Sozialgerichtsbarkeit

1. Fachgerichte für Sozialrecht

Die S. ist eine der fünf gem. Art. 95 Abs. 1 GG in Deutschland vorgesehenen Fachgerichtsbarkeiten und von diesen die jüngste. Sozialgerichte wurden erst nach Verabschiedung des SGG vom 3.9.1953 (BGBl. I 1239) errichtet. Die Gerichte der S. entscheiden als bes. VG über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten des Sozialrechts, insb. der Sozialversicherung und des sozialen Entschädigungs- einschließlich des Schwerbehindertenrechts. Seit 2005 ist S. auch für die bis dahin den VG zugewiesenen Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsrechts sowie die neu eingeführte Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständig. Weiter zählen auch Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung zur Zuständigkeit der S. Ihre Wurzeln hat die S. in der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, die auf Grund der Kaiserlichen Botschaft vom 17.11.1881 erlassen wurde. Bis zur Errichtung der Sozialgerichte waren bei den Versicherungsämtern (letztinstanzlich beim Reichsversicherungsamt) gebildete Spruchkörper zur Entscheidung von Streitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialversicherung berufen.

Die S. ist dreistufig aufgebaut. Derzeit gibt es in Deutschland neben dem BSG mit Sitz in Kassel 68 Sozialgerichte sowie 14 LSG. Bremen und Niedersachsen sowie Berlin und Brandenburg haben jeweils gemeinsame LSG errichtet (§ 28 Abs. 2 SGG). Die Kammern der Sozialgerichte sind mit einem Berufsrichter, die Senate der LSG und des BSG mit je drei Berufsrichtern (Richter) besetzt. In allen drei Instanzen wirken neben den Berufsrichtern jeweils zwei ehrenamtliche Richter als sachkundige Beisitzer mit (§ 3 SGG). Sie werden auf Vorschlag insb. von Verbänden und Gewerkschaften von der Justizverwaltung für jeweils fünf Jahre bestellt und von den Präsidien der Gerichte den dortigen Fachkammern (§ 19 SGG) bzw. beim LSG und BSG den dortigen Fachsenaten zugewiesen. Sie sollen Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Arbeits- und Wirtschaftsleben in die Rechtsprechung einbringen.

2. Grundzüge der Prozessordnung

Die Sozialgerichte prüfen u. a., ob die handelnden Sozialleistungsträger von zutreffenden Tatsachen ausgegangen sind und das Recht richtig angewendet haben. Sozialgericht und LSG erforschen dabei den wahren Sachverhalt von Amts wegen (Amtsermittlungsgrundsatz, § 103 SGG). Die Vorsitzenden haben den Rechtsstreit aktiv zu fördern; ihnen obliegt eine prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber den Prozessbeteiligten (§ 106 SGG). Der Fürsorgepflicht kommt im Sozialgerichtsprozess vielfach bes. Bedeutung zu. Dies ist der typischen Verfahrenssituation geschuldet, in der häufig ein deutliches Ungleichgewicht zwischen den Prozessbeteiligten besteht und es für den Kläger um existenziell wichtige Ansprüche geht, die auf einem äußerst komplexen und unübersichtlichen Regelungssystem beruhen. Die Gerichte sind an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 Nr. 2 SGG); eine Bindung an einen Beweisantrag besteht lediglich insoweit, als auf Antrag Versicherter, behinderter Menschen (Behinderung), Versorgungsberechtigter oder Hinterbliebener ein bestimmter Arzt gutachterlich gehört werden muss (§ 109 SGG). Allgemein verletzen die SG ihre Amtsermittlungspflicht, wenn sich weitere Ermittlungen zur Sachverhaltsklärung aufdrängen, das Gericht aber in seinem Ermessen stehende weitere Beweiserhebungen unterlässt. Die Amtsermittlungspflicht findet ihre Grenzen in den Mitwirkungspflichten der Beteiligten (§ 103 Abs. 1 Hs. 2 GG).

Das Verfahren ist für Versicherte, Leistungsempfänger und behinderte Menschen, wenn sie in dieser Eigenschaft am Verfahren beteiligt sind, gerichtskostenfrei (§ 183 SGG, Ausnahme: Verfahren wegen überlanger Verfahrensdauer). Von der Gerichtskostenfreiheit im Verhältnis zur Staatskasse zu unterscheiden ist, ob die Prozessbeteiligten einander außergerichtliche Prozesskosten zu erstatten haben. Darüber hat das Gericht im Urteil oder – bei anderweitiger Erledigung – auf Antrag durch gesonderten Beschluss nach billigem Ermessen zu entscheiden (§ 193 Abs. 1 SGG). I. d. R. gilt der Grundsatz, dass der unterlegene Beteiligte seine Kosten selbst zu tragen hat. Zumindest wenn die obsiegende Partei zum kostenprivilegierten Personenkreis gehört, hat die unterlegene Partei ihr grundsätzlich ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Vor den Sozialgerichten und LSG besteht kein Vertretungs- bzw. Anwaltszwang; Kläger können dort selbst auftreten und Anträge stellen. Das Klagesystem der S. entspricht im Wesentlichen dem der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das SGG enthält insb. Regelungen zur Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1), zur Leistungsklage (§ 54) und zur Feststellungsklage (§ 55). Daneben ist die Untätigkeitsklage als spezielle Form der Verpflichtungsklage vorgesehen (§ 88) mit der Besonderheit, dass diese im Sozialgerichtsprozess auf den Erlass eines Verwaltungsaktes schlechthin gerichtet ist. Unter bestimmten Voraussetzungen kann eine Anfechtungsklage nach Erledigung des angefochtenen Verwaltungsaktes als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgesetzt werden (§ 131 Abs. 1 S. 3). Die Gerichte entscheiden über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein (§ 123 SGG); auch hierin kommt zum Ausdruck, dass das wirkliche Rechtsschutzziel zu ermitteln ist. Daneben bietet das SGG für Eilfälle auch einstweiligen Rechtsschutz (§ 86b).

Dem Institut der Beiladung (§ 75 SGG) kommt im Sozialgerichtsprozess große Bedeutung zu. Durch die Beiladung wird ein Dritter durch Beschluss des Gerichts zum Beteiligten des Prozesses. Das Gericht kann auf Antrag oder von Amts wegen andere beiladen, deren berechtigte Interessen durch die Entscheidung berührt werden (einfache Beiladung). Es muss von Amts wegen eine Beiladung anordnen, wenn Dritte an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass auch ihnen gegenüber die Entscheidung nur einheitlich ergehen kann (echte notwendige Beiladung) oder wenn bei einer Ablehnung des Anspruches ein anderer der in § 75 Abs. 2 Alt. 2 SGG aufgeführten Leistungsträger als leistungspflichtig in Betracht kommt (unechte notwendige Beiladung). Hat der Kläger also den „falschen“ Beklagten verklagt, kann das Gericht aus Gründen der Prozeßökonomie den „richtigen“ Beklagten zum Rechtsstreit beiladen und diesen – auch ohne entsprechenden Antrag – verurteilen (§ 75 Abs. 5 SGG). Die Entscheidung entfaltet in Fällen notwendiger Beiladung Wirkung auch gegenüber dem Beigeladenen, so dass in möglichen Folgeprozessen einander widersprechende Entscheidungen vermieden werden (§ 141 SGG).

3. Revisionsverfahren

Das BSG ist ein reines Rechtsmittelgericht. Es ist an die im Berufungsverfahren festgestellten Tatsachen gebunden (§ 163 SGG) und prüft nur noch, ob Fehler in der Anwendung des Rechts vorliegen. Das LSG kann die Revision im angegriffenen Urteil selbst zulassen. Ist dies nicht geschehen, kann beim BSG eine sogenannte Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt werden mit der Begründung, die Sache habe grundsätzliche Bedeutung, das LSG sei bewusst von einer Entscheidung des BSG oder BVerfG abgewichen oder die Entscheidung des LSG beruhe auf einem Verfahrensfehler (§ 160 SGG). Vor dem BSG besteht Vertretungszwang. Vertretungsbefugt sind neben Rechtsanwälten z. B. Gewerkschaften, Arbeitgeber- oder Sozialverbände (§ 73 SGG). Eine Ausnahme gilt für den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Revision oder der Nichtzulassungsbeschwerde; einen solchen Antrag kann ein Kläger vor dem BSG auch selbst stellen. Das BSG prüft dann von Amts wegen sowohl die wirtschaftlichen Verhältnisse als auch die Erfolgsaussichten des Rechtmittels.