tod von F. Engels 1895 in einer Auflage von ca. 40 000 Exemplaren Verbreitung fand. Zu dieser Phase gehört ferner die Vollendung des von K. Marx 1867 vorgelegten Werkes „Das Kapital“ (Bd. 1), denn die Bde. 2 und 3 erschienen 1885 und 1894 nach ihrer Redaktion durch F. Engels. Entscheidend für die Formationsphase des M. war zudem die Rolle von F. Engels als – vornehmlich programmatischer – Berater der Führung der deutschen Sozialdemokratie. Dem unter stärkerem Einfluss von F. Engels und Karl Kautsky zustande gekommenen „Erfurter Programm“ der SPD (1891) lag erstmals das Evolutionsschema des historischen Materialismus zugrunde, was den Ruf dieser Partei begründete, über ein „marxistisches“ Programm zu verfügen und eine „marxistische“ Partei zu sein. Damit avancierte die SPD zu einer Vorbildpartei für andere sozialdemokratische Arbeiterparteien, die soziale und demokratische Anliegen mit jenem Evolutionsschema verknüpften.

Eine weitaus größere Popularität, allerdings auch eine wesentlich stärkere Heterogenität, wuchs dem M. durch jene Protagonisten und Parteien zu, die sich auf ihn beriefen und den M. weiterentwickelten oder aber einseitig rezipierten. Da waren zuerst die „Meisterschüler“ (Morina 2017: 199) Eduard Bernstein und K. Kautsky, die sich als geistige Nachlassverwalter betrachteten, was v. a. für K. Kautsky galt. Der versuchte, mit seinen Vorstellungen vom „revolutionären Attentismus“ (Groh 1974) die stärker reformorientierte Praxis der Arbeiterbewegung in Deutschland mit der revolutionären Theorie zu versöhnen. E. Bernstein unterzog hingegen wesentliche Elemente des M. – wie die Verelendungsthese und die These von der Diktatur des Proletariats – einer Revision und erklärte den Übergang zum Sozialismus als Abfolge von Reformen für möglich. Da waren ferner die Führer und Vordenker der französischen sozialistischen Arbeiterbewegung (v. a.: P. Lafargue, Jules Guesde, Jean Jaurès), die sich in unterschiedlicher Weise aus dem Ideenreservoir des M. bedienten und diesen auch mit dem französischen Republikanismus verbanden. Das ließ sie (etwa J. Jaurès), ähnlich wie E. Bernstein, auch zu Befürwortern einer Kooperation mit dem Liberalismus werden. Die aus Polen stammende Rosa Luxemburg wiederum betonte in ihrer Imperialismustheorie die kapitalistische Markterweiterung u. a. durch neu erschlossene Kolonien sowie die revolutionäre Spontaneität der Massen, während die beiden Russen Georgi Walentinowitsch Plechanov und Wladimir Iljitsch Lenin verstärkt auf die Möglichkeiten einer Diktatur des Proletariats abhoben und im Voluntarismus und Avantgardedenken (so W. I. Lenin) eine spezifische Durchsetzungsmöglichkeit des Sozialismus für Russland erblickten. Der nicht nur in Österreich wichtige Austro-M. (Max Adler, Otto Bauer, Karl Renner, Rudolf Hilferding) verknüpfte den Materialismus des M. mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, einschließlich psychologischer Einsichten, sowie mit einem „philosophischen Humanismus“ (Hanisch 2011: 115). Und der italienische Theoretiker Antonio Gramsci versuchte, den ökonomischen Determinismus des M. durch sein Konzept der „kulturellen Hegemonie“ zu erweitern, die einer Diktatur des Proletariats zeitlich vorgelagert sein müsse. All diese Popularisierungen, Revisionen und Erweiterungen konnten jedoch nicht darüber hinwegtragen, dass im Gefolge des Ersten Weltkrieges, in dem sich fast ausnahmslos alle (marxistischen) Arbeiterparteien auf den Boden des jeweiligen nationalen „Burgfriedens“ stellten, das Moment der Zwangsläufigkeit und der Siegeszuversicht, den der M. vermittelte, einen harten Schlag erhielt.

Einzig in Russland gelang es einer sich als marxistisch bezeichneten Avantgardepartei (den Bolschewiki) unter Führung W. I. Lenins, den Staat in einer Ausnahmesituation zu erobern sowie im (vermeintlichen) marxistischen Geist umzustrukturieren. Jenes agrarisch geprägte, rückständige Land wurde nämlich unter Bezugnahme auf einen gewaltaffinen Früh-M. (1848/50) tiefgreifend umgebaut, wobei – ganz im Gegensatz zu entscheidenden marxistischen Prämissen über den Reifegrad von Gesellschaften – die Etablierung der notwendigen sozialökonomischen (industriellen) Basis des M. größtenteils erst nachgeholt werden musste. Die dafür ins Werk gesetzte Diktatur des Proletariats, ausgeformt als eine militante Parteidiktatur, ging mit ihrem Einsatz von Gewalt und Terror allerdings weit über alles hinaus, was K. Marx und F. Engels selbst in ihrer Frühzeit für notwendig erachtet hatten. Ungeachtet dessen bemühte sich die kommunistische Führung, u. a. mit dem Aufbau eines Marx-Engels-Instituts in Moskau, das die Werke der „Klassiker“ herausgab, die eigene Herrschaft zu rechtfertigen sowie – in Verbindung mit den Werken des 1924 frühzeitig verstorbenen W. I. Lenin – eine neue umfassende Deutung des M. im eigenen Sinne durchzusetzen. Dadurch, sowie im Zuge des für sie erfolgreichen Zweiten Weltkriegs, gelang es den Bolschewiki, dem M. – besser: dem M.-Leninismus – zur Weltgeltung zu verhelfen, denn in Osteuropa, in China und in weiteren Staaten Asiens und Lateinamerikas (Kuba) entstanden alsbald ähnlich verfasste Ideokratien. Im Westen kam es später durch die Studentenbewegung von 1968 zu einer Renaissance marxistischen Ideengutes, u. a. durch Herbert Marcuse und den bereits verstorbenen Karl Korsch. Ebenso gewannen die kommunistischen Parteien Italiens, Spaniens und Frankreichs großen Einfluss, zumal aufgrund einer (Teil-)Preisgabe des Leninismus sowie einer Fruchtbarmachung des urspr.en, viel breiteren Ideenreservoirs des M., obendrein verbunden mit den Vorstellungen A. Gramscis („Eurokommunismus“).

Nach 1989 erlebte der M. seinen Niedergang. Allerdings ist seit allg.em Gewahrwerden der z. T. verheerenden Wirkungen von Globalisierung und Finanzkrisen (Finanzmarktkrise), auch seit wachsenden Spannungen zwischen Armen und Reichen selbst in führenden Industriestaaten, eine gewisse Renaissance des M. zu beobachten. Dabei erweist sich der zumal analytische Teil des M. von einer gewissen Evidenz, nämlich die Untersuchungen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem und seinen Globalisierungsfolgen. Der messianische Teil des M. hingegen, welcher die Arbeiterklasse zum revolutionären Subjekt verklärte und eine neue klassenlose Gesellschaft verkündete, scheint überholt zu sein – nicht nur wegen schlimmer Erfahrungen zwischen 1917 und 1989, sondern auch deshalb, weil es eine politisch gewichtige Arbeiterklasse kaum mehr gibt.