Gerichtsbarkeit
Durch die G. verwirklicht sich in einem Rechtsstaat die zentrale staatliche Funktion der Rechtsprechung, d. h. die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten anhand spezifischer rechtlicher Maßstäbe.
1. Gerichtsbarkeit in der BRD
Im Rechtsstaat BRD wird diese Funktion der G. durch spezifisch auf die Rechtsprechung bezogene Verfassungsgarantien des GG betont. Erst durch eine funktionstüchtige, effektive und gerechte Rechtsprechung kann der Staat seine grundlegendste Aufgabe, die Wahrung und Durchsetzung des Rechts, erfüllen.
1.1 Begriff: Gerichtsbarkeit
G. bezeichnet erstens die Gesamtheit der Rechtspflegeorganisation als Institution, kann aber zweitens auch die staatliche Gerichtshoheit meinen, also die Befugnis des Staates zur Ausübung von Rechtspflege.
1.1.1 Staatliche Gerichtshoheit
Das engere Verständnis der G. als Rechtspflegeorganisation basiert auf dem weiteren Begriffsverständnis als Hoheitsbefugnis des Staates zur Ausübung von Rechtspflege (sogenannte staatliche Gerichtshoheit oder Jurisdiktion). Deutsche G. meint danach die Unterwerfung unter die Rechtsprechungsmacht deutscher Gerichte. Nicht zur deutschen G. zählen private Einrichtungen zur Beilegung von (Rechts-)Streitigkeiten oder Schiedsgerichte. Die kirchliche G. steht neben der staatlichen und ist in ihrer Zuständigkeit und ihren Rechtswirkungen grundsätzlich auf den innerkirchlichen Bereich begrenzt. Entscheidungen von kirchlichen Gerichten sind als Ausübung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gemäß und in den Grenzen des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV staatlich anzuerkennen und entfalten damit auch „bürgerliche Wirksamkeit“. Die formelle Letztentscheidung liegt indes bei den staatlichen Gerichten.
1.1.2 Organisation der Rechtspflege
Zumeist wird unter G. in erster Linie die Organisation der Gesamtheit der Rechtspflege als Institution verstanden. G. meint damit die Gesamtheit der Organe, denen die staatlichen Rechtspflegeaufgaben zur Ausübung übertragen sind. Die G. ist dabei nach verschiedenen Sachbereichen bzw. Rechtsgebieten in einzelne Fach-G.en ausdifferenziert (Zivil-, Straf-G. etc.).
1.2 Historische Entwicklung der Gerichtsbarkeit
1.2.1 Gerichtsbarkeit vor Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols
Bei den germanischen Stämmen wurden Auseinandersetzungen, die aus heutiger Sicht auf einer Rechtsverletzung beruhen, als Privatangelegenheit betrachtet. Die betroffenen Familien übten Selbsthilfe, fochten ihren Streit aus oder legten ihn ggf. mittels Streitschlichtung bei. Es gab keine Rechtsdurchsetzung durch die Gemeinschaft oder irgendeine Obrigkeit, sondern Fehdehandlungen und Selbsthilfe. Beim Vorwurf todeswürdiger Missetaten gab es allerdings bereits zur germanischen Zeit die Möglichkeit, die sogenannte Thing-Versammlung anzurufen. Ob es sich hierbei um die erste, minimale Form obrigkeitlicher Rechtsprechungsgewalt handelt, ist jedoch seit langem in der rechtshistorischen Forschung umstritten. Im Wesentlichen ersetzten Fehde, Selbsthilfe und Sühnezahlungen funktional die noch nicht vorhandene obrigkeitliche G.
In der fränkischen Zeit zwischen der Völkerwanderung und dem Zerfall des Karolingerreichs im 9. Jh. galt im Wesentlichen nichts anderes.
In der Karolingerzeit wurde im Frankenreich erstmals eine königlich betriebene Gerichtsreform durchgesetzt: Karl der Große beschränkte zunächst das thinggenossenschaftliche Verfahren auf drei Versammlungen pro Jahr und installierte daneben kleinere Versammlungen mit sieben bis zwölf Urteilern, den sogenannten Schöffen. Grafen wurden vom König als Gerichtsherren eingesetzt und erhielten für ihre Tätigkeit Ländereien, wodurch sich ihre Gerichtsgewalt zu einer territorialen G. ausdehnte. Die Gerichtsgewalt erscheint als oberstes Herrschaftsrecht: Wer die Landesherrschaft ausübt, hat auch die Gerichtshoheit inne.
Der mittelalterliche König war stets auch Richter und hatte für Frieden und Rechtsgewährleistung zu sorgen. Der König zog durch sein Reich und übte seine richterliche Tätigkeit vor Ort aus. Im Mainzer Reichslandfrieden von 1235 wurden erstmals diverse Regeln über die Reichs-G. aufgestellt. Eine hierarchische Organisation der G. erfolgte erst ab dem 15. Jh. in Anlehnung an die gelehrte Gerichtsverfassung. Das Reichshofgericht trug durch Stabilität und Kontinuität wesentlich zur Festigung der Gerichtsgewalt des Königs bei. Da es dem Reichshofgericht inkl. Kammergericht unmöglich war, alle Rechtsstreitigkeiten selbst zu entscheiden, wurde die königliche G. im Spätmittelalter vermehrt delegiert. Ab dem 14. Jh. begannen einige Kurfürsten damit, ihre eigenen Territorien von der Reichs-G. abzuschirmen. Dadurch erwuchsen Zuständigkeitskonflikte zwischen Reichs-G. und der territorialen G. der Kurfürsten. Deshalb entstanden die sogenannten Evokationsprivilegien, mit denen der König respektive Kaiser zusicherte, keine Fälle aus dem betreffenden Herrschaftsgebiet zur Entscheidung anzunehmen. Dieses Evokationsprivileg wurde in der Goldenen Bulle von 1356 festgeschrieben.
Mit den Gottes- und Landfrieden im Hoch- und Spätmittelalter versuchte die Obrigkeit Frieden und Recht – zunächst örtlich und zeitlich begrenzt – zu erzwingen. Der Anspruch weltlicher und kirchlicher Herrscher, private Gewaltanwendung einzudämmen, war damit formuliert und führte schließlich stringent zu den Beschlüssen des Wormser Reformreichstag von 1495 und endlich zum Justizgewährungsanspruch im modernen Staat.
1.2.2 Gerichtsbarkeit seit dem staatlichen Gewaltmonopol
Der Ewige Landfrieden vom 7.8.1495 bildet in der Geschichte der deutschen G. den neuzeitlichen Wendepunkt hin zum staatlichen Gewaltmonopol d. h. zum Verbot jeglicher Form von gewaltsamer Selbsthilfe und der Verweisung auf den staatlichen Rechtsweg. Damit war der Weg zur friedlichen Rechtsdurchsetzung durch staatliche G. gewiesen.
Der Gewährleistung ihrer Funktionstüchtigkeit diente die erste Reichskammergerichtsordnung von 1495. Sie schrieb u. a. vor, dass zumindest die Hälfte der Urteiler einen professionell juristischen Hintergrund haben musste und das römisch-kanonische gelehrte Recht anzuwenden war.
Der Reichshofrat als zweites oberstes Reichsgericht des Heiligen Römischen Reiches hatte eine Doppelfunktion: Er arbeitete als Gericht und zugleich als oberstes Beratungsorgan des Kaisers.
Neben den beiden obersten Reichsgerichten entstand in der frühen Neuzeit ein engmaschiges Netz von Stadt- und Landgerichten, Hofräten und Justizkollegien unter der Gerichtsgewalt der einzelnen Landesherren, die diese weiterhin vom Kaiser ableiteten. Die meisten größeren Territorien hatten sogenannte Appellationsprivilegien, wodurch es den Parteien untersagt war, gegen die Urteile der Gerichte des Landes die obersten Reichsgerichte anzurufen. Dadurch konnte sich in den Territorien eine eigenständige G. entwickeln. Neben der Reichs-G. und der G. der Landesherren gab es die Patrimonial-G., die an den Besitz bestimmter Ländereien anknüpfte, die G. der Zünfte und Universitäten für ihre Mitglieder oder die bäuerliche Nieder-G. für freie Bauern ohne Unterwerfung unter einen Großgrundbesitzer.
Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532 ordnete den frühneuzeitlichen Strafprozess als Akkusationsprozess (auf Anklage einer Privatperson) oder Inquisitionsprozess (im Amtsermittlungsverfahren). Die Strafverfolgung entwickelte sich damit zu einer hoheitlichen Aufgabe.
Das 19. Jh. war nach dem Ende des Reiches 1806 von einer immer stärker werdenden Verselbständigung der G. als dritte Staatsgewalt geprägt. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. entstand nach und nach eine eigene Verwaltungs-G.
Im Hinblick auf das Prozessrecht und die Gerichtsverfassung ging der Anstoß für Veränderungen von den Kodifikationen der Napoleonischen Ära aus. In der Zivilprozessordnung und der Strafprozessordnung schrieb der französische Gesetzgeber wichtige neue Prozessmaximen fest: Grundsatz der Öffentlichkeit und der Mündlichkeit, Dispositionsmaxime im Zivilprozess, obligatorischer Güteversuch, freie richterliche Beweiswürdigung. Das Strafverfahren wurde insgesamt in die Hände der Staatsanwälte (Staatsanwaltschaft) gelegt, entschieden wurde entweder durch das Geschworenengericht oder ein Berufsrichterkollegium.
Die neuen Regeln fanden mit den Reichsjustizgesetzen von 1877/79, die u. a. das GVG, die StPO und die ZPO umfassten, Eingang in das Recht des 1871 gegründeten Deutschen Reiches. Das GVG sorgte für einen reichsweiten deutschen Gerichtsaufbau mit Amtsgerichten, Landesgerichten und Oberlandesgerichten sowie dem Reichsgericht an der Spitze.
Das System der deutschen G. blieb während der Weimarer Republik im Wesentlichen unverändert. 1923 führte das JGG eigene Jugend(straf)gerichte, 1926 das ArbGG eine eigenständige Arbeits-G. in der ersten Instanz ein.
Die nationalsozialistische Herrschaft brach auch hinsichtlich der G. mit allen überkommenen rechtsstaatlichen Vorstellungen. So wie die gesamte staatliche Ordnung wurden auch die Gerichtsverfassung und das Prozessrecht politischen und weltanschaulichen Vorgaben untergeordnet. Das Postulat einheitlicher Staatsgewalt erkannte keine Gewaltenteilung im klassischen Sinne und damit auch keine unabhängige G. an. Der Führer galt auch als oberster Gerichtsherr. 1934 wurde der Volksgerichtshof als neue Sonder-G. für politische Straftaten errichtet. Es wurden zahlreiche weitere Sondergerichte eingerichtet, die in Schnellverfahren ohne rechtsstaatliche Garantien entschieden.
Unter der Besatzungsherrschaft der Alliierten nahmen deutsche Gerichte schon kurz nach dem Kriegsende und dem Zusammenbruch des Reichs wieder Rechtsprechungsaufgaben wahr. In den westlichen Besatzungszonen erfolgte der Gerichtsaufbau zügig. Eine wichtige Instanz stellte der Oberste Gerichtshof für die Britische Besatzungszone dar, der bis 1950 judizierte und einer der Vorläufer des BGHs war. In der BRD wurde 1951 das BVerfG errichtet, dem bereits das GG von 1949 umfangreiche Entscheidungskompetenzen in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten übertragen hatte.
Die G. in der DDR war Teil einer sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Die Gerichtsverfassung wurde vollständig neu gestaltet. 1949 nahmen das Oberste Gericht und die Oberste Staatsanwaltschaft ihre Arbeit auf. 1952 wurden Kreis- und Bezirksgerichte eingesetzt. Gleichzeitig wurden die Verwaltungsgerichte vollständig abgeschafft. Der Aufbau der Justiz war durch das Prinzip des demokratischen Zentralismus geprägt, was sich in der Anleitung der unteren durch die höheren Gerichte nach Art einer Fachaufsicht äußerte. Die Richter waren weder persönlich noch sachlich unabhängig; dem standen die führende Rolle der Partei sowie die Leitungskompetenz der übergeordneten Gerichte entgegen.
1.3 Gerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz – verfassungsrechtliche Vorgaben
Die Art. 92 und 95 GG bilden die verfassungsrechtliche Grundlage für die G. in Deutschland. Art. 92 GG bestimmt, dass die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist und durch das BVerfG, die im GG vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt wird. Art. 95 Abs. 1 GG ordnet die Errichtung der obersten Gerichtshöfe des Bundes für die Gebiete der ordentlichen, der Verwaltungs–, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozial-G. (BGH, BVerwG, BFH, BAG und BSG) an.
Darüber hinaus regelt das GG die Kompetenzordnung innerhalb des Bundesstaates und bestimmt damit auch, welcher Gebietskörperschaft im föderalen Bundesstaat jeweils die Gerichtshoheit zukommt. Gemäß Art. 74 Nr. 1 GG hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebung für die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren, sodass das Gerichtsverfassungsrecht primär bundesrechtlich geregelt ist.
Das GG enthält einige wichtige verfassungsrechtliche Grundsätze hinsichtlich der Wahrnehmung der Rechtsprechungstätigkeit durch die Richter. So wird in Art. 97 Abs. 1 GG der Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit aufgestellt. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG begründet den Anspruch auf den gesetzlichen Richter und Art. 103 Abs. 1 GG den Anspruch auf rechtliches Gehör.
Das GG folgt dem Grundsatz der Gewaltenteilung (s. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2 S. 1 GG) und etabliert die Rechtsprechung als dritte Gewalt. Das GG garantiert und gewährleistet – über Art. 79 Abs. 3 GG sogar als Teil der Ewigkeitsgarantie – damit die selbständige Existenz der Rechtsprechung neben Gesetzgebung und Verwaltung. Aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung ergibt sich bereits, dass die Rechtsprechung durch bes. Organe ausgeübt werden muss und diese von den anderen Gewalten zu trennen sind. Rechtsprechung setzt zudem ein den rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechendes Verfahren voraus. Teil der Rechtsbindung der rechtsprechenden Gewalt (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) ist unter dem GG die unmittelbare Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG).
Dem rechtsstaatlichen Rechtsprechungsmonopol des Staates korrespondiert der grundsätzliche Anspruch des Bürgers auf Zugang zu den Gerichten (Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG; Justizgewähranspruch aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG).
1.4 Gerichtshoheit
Der räumliche Umfang der deutschen Gerichtshoheit wird durch die Gerichtshoheit anderer Staaten begrenzt. Die deutsche Gerichtshoheit ist daher in territorialer Hinsicht auf den Geltungsbereich des GVG beschränkt. Gerichtstätigkeit, Rechtskraft und Vollstreckbarkeit finden ihre Schranken an den deutschen Staatsgrenzen. Bezüglich Rechtskraft und Vollstreckbarkeit gibt es jedoch vielfach Staatsverträge zur Anerkennung im Ausland.
Deutsche Gerichte dürfen im Ausland nicht von sich aus tätig werden, sondern nur dann, wenn sie durch Rechtshilfeersuchen um Unterstützung gebeten werden und die zuständige fremde staatliche Stelle diesem Vorgehen zustimmt.
Der deutschen G. unterliegen vorbehaltlich bestimmter Exemtionen grundsätzlich alle Personen auf deutschem Staatsgebiet, gleich welcher Staatsangehörigkeit, sowie alle im Inland befindlichen Vermögensgegenstände.
Entspr. der föderalen Strukturen der BRD ist die Gerichtshoheit nach dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) auf den Bund und die Länder verteilt. Art. 92 GG spricht diese Aufteilung im Allgemeinen aus und regelt gemeinsam mit den folgenden Artikeln den jeweiligen Bereich der Gerichtshoheit nach den Grundsätzen des föderalistischen Staatsaufbaus (Föderalismus). Grundsätzlich besteht eine strikte Trennung zwischen der Gerichtshoheit des Bundes und der Länder. Diese Trennung wird lediglich hinsichtlich des Strafverfahrens auf den Gebieten der Friedensstörung und des Staatsschutzes mit Art. 96 Abs. 5 GG durchbrochen, demzufolge bundesgesetzlich bestimmt werden kann, dass Gerichte der Länder in solchen Angelegenheiten G. des Bundes ausüben.
Die Gerichtshoheit der Länder erfährt eine umfassende Einschränkung durch die umfangreiche, letztinstanzliche Kontrolle von Entscheidungen durch die obersten Bundesgerichte. Auch die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 74 Nr. 1 GG stellt von vornherein eine Beschränkung der Gerichtshoheit der Länder dar.
In sachlicher Hinsicht ist die Gerichtshoheit von der Gesetzgebungshoheit und der Verwaltungshoheit, somit den anderen Staatsgewalten, abzugrenzen. Unter die sachliche Gerichtshoheit fallen die eigentliche Rechtsprechungstätigkeit, die Aufgaben der Rechtspflege im weiteren Sinne, aber auch z. T. verwaltende Tätigkeiten innerhalb der Justiz, soweit sie aus besonderen Gründen der G. zur Erledigung zugewiesen sind.
1.5 Gerichtsverfassung
Die Organe der G. bestimmen sich nach der Gerichtsverfassung, die u. a. auch die Besetzung und die Organisation der Gerichte regelt. Das GG enthält einige wenige, aber wichtige Bestimmungen hinsichtlich des Gerichtsverfassungsrechts. Das im Übrigen einfachgesetzlich geregelte Gerichtsverfassungsrecht enthält gemeinsame Regelungen der Rechtspflegetätigkeit für alle Zweige der G.
1.5.1 Inhalt des Gerichtsverfassungsrechts
Das Gerichtsverfassungsrecht umfasst die Organisation der Gerichte bzw. der verschiedenen G.en und die Aufgabenverteilung zwischen den Gerichten. Das Gerichtsverfassungsrecht enthält die Gesamtheit der allgemeinen, für die gesamte Rechtspflege bedeutsamen Regeln, die für die Einrichtung und die Tätigkeit der Gerichte maßgeblich und typisch sind. Darunter fallen die Organisation und Aufgabenverteilung der Gerichte und sonstiger Organe der G., die Vorschriften über die Qualifikation dieser Organe und die grundlegenden Prinzipien der Rechtsprechungstätigkeit. Obwohl es kein allgemeines, einheitliches GVG für alle G.en gibt, führen doch ein Zusammenspiel der verschiedenen Regeln und viele Verweise auf das GVG zu einer im Wesentlichen einheitlichen Regelung.
1.5.2 Rechtsquellen des Gerichtsverfassungsrechts
Die Rechtsquellen des Gerichtsverfassungsrechts finden sich im Wesentlichen im GVG und dem EGGVG. Die dort enthaltenen Regelungen gelten primär für die ordentliche G., bestimmte Vorschriften finden aber auch auf die anderen Gerichtszweige Anwendung. Ansonsten finden sich die jeweiligen Regelungen zum Gerichtsverfassungsrecht in den einschlägigen Prozessordnungen. Darüber hinaus enthalten auch das GG und die Landesverfassungen relevante Regelungen für das Gerichtsverfassungsrecht. Wichtige Bestimmungen ergeben sich außerdem aus dem DRiG, den Landesrichtergesetzen und dem RechtspflegerG.
1.5.3 Einzelne Gerichtsbarkeiten
In der BRD werden die Aufgaben der Rechtsprechung nicht durch eine einzige, einheitliche G. wahrgenommen, sondern durch mehrere verschiedene Gerichtszweige (sogenannte G.en). Durch Art. 95 Abs. 1 GG ist die Rechtsprechung so geordnet, dass es fünf gleichrangige G.en nebeneinander gibt. Diese G.en sind die ordentliche G., die Arbeits-G., die allgemeine Verwaltungs-G., die Sozial-G. und die Finanz-G. Daneben gibt es noch die Verfassungs-G. sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene, die als Kontrollinstanz zur Wahrung des Verfassungsrechts über den einzelnen G.en steht. Außerdem gibt es in Deutschland einige bes. G.en für spezielle Personengruppen, wie bspw. die Berufs-G.en, die Disziplinar-G.en und die kirchliche G.
Die ordentliche G. ist noch einmal unterteilt in drei Unterzweige: die streitige Zivil-G., die freiwillige G. und die Straf-G. Hinzu kommen noch die zum Teil speziell geregelte Patent-G. (§ 65 PatG) und die Schifffahrts-G. (§ 14 GVG). Der streitigen Zivil-G. sind nach der Generalklausel des § 13 GVG alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zugewiesen, sofern keine Spezialzuweisung besteht (so z. B. in § 2 ArbGG). Dasselbe gilt für die Straf-G. mit Blick auf alle Strafsachen und die freiwillige G. bezüglich aller Familiensachen und sonstigen Angelegenheiten der freiwilligen G. Ebenfalls zur ordentlichen G. zählen bes. Spruchkörper aufgrund spezialgesetzlicher Regelungen wie die Jugendgerichte, die Kammern für Baulandsachen oder die Landwirtschaftsgerichte.
Gemäß Art. 101 Abs. 2 GG können durch Gesetz bes. Gerichte für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen errichtet werden, die dann allgemein für bes. Sachgebiete und alle dort in Betracht kommenden Fälle zuständig sind. Ein solches Gericht ist bspw. das BPatG oder das nur im Verteidigungsfall tätig werdende Wehrstrafgericht. Verboten sind hingegen Ausnahmegerichte (Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG, § 16 S. 1 GVG), die in Abweichung von der allgemeinen gesetzlichen Zuständigkeit ausschließlich zur Entscheidung einzelner konkreter und individueller Fälle gesondert gebildet werden.
1.5.4 Instanzenzug und Spruchkörper
In den fünf G.en ist überall ein Instanzenzug vorgesehen, auch wenn Art. 19 Abs. 4 GG die Existenz eines Instanzenzuges nicht von Verfassungs wegen garantiert. Die jeweiligen gesetzlichen Grundlagen für den Instanzenzug finden sich in den einschlägigen Verfahrensordnungen, für die ordentliche G. im GVG. Für alle G.en gemeinsam gilt ein dreistufiger Instanzenzug – einzige Ausnahme davon ist die Finanz-G. mit nur zwei Stufen. Der Instanzenzug geht zunächst über das Eingangsgericht zum Berufungsgericht und schließlich zum Revisionsgericht.
Exemplarisch ist in der Zivil-G. als erste Instanz entweder das AG oder das LG zuständig (§§ 23 ff., 71 GVG). Die zweite Instanz ist bei Berufung gegen Urteile des AGs – abgesehen von einigen Spezialfällen – das LG (§ 72 GVG), sonst das OLG (§ 119 GVG). Über Revisionen entscheidet grundsätzlich der BGH (§ 133 GVG). Obwohl der Instanzenzug nur dreistufig ist, gibt es insgesamt also vier Gerichte. Der BGH ist ein oberstes Bundesgericht, die anderen Gerichte sind LGe. Sie bilden aber trotzdem gemeinsam eine einheitliche G. mit einem einheitlichen Instanzenzug.
Der Aufbau der Spruchkörper ist verknüpft mit den Instanzenzügen. An den einzelnen Gerichten werden die konkreten Rechtsprechungsaufgaben jeweils durch einen Spruchkörper wahrgenommen, das sogenannte erkennende Gericht. In der Regel gibt es an einem Gericht im behördlich-organisatorischen Sinne mehrere Spruchkörper, die je nach Art des Gerichts unterschiedlich benannt sind und deren Existenz durch Gesetz vorgeschrieben ist. Ein solcher Spruchkörper kann aus einem Einzelrichter bestehen oder ein Kollegialgericht mehrerer Richter sein, die entweder Berufs- oder zum Teil Laienrichter sind. In Zivil- und Strafsachen wie auch in Angelegenheiten der freiwilligen G. bildet der Einzelrichter den regelmäßigen Spruchkörper des AGs. Nur in besonderen Fällen entscheidet das AG als Kollegialgericht in Form des Schöffengerichts, erweiterten Schöffengerichts, Jugendschöffengerichts oder Landwirtschaftsgerichts. Soweit durch Gesetz kein Einzelrichter eingesetzt ist, bestehen die Spruchkörper aus mehreren Richtern. Im Kollegialsystem sind immer mindestens drei Richter vorgesehen, die je nachdem Berufsrichter oder ehrenamtliche Richter sind. Je nach Gericht gibt es als Kollegialspruchkörper Schöffengerichte, Schwurgerichte, Kammern oder Senate.
1.5.5 Organe der Gerichtsbarkeit
Unter einem Gericht ist ein zumindest mittelbar staatliches Organ zu verstehen, das unabhängig und von der Verwaltung hinreichend getrennt ist, der Gesetzesanwendung durch ein rechtsförmiges Verfahren dient und dessen Tätigkeit durch unbeteiligte und unabhängige, personell durch den Staat bestimmte Dritte ausgeübt wird. Vom Gericht als Gerichtsbehörde (z. B. AG) ist der im konkreten Fall entscheidende Spruchkörper (z. B. Einzelrichter) zu unterscheiden.
Die Rechtsprechungstätigkeit in den Gerichten ist ausschließliche Aufgabe der Richter (Art. 92 1. Hs. GG). Bei der Aufgabenwahrnehmung ist der Richter an Gesetz und Recht gebunden (Art. 97 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG) und zieht daraus auch die Legitimation für seine Tätigkeit. Außerdem genießt er gemäß Art. 97 Abs. 1 GG und § 25 DRiG Unabhängigkeit. Der Richter ist sachlich unabhängig, wenn er frei ist von Weisungen und sonstigen Einflüssen anderer Staatsorgane. Die persönliche Unabhängigkeit betrifft v. a. den Schutz des Richters vor Eingriffen in seine dienstrechtliche Stellung, von denen Art. 97 Abs. 2 GG die schwerwiegendsten benennt. Dazu zählt aber auch die Gewährung einer sicheren Existenzgrundlage in Form einer angemessenen Besoldung als Grundlage wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Neben die Unabhängigkeit tritt das Gebot der Neutralität des Richters, die sachfremde Einflüsse aus der Person des Richters heraus vermeiden soll. Es muss sichergestellt sein, dass der Richter ein unbeteiligter, unparteiisch und unbefangen entscheidender Dritter im Verhältnis zu den Verfahrensbeteiligten ist.
Neben der originären Rechtsprechungsaufgabe ist der G. die umfassende Aufgabe der Rechtspflege übertragen, die nicht ausschließlich von Richtern wahrgenommen wird. An der Rechtspflege sind zahlreiche weitere Personen beteiligt. Sofern es sich bei diesem zusätzlichen Personal um Beamte der G. handelt, unterfallen sie auch dem Gerichtsverfassungsrecht (so z. B. Rechtspfleger, Urkundsbeamte der Geschäftsstelle). Die Staatsanwaltschaft ist ein selbständiges Organ der Rechtspflege, das eine eigene Institution des Gerichtsverfassungsrechts bildet (§§ 141–152 GVG). Außerhalb der G. stehen die Rechtsanwälte und Notare als bes. Organe der Rechtspflege.
1.6 Ausübung der Gerichtsbarkeit: Gerichtsbarkeit und Bürger
Eine der wichtigsten Gewährleistungen des deutschen Gerichtsverfassungsrechts stellt der verfassungsrechtlich fundierte Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, § 16 S. 2 GVG) dar. Ergänzt wird dieser Grundsatz durch das Verbot von Ausnahmegerichten (Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG). Der Grundsatz des gesetzlichen Richters, der sachfremde Manipulationen verhindern soll, ist zentrale Organisationsvorgabe der G. und begründet zugleich einen subjektiven Anspruch des Bürgers. Gesetzlicher Richter ist der nach abstrakten Merkmalen im Voraus so eindeutig wie möglich bestimmte Richter.
Im Verhältnis zwischen G. und Bürger treten neben den Grundsatz des gesetzlichen Richters als subjektiv-rechtliche Ansprüche, abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip, der Justizgewährungsanspruch, der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, der Anspruch auf ein faires Verfahren und der Anspruch auf rechtliches Gehör. Für die Allgemeinheit ist schließlich noch der Grundsatz der Öffentlichkeit von Bedeutung.
2. Gerichtsbarkeit im internationalen Kontext
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist zur staatlichen G. internationale oder supranationale G. hinzugetreten. Außerdem haben Schlichtung, Mediation, gütliche Einigung und Schiedsgerichte eine größere Bedeutung erlangt. In zahlreichen Fällen von großem wirtschaftlichem Gewicht spielen nationale staatliche Gerichte kaum noch eine Rolle.
Eine Verlagerung von Zuständigkeiten hin zu supranationalen Gerichten findet sich zunächst auf europäischer Ebene. Die Entscheidungen des obligatorische G. ausübenden EuGH (Art. 19 EUV; Art. 251–281 AEUV) entfalten teilweise unmittelbare Wirkung und binden die Mitgliedstaaten der EU bzw. deren Gerichte.
Aufgabe des EGMR (Art. 19–51 EMRK) ist der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Gemäß Art. 46 EMRK verpflichten sich alle Vertragsparteien der EMRK, ein endgültiges Urteil des EGMR zu befolgen, d. h. innerstaatlich umzusetzen.
Zu den internationalen Gerichtshöfen rechnen insb. der zur Entscheidung zwischenstaatlicher Streitigkeiten bei (fakultativer) Unterwerfung unter seine Jurisdiktion zuständige IGH in Den Haag und der IStGH (Internationale Strafgerichtsbarkeit), der seine Rechtsgrundlage im Römischen Statut von 1998 findet.
Die Einsetzung internationaler G. beruht auf dem Völkerrecht und setzt daher grundsätzlich den Konsens der daran beteiligten Staaten voraus. Da die Gerichtsgewalt zuvörderst den Staaten zusteht, können diese frei entscheiden, ob und in welchem Umfang sie einen Teil ihrer Gerichtsgewalt auf zwischen- oder überstaatliche Institutionen übertragen.
Die Beilegung von Streitigkeiten mit Rechtszwang wird heutzutage vielfach durch gütliche Einigung ersetzt. Dabei werden bewährte alte wie neue, formelle wie informelle Methoden und Instrumente der Streitschlichtung genutzt: Mediation, Täter-Opfer-Ausgleiche, informelle Erledigungen, obligatorische Güteverfahren und Vergleichsschlüsse.
Neben die staatliche G. tritt schließlich auch noch die Schieds-G., bei der es sich um eine vertraglich vereinbarte private G. handelt. Ein oder mehrere von den Parteien gewählte Schiedsrichter entscheiden vertraulich und unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit über den Streit der Parteien. Schiedsklauseln finden sich v. a. in grenzüberschreitenden Verträgen von größerer wirtschaftlicher Bedeutung, namentlich in Investitionsschutzverträgen. Sie sind aber wegen der Ausschaltung auch funktionstüchtiger staatlicher Gerichte und wegen mangelnder Transparenz jüngst im Zusammenhang mit geplanten Freihandelsabkommen (CETA, TTIP) in die Kritik geraten.
Die staatliche G. sieht sich teilweise auch innerstaatlich durch konkurrierende religiöse Instanzen herausgefordert. So nehmen in einigen westlichen Ländern islamische Friedensrichter für sich das Recht in Anspruch, Streitigkeiten zwischen Muslimen nach der islamischen Tradition bzw. dem Scharia-Recht zu beurteilen und so der Streitentscheidung durch die staatlichen Gerichte zu entziehen. Eine Zuständigkeit religiöser Instanzen kann es aber nur für innerreligiöse Streitigkeiten geben. Im Übrigen muss es schon zur Vermeidung einer Paralleljustiz für Parallelgesellschaften beim Entscheidungsmonopol der einheitlichen staatlichen G. verbleiben.
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Empfohlene Zitierweise
C. Hillgruber: Gerichtsbarkeit, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gerichtsbarkeit (abgerufen: 07.12.2024)