Anarchie, Anarchismus

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1. „Anarchie“ und „Anarchismus“

Das Wort „Anarchie“ (A.) bedeutet im Altgriechischen Führer- bzw. Herrenlosigkeit sowie einen gesetzlosen Zustand des Gemeinwesens ohne eine Herrschaftsinstanz. Die Semantik verweist primär ins Politische und schließt Herrschaft aus. „Anarchisch“ und „archisch“ negieren sich wechselseitig; auch wenn das letztere Adjektiv im wissenschaftlichen Vokabular selten vorkommt, scheint seine Verwendung um der Erfassung der Sache willen sinnvoll. In seiner langen Wortgeschichte hat A. diese Bedeutung behalten. Im Sinne des prinzipiell negativen Bezugs auf Herrschaft kann A. sowohl als Schwächung und Verschwinden von archischen Verhältnissen verstanden werden, als auch als deren aktive Infragestellung, Verweigerung, Abwehr oder Bekämpfung.

Der Sache, jedoch nicht dem Namen nach findet sich A. als Theorem innerhalb der politischen Vertragstheorien von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau im 17. und 18. Jh. Die Vokabel vom „Naturzustand“ steht für ein Gedankenexperiment, in dem das Leben einer Menge menschlicher Individuen ohne Staat und ohne politische Herrschaft fingiert wird. Zweck der Subtraktion des Staates ist es, am nur sich selbst und seinesgleichen überlassenen Einzelmenschen anthropologische Prinzipien aufzuzeigen und daraus die Notwendigkeit des Staates abzuleiten. T. Hobbes konzipiert den Naturzustand als „Krieg aller gegen alle“, resultierend aus dem unbegrenzten Machthunger der egoistischen Menschen. J. Locke nimmt zunächst eine friedliche A. an, indem sich die Individuen moralischen Gesetzen unterwerfen und das Naturrecht auf Freiheit und Eigentum achten. Dieser Zustand schlägt in Krieg um, da es bei moralischen Konflikten keine urteils- und sanktionsfähige Schiedsrichterinstanz gibt und da das private Eigentum des Schutzes bedarf – Aufgaben, die dann der Staat übernimmt. J.-J. Rousseaus natürlicher Mensch geht als Solitär reflexionslos, aber gerade deshalb in voller Unabhängigkeit (indépendance) durch seine kleine Welt, die ihm mangels Erinnerung jeden Tag in reiner Gegenwärtigkeit neu begegnet. Erst in der folgenden zivilisierten Kulturphase gerät der Mensch mit der neuerworbenen Fähigkeit der Reflexion in ein Netz von Abhängigkeiten durch Moral, Konvention und Macht. J.-J. Rousseau schildert den homme civilisé kulturkritisch (Kulturkritik), um daraufhin im Gesellschaftsvertrag und dem damit erzeugten Kollektivkörper eine neue und höhere Stufe menschlicher Freiheit zu denken. Wie unterschiedlich auch immer: Die Zielsetzung aller drei Theorien und ihrer basalen A.-Hypothese ist es, die Notwendigkeit von Staatlichkeit und einer über den Individuen stehenden Herrschaftsinstanz aufzuzeigen – eine Zielsetzung, welche dem späteren Anarchismus (A.ismus) exklusiv entgegensteht, zugl. aber zeigt, dass A. mit Staatlichkeit in einen durchaus sinnvollen Zusammenhang gebracht werden könnte.

An diese politisch-ideengeschichtliche Matrix knüpft die Begriffsverwendung in der Theorie der internationalen Politik an. Insb. mit Blick auf T. Hobbes wird A. als zwischenstaatlicher Zustand ohne eine obrigkeitliche Instanz über den Einzelstaaten begriffen. Wie diese im sog.en Realismus beschriebene Ausgangslage und ihre Gefahr der Destabilisierung bis hin zum Krieg eingehegt werden kann, wird von unterschiedlichen Denkansätzen und Theorien thematisiert.

Im Begriff des A.ismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jh. breit bekannt wurde, schwingen mehrere Bedeutungsmomente zusammen. Zum einen verweist er auf ein Überzeugungssystem mit entsprechender Theoretisierung, das sich am Fluchtpunkt der Beseitigung politischer Herrschaft ausrichtet. Zum zweiten steht er für eine politische Bewegung, deren Programmatik sich auf die praktische Herbeiführung eines Zustands der A. – seltener ist auch von Akratie die Rede – richtet. Theorie und Praxis sind dabei innig miteinander verbunden. In der gemeinsamen Ergebnisorientierung nimmt die Theorie vorweg, was die Praxis zu realisieren sucht. Theorie kann darüber hinaus als Moment einer anarchistischen Praxis verstanden werden – eine Denkform, wie sie auch für Sozialismus und Marxismus charakteristisch ist.

Die zu beseitigende Herrschaft bezieht sich auf den Staat. Ihn gilt es kritisch auf seine Machtstrukturen, Praktiken und Legitimationsstrategien (Legitimation) zu analysieren, aktiv zu bekämpfen und durch Revolution abzuschaffen. A.ismus ist nach Erich Mühsam „Befreiung der Gesellschaft vom Staat“. Der Staat ist das Feindbild schlechthin; umgekehrt werden Anarchisten im Extremfall zu Staatsfeinden erklärt. Gemeint ist Staat im engeren Sinne – Regierung, Rechtsprechung und Strafsystem, Verwaltung, Polizei und Militär –, zusätzlich die Institutionen, die das Herrschaftssystem mittragen: Religion und Kirche, Ökonomie, Eigentumsverhältnisse (Eigentum), Bildungs- und Erziehungssystem. Geht es beim eng verstandenen Staat um dessen Abschaffung, so schwanken bzgl. des weiteren institutionellen Umkreises die Optionen teilweise zwischen polaren Gegensätzen. Zwar verfallen diese Institutionen der Ablehnung, sofern sie staatliche Herrschaft unterstützen. Sie können jedoch auch positiv gewertet werden, wenn sie anarchistisch umgepolt werden. Es gibt Anarchisten, die als Atheisten (Atheismus) und Materialisten (Materialismus) die Religion ablehnen; diese kann aber auch – wie bei Leo Tolstoj – als Substanz anarchistischer Überzeugung wirken. Die kapitalistische Wirtschaft (Kapitalismus) wird von Anarchisten sozialistischer und kommunistischer Orientierung (Kommunismus) abgelehnt; sie kann aber auch befürwortet werden – s. die Libertarians und den Anarchokapitalismus. Das Privateigentum wird von kommunistischen Anarchisten abgelehnt, von libertären als essentieller Garant individueller Freiheit emphatisch bejaht. Erziehung wird einerseits als System der Indoktrinierung und Produktion von Untertanen abgewertet, ist aber auch unerlässliche Hilfe bei der Entwicklung zur individuellen Selbständigkeit. Moral kann radikal negiert, aber auch als Element einer freien Persönlichkeit bejaht werden. Dazwischen steht die Position von Michail Bakunin, der für Anarchisten im Umgang mit ihresgleichen die strikte Befolgung moralischer Forderungen (bspw. nach Wahrhaftigkeit) verlangt, während er im Umgang mit den Feinden unmoralisches Handeln für gerechtfertigt hält. Kontrovers wird die Gewaltfrage (Gewalt) behandelt. Das Pendel schwingt hier zwischen Pazifismus und Gewaltlosigkeit auf der einen und dem politischen Mord auf der anderen Seite, der das Volk mobilisieren und den Staat destabilisieren soll. Die Liste der misslungenen oder gelungenen Attentate von Personen, die sich Anarchisten nannten oder Anhänger waren, zwischen den 70er Jahren des 19. und den 30er Jahren des 20. Jh. ist lang und umfasst viele europäische Länder, auch südamerikanische und die USA. Insb. die konspirativ organisierten russischen Terroristen – zu denen Anarchisten, Sozialisten und Liberale (Liberalismus) gehörten – fanden durch ihre „Propaganda der Tat“ in Anschlägen auf die Zaren (Ermordung Alexanders II. 1881) und auf hohe Repräsentanten des Staates sowie durch ihre geschickte Selbstpräsentation vor Gericht eine breite öffentliche Aufmerksamkeit und Zustimmung. Bis lange ins 20. Jh. hinein wurde A.ismus und Terror in der Perzeption häufig gleichgesetzt. Bestätigung fand dieses Stereotyp bei anarchistischen Agitatoren wie Johannes Most, der zum gewaltsamen Kampf gegen Bourgeoisie und Staat, gegen die „Eigentumsbestie“ und gegen die „Gottespest“ aufrief und ein Büchlein zur „Revolutionären Kriegswissenschaft“ verfasste, wo er die Herstellung von Dynamitbomben und Giftmischungen detailliert beschrieb.

Von „A.ismus“ wird perspektivisch unterschiedlich gesprochen: als Selbstbezeichnung von Einzelnen und Gruppen, und als Fremdbezeichnung, die diesen von anderen zugesprochen wird. Die Rede kann neutral beschreiben und analysieren. Dazu gehört die Thematisierung der anarchistischen Bewegung in ideengeschichtlicher, geistes- und sozialwissenschaftlicher Hinsicht, wie sie Anfang des 20. Jh. begann. Paul Eltzbacher und Max Nettlau seien als Pioniere exemplarisch genannt. Oftmals wird das Wort A.ismus in wertender und polemischer Weise gebraucht – dann nämlich, wenn das Kampffeld der Politik betreten wird, wo der A.ismus in Konkurrenz zu sozialistischen, liberalen, konservativen Positionierungen tritt. Sprecher identifizieren sich affirmativ mit dem Begriff. Oder sie verstehen das Anarchische abwertend als zersetzende Bedrohung sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Ordnung oder auch nur – wie bei vielen Marxisten – als falschen, nämlich staatslosen, Weg zum gemeinsamen kommunistischen Ziel.

Expliziter Wortgebrauch und inhaltliche Begriffsbildung legen es nahe, den A.ismus v. a. in der neuzeitlichen und modernen Ideengeschichte und Politik zu verorten. Dazu unten mehr. In phänomenaler Hinsicht lohnt es sich freilich, den Blick retrospektiv auch auf vormoderne Phänomene anarchistischer Art zu richten. So lassen sich mögliche geschichtliche Parallelen und Lineaturen erfassen. Die Spur reicht zurück ins Mittelalter, wo Norman Cohn bei chiliastisch inspirierten religiösen Gruppierungen in Europa mystisch-anarchistische Lebensformen entdeckte – Phänomene, die Karl Mannheim in seinen Untersuchungen zum historischen Zeitbewusstsein in „Ideologie und Utopie“ erforschte. James Webb gab die Linie zu erwägen, die sich von den Diggers des 17. Jh. und ihrem Anführer Gerrard Winstanley zu den Diggers der 60er-Jahre des 20. Jh. zieht. In der Antike wäre zu nennen der Stoiker Zenon von Kition. Solche kulturgeschichtlichen Blickweisen bleiben in der heutigen sozialwissenschaftlichen Perspektive eher unterbelichtet.

2. Anarchismus: Ein begrifflicher Kern, mehrere Typen

Leitschnur und Grundnorm des A.ismus ist die Freiheit. „Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft.“ (Mühsam 1978: 255) Gemeint ist die Freiheit des menschlichen Individuums. Sie schließt keinen Menschen aus, ist also gleiche Freiheit. Am naheliegendsten wird diese negativ verstanden, als Freiheit von Beherrschung durch Obrigkeiten, vom Gehorchenmüssen, von Überwachung und Kontrolle, überhaupt von jedem äußeren Zwang durch Menschen, kurz: Freiheit als Unabhängigkeit. Komplementär zur negativen Freiheit stellt sich die Frage nach der Freiheit zu …, nach ihrem positiven Gehalt. Freiheit bedeutet externalistisch einen möglichst großen Bewegungsspielraum, internalistisch die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit aus sich selbst heraus, philosophisch-modern: Subjektivität. Sie führt nicht zur Gleichmacherei, sondern zur Unterschiedlichkeit der Individuen in ihren pluralen Eigenschaften, Fähigkeiten, Lebensentwürfen und Sinnvorstellungen. Im libertären A.ismus ist das Prinzip der Self-Ownership zentral bedeutsam, das zum ersten Mal – ebenfalls mit Blick auf Freiheit – von J. Locke formuliert wurde: der Einzelne als „master of himself, and proprietor of his own person, and the actions or labour of it“ (Locke 1690: § 44).

Zwei weitere Werte sind substantiell bedeutsam. Zum einen die Gerechtigkeit, die als normative Grundorientierung die erste Theorie eines individualistischen A.ismus leitet, William Godwins „An Enquiry Concerning Political Justice“ von 1793. Ferner die immer wieder beschworene Solidarität: zwischen den Anarchisten selbst, aber auch in der angestrebten optimalen Gesellschaft freier Individuen. Pierre-Joseph Proudhon entwickelt dazu seine Theorie des „Mutualismus“, der gegenseitigen Unterstützung von genossenschaftlich verbundenen Einzelnen und Gruppen. Pjotr A. Kropotkin verbindet die Entwicklung des Menschen mit derjenigen der Natur, indem er eine Evolutionstheorie der Hilfsbereitschaft formuliert.

Seit dem frühen 20. Jh. wird das Feld des A.ismus in klassifikatorischen Einteilungen und Registern erfasst. Deren hauptsächliche Trenn- und Problemlinie verläuft zwischen Kollektivismus (nur als Beispiele für viele: P.-J. Proudhon, M. Bakunin, P. A. Kropotkin) inkl. dem Extrem des Kommunismus einerseits und dem Individualismus (z. B. W. Godwin, Max Stirner) inkl. den Libertarians andererseits. Beides völlig zusammenzubringen, hieße die Quadratur des Kreises zu lösen. Dies gelingt nur unter zwei Bedingungen. Zum ersten als ekstatisches rauschhaftes Einswerden in einem kairosartigen Moment, wo die Zeit stillzustehen scheint und alle Gegensätze in einem totalen unmittelbaren Erleben aufgehen. Gustav Landauer, der den Sozialismus als Mittel zum Erreichen des anarchistischen Ziels betrachtet, beschreibt dieses revolutionäre Geschehen (Revolution) als konkrete Utopie, die allerdings schnell wieder von den alltäglichen Zwängen eingeholt werde (letzteres bezeichnet er in seinem Buch „Die Revolution“ als „Topie“). Die zweite Bedingung ist utopisch in dem Sinne, dass das Einswerden von Kollektiv und Individuum ein reiner Traum ist und bleibt. Der kommunistischen Gesellschaft (Kommunismus) liegt implizit die Annahme eines „neuen Menschen“ zugrunde, welcher den normalmenschlichen Egoismus in einer geradezu quasireligiösen Anstrengung auf eine neue mitmenschliche Humanität hin überwindet. Kommunistische Heroen singen das Lied von diesem „neuen“ Menschen – der zu Zwangsmaßnahmen und Unterdrückung greift, wenn „alte“ Menschen sich nicht entsprechend erneuern (lassen). Die Problematik ist bereits bei J.-J. Rousseau zu besichtigen, dessen Kollektivkörper Umerziehung bis hin zur tödlichen Sanktionierung für egoistische Dissidenten vorsieht, die sich dem Gemeinwillen nicht fügen wollen. Spätestens hier, an diesem paradoxen Punkt, muss der konsequente Anarchist einschreiten, landet das ganze Denkexperiment doch in jener Unfreiheit, die es zu beseitigen gilt.

Von anderem Kaliber ist die Vision von einem sowohl kommunistischen als auch individuell-libertären Zusammenleben, die Charles Fourier in seinen fiktiven Mustersiedlungen (Phalansterien) beschrieb. Nur scheinbar realistisch erdenkt C. Fourier detaillierte Planskizzen einer staatsfreien, sich selbst organisierenden Gesellschaft, deren Individuen ihr jeweiliges Glück, sprich die maximale Befriedigung ihrer Begierden, durch die Bildung von ständig variierenden leidenschaftlichen Serien realisieren. In nimmermüder Dynamik entstehen die drei sozial-individuellen Hauptordnungen der Arbeitswelt, der gastronomischen Genusswelt und einer Liebeswelt mit freier Sexualität. Die Logik dieser maximalen Leidenschaftsbefriedigung ist eine kombinatorische und basiert auf dem Prinzip, dass die möglichst ungehemmte Bewegung der lustsuchenden Individuen gerade in der Ungleichheit ihrer Fülle einen gesamtgesellschaftlichen Reichtum schafft. C. Fourier wird bis heute als Frühsozialist zu den Vorläufern von Karl Marx und Friedrich Engels gezählt, was allerdings problematisch ist. Denn C. Fourier kann mit gleichem Recht als libertärer Anarchist wahrgenommen werden.

Der individualistische oder libertäre A.ismus, dessen radikalster Autor M. Stirner ist, hat sich im 19. und 20. Jh. v. a. im angloamerikanischen Bereich entwickelt. Ohne einen quasimetaphysischen „neuen Menschen“ oder eine Fouriersche Selbstorganisationsmaschine erfinden zu müssen, wird das Individuum zur absoluten Letztinstanz. Es ist Souverän in eigener Sache, der gegenüber alles Allgemeine und dessen institutionalisierte Ordnungen ideologiekritisch als bloße Illusionen erledigt werden. Das „Eigentum“ des Individuums, verstanden als dessen „Eigentümliches“, tritt an die Stelle von Staat, Gesetz, Moral etc. Schon bei J. Locke tritt das Eigentum in eine substantielle Verbindung zum Individuum, indem ein „natürliches“, vorstaatliches Eigentumsrecht allein aus der individuellen Arbeitsleistung und aus der durch sie ermöglichten Aneignung abgeleitet wird. Auf individueller Arbeit basierend, ist das Eigentum notwendig Privateigentum. Arbeit bringt dem Menschen eine spezifische Freiheitserfahrung: Indem er die Natur bearbeitet, eignet er sich eine ganze Welt an. In einer frühen Arbeitswerttheorie ist es die investierte Arbeit, die den damit angeeigneten oder erzeugten Dingen ihren Wert gibt. Vor diesem Hintergrund, der im Prinzip der Self-Ownership seinen konzentriertesten Ausdruck findet, ist der hervorgehobene Stellenwert des Privateigentums zu sehen, der für große Teile des libertären Denkens bis heute maßgebend ist. Das Prinzip erhält eine dynamische Dimension, indem im kapitalistischen Wirtschaften (Kapitalismus) sowohl die Arbeitsleistung als auch die Aneignung von Welt eine ungeahnte Ausweitung und Steigerung erfahren.

An diesem Punkt setzt der Anarchokapitalismus an, als dessen Hauptvertreter Murray N. Rothbard gelten kann. Erstrebt wird eine staatslose Gesellschaft der legitimen Privateigentümer, die sich durch freiwillige Verträge (Vertrag) auf einem freien Markt miteinander arrangieren und somit den Staat überflüssig machen, der sie durch Steuern (Steuer) ihres Eigentums beraube, sie in seinen Schulen (Schule) einer öffentlichen Zwangserziehung unterwerfe und durch sein Strafsystem sowie seine Armee gewaltsam in Knechtschaft halte. Diese scharfe Kritik, welche die spätantike Identifizierung des Staates mit einer Räuberbande wiederbelebt, wirft die Frage auf, wie denn überhaupt der freie Markt und seine individuell ihr Eigentum akkumulierenden Akteure die staatlichen Aufgaben ersetzen oder sogar verbessern sollten. In diesem Zusammenhang liefert das 1974 erschienene Buch „Anarchy, State, and Utopia“ von Robert Nozick eine theoretische Reflexion, die in ihrer pointierten Einseitigkeit das Problem deutlich macht. Ausgehend von einer vorstaatlichen A. à la J. Locke, in der souveräne, sich selbst gehörende Eigentümer gerechtes Eigentum durch Arbeit und Tausch erwerben und mehren, wird die Sicherung des Privateigentums in einer fiktiven rationalen Rekonstruktion durch Security-Unternehmen gewährleistet. In der Evolution dieses Marktprozesses – von R. Nozick in Anlehnung an die neuzeitlichen Kontraktualisten als „Vertrag“ (Vertragstheorien) bezeichnet – setzt sich mit der Zeit das Monopol eines einzigen Dienstleisters durch, der durch sein Gewaltmonopol Schutz und Sicherheit gewährt. Diesem „Minimalstaat“ (Minarchie) – den Wilhelm von Humboldt in seinen vermutlich 1792 entstandenen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ schon vorweggenommen hat – fehlen freilich wichtige Politikfelder, die im heutigen Verständnis zumindest von westlicher Politik essentiell sind. Wenn der Sozial-, Wohlfahrts-, und Vorsorgestaat nicht mehr vorhanden ist, stellt sich die Frage, wie seine Funktionen gleichwohl realisiert werden können. Wenn es die Schwachen und Hilfsbedürftigen selbst nicht können, dann bleiben in der minarchischen Gesellschaft nur noch die einzelnen Selbsteigentümer, um allein oder durch vertragliche Kooperativen freiwillig die Lücke zu füllen – das utopische Pendant zum Minimalstaat.

3. Das „Anarchische“ heute denken?

Die Tradition anarchischen Denkens zeigt in vielem eine ins „Große“ strebende Theorie, einen totalen A.ismus. Ihm entspräche die „große Operation“ einer Revolutionierung der Gesellschaft einschließlich der Beseitigung des Staates und seiner Institutionen (Institution). Diese Projekte enden in der bloßen Utopie, die nicht konkret werden will. Demgegenüber versuchen partielle Anarchismen in pluralen Ausprägungen und mitunter kurzer Lebensdauer, mit einem bescheideneren Anspruch wirksamer zu sein. Statt des utopischen Wunsches, den ganzen Raum staatlicher Herrschaft anarchisch zu kolonisieren, beschränkt man sich darauf, begrenzte Räume auf unterschiedliche Zeitdauer zu erschließen. Dazu gehören die Gründung lokaler Kommunen und Kooperativen, aber auch regionale Bündnisse produktions- und konsumökonomischer, gewerkschaftlicher (Syndikalismus) und weltanschaulicher Art, die nach innen anarchisch verfasst sind, doch in einer etatistischen Außenwelt existieren. Ergänzend zu dieser Schaffung anarchischer Orte innerhalb einer archischen Topologie von Politik und Gesellschaft versucht ein pragmatischer A.ismus (Colin Ward, April Carter), seine Ideen einer freiheitlicheren Sozialität innerhalb des bestehenden Staates zu realisieren und diesem damit Momente einer direkten Demokratie – bspw. Bürgerinitiativen zu unterschiedlichsten stadtplanerischen, erzieherischen etc. Problemen – zu implementieren.

Um politische Wirkungen zu erzeugen, werden unterschiedliche taktische Mittel genutzt. Das operative Spektrum reicht vom Einsatz von Druckmedien (Bücher, Zeitschriften, Pamphlete, Plakate) über die Nutzung sozialer Medien (Social Media) bis zur direkten Aktion konkreter Widerständigkeit, die je nach Situation und Ziel unterschiedlich ausfällt: Demonstrationen, Sit-ins, Streik (Arbeitskampf), Nichtkooperation, Dienst nach Vorschrift, Häuserbesetzungen, der Straßenkampf sog.er autonomer Gruppen und das weite Feld des zivilen Ungehorsams (Civil Disobedience, von Henry D. Thoreau schon im 19. Jh. praktiziert und propagiert). Gezielt eingesetzte Provokationen und symbolische Aktionen durch Aktivisten unterschiedlichster Provenienz, in die sich anarchische Momente mischen können, haben neuerdings Konjunktur. Dabei bleibt es bei der plakativen Signalwirkung. Der revoltierende Impetus wird in der modernen Mediengesellschaft systemisch vereinnahmt und wirkungslos gemacht. Ob man die Vielzahl kleiner Gruppen mit ihrem ständigen Werden und Vergehen, mit ihren linken wie rechten, feministischen (Feminismus) und ökologischen Selbstdefinitionen und Motivationen überhaupt unter den Begriff Neo-A.ismus subsumieren kann, ist zu bezweifeln, zumal das Anarchische als eher beiläufiges Moment erscheint und eine Anknüpfung an den Fundus des klassischen A.ismus nicht erfolgt.

Aus diesem Fundus stammt M. Stirners Buch „Der Einzige und sein Eigentum“ dessen radikale Sprengkraft es auch in Zeiten postmodernen Denkens (Postmoderne) aktuell macht. Die egoistische absolute Souveränität und Freiheit des Ich dekonstruiert die despotischen Instanzen wie Staat, Volk, Recht, Gesetz, Moral und Religion als bloß illusionäre „fixe Ideen“ (Stirner 1981: 46), „Spuk“ (Stirner 1981: 42) und „Gespenster“ (Stirner 1981: 43 ff.). Diese Zerstörungsarbeit richtet sich darüber hinaus gegen die allg.en Wesensbegriffe wie „Menschheit“ (Stirner 1981: 232) oder „moralische Person“ (Stirner 1981: 231), in denen sich das Ich wie in einem Bild zu spiegeln sucht. Befreit von all diesen „Gespenstern“, bleibt nur noch das Ich allein zurück, was der Schlusssatz des Buches auf den Punkt bringt: „Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt.“ (Stirner 1981: 412) Der individualistische A.ismus erweist sich in letzter Konsequenz als Nihilismus, der wiederum – in einer Neuaufwertung des individuellen Willens und seiner Entscheidung – neue Wege anarchischer Existenz eröffnet. Der dunkelste Weg ist der nihilistische Terror, der das individuelle Leben bedenken- und sinnlos dem Allgemeinen irgendwelcher abstrakter Begriffe opfert. Ein Protest dagegen findet sich in der permanenten Revolte à la Albert Camus, die der Absurdität des Daseins mit einer Hinwendung zum je Anderen antwortet. „Ich revoltiere, also bin ich. Ich empöre mich, also sind wir.“ ist sein Leitspruch. Ein von der Aktivität ins Nichthandeln wechselnder Weg wird in Ernst Jüngers fiktiver Stadt „Eumeswil“ an der Gestalt des „Anarchen“ beschrieben: Er kultiviert die in jedem Menschen liegende A. durch Selbstbeherrschung, lässt sich – im Gegensatz zum Anarchisten – auf das politische Spiel von Herrschaft und Gegenherrschaft nicht ein, hütet sich vor innerer Teilnahme, befolgt aber die äußerlichen Regeln. Seine Distanz entspricht der Selbstsorge in dürftiger Zeit.