Nihilismus

1. Wortbedeutung und Begriff

Der Begriff N. ist sprachlich abgeleitet aus dem lateinischen nihil „nichts“ oder nihilum „Nichts“. Die Bedeutung des Begriffs ist in der Geschichte der Philosophie vieldeutig und wurde hier zur Charakterisierung unterschiedlicher Strömungen in unterschiedlicher Absicht gebraucht: Theistische Denker wie etwa Friedrich Heinrich Jacobi bezeichneten die Philosophie Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes als nihilistisch, da sie seiner Kritik zufolge die Realität der Wirklichkeit leugneten. Georg Wilhelm Friedrich Hegel verwendet den Begriff N. zur Beschreibung der Aufgabe, „das absolute Nichts zu erkennen“ (Hegel 1968: 398), das ihm zufolge zugleich die „absolute Mitte“ (Hegel 1968: 387) Gottes sei, dem kein einfaches „Für-sich-Bestehen“ (Hegel 1958: 409) zukomme. Prominent wird der Begriff bei den Gegnern der idealistischen Philosophie aus unterschiedlichen Motiven, sei es, um der Philosophie des Idealismus einen geheimen Anti-Theismus vorzuwerfen, wie z. B. bei Franz von Baader, sei es, wie bei den Linkshegelianern, eine Position des Atheismus zu beziehen. Bis in die Gegenwart wirkt der weltanschauliche N. über die Verwendung des Begriffs bei Friedrich Nietzsche, bei Martin Heidegger und in der Philosophie Walter Benjamins.

2. Der Nihilismus bei F. Nietzsche

In einem nachgelassenen Fragment vom Sommerhalbjahr 1888 vermerkt F. Nietzsche: „Für einen Kriegsmann der Erkenntniß, der immer im Kampf mit häßlichen Wahrheiten liegt, ist der Glaube, daß es gar keine Wahrheiten giebt, ein großes Bad und Gliederstrecken. – Der Nihilismus ist unsre Art Müßiggang …“ (Nietzsche 1972: 287). Welch eine Erleichterung spricht aus diesen Zeilen! Endlich sein Leben in die eigene Hand nehmen zu können, um es ohne jede Rücksicht auf religiöse Bindungen oder moralische Gesetze von der Geburt bis zum Tod selbst zu bestimmen – darin scheint sich ein langgehegter Wunschtraum der Menschheit zu erfüllen. „Der Kampf gegen den ‚alten Glauben‘, wie ihn Epicur unternahm, war, im strengen Sinne, der Kampf gegen das präexistente Christenthum, – der Kampf gegen die bereits verdüsterte, vermoralisirte mit Schuldgefühlen durchsäuerte alt und krank gewordene Welt“ (Nietzsche 1972: 282). Ihn nimmt F. Nietzsche wieder auf, gemäß einer Aufzeichnung von Sommer/Herbst 1884, unter Verweis auf „die Naivetät Plato’s und des Christenthums: sie glaubten, zu wissen, was ‚gut‘ ist. Sie hatten den Heerden-Menschen errathen, – nicht den schaffenden Künstler. Schon bei Plato ist der ‚Heiland‘, der zu den Leidenden und Schlechten niedersteigt, erfunden. Er hat keinen Blick für die Vernunft und Nothwendigkeit des Bösen“ (Nietzsche 1974a: 241).

Kein Irrationalismus also, kein bloßer Unglaube, wie ihn auch frühere Epochen kannten, spricht aus F. Nietzsches Wendung gegen das Christentum, das sich „auf diese platonische niaiserie“ habe „taufen lassen: das war bisher der größte Anlaß für die Unfreiheit in Europa“ (Nietzsche 1974a: 242). Die Freiheit, wie sie F. Nietzsche versteht, bedeutet nicht nur eine Lossage von der christlichen Schöpfungs- und Erlösungsordnung, sondern nicht weniger eine Absage an die Grundlegung menschlicher Vernunft (Vernunft – Verstand) durch allgemeine ethische Prinzipien im Vernunftdenken von Platon bis I. Kant. Nicht Selbstbegründung, sondern Selbstübersteigerung bildet die Grundlage seines Denkens, wie den Notizen zu entnehmen ist, die dem obigen Zitat vorangehen:

„Moral ist vernichtet: factum darstellen! Es bleibt übrig: ‚ich will‘“; und weiter: „die höchste Verantwortlichkeit – mein Stolz!“ „Heraufbeschwören des Bösesten.“ Bezeichnenderweise steht vorab: „Gebet um Blindheit“ (Nietzsche 1974a: 241).

3. Der Nihilismus bei M. Heidegger

Dem blinden Seher sollten die Augen geöffnet werden. In seinen letzten Aufzeichnungen vor seiner geistigen Umnachtung, in dem Pamphlet „Todkrieg dem Hause Hohenzollern“ (Nietzsche 1972: 457–458), mit wütenden Ausfällen gegen Wilhelm II., Otto von Bismarck und Friedrich den Großen, und „Letzte Erwägung“ (Nietzsche 1972: 458–461) sieht F. Nietzsche die Katastrophe des Ersten Weltkriegs heraufziehen, als trennten von ihr 25 Tage, nicht 25 Jahre. Dabei beantwortet er selbstredend die Frage, „was mir ‚die Welt‘ ist“ (Juni/Juli 1885): „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem“ (Nietzsche 1974b: 339). Und erläutert wenig später unter dem Stichwort „Der Wille zur Macht“: „– ein großer Mensch, der ein Recht dazu fühlt, Menschen zu opfern wie ein Feldherr Menschen opfert; nicht im Dienste einer ‚Idee‘, sondern weil er herrschen will“ (Nietzsche 1974c: 37). Nichts anderes aber ist im folgenden Jh. im großen Maßstab geschehen, in einem wahren „Höllensturz. Europa 1914 bis 1949“, wie der britische Historiker Ian Kershaw sein Epochenbild (2016) überschrieben hat. Hier sollte sich erfüllen, was sein Landsmann John Henry Newman eher beiläufig in einem Brief an Sr. Maria Pia vom 3.7.1882 vermerkt: „Die nächste und übernächste Generation nach uns werden eine furchtbare Zeit erleben. Der Teufel ist losgelassen. Möchten wir vor jenem Tage alle geborgen sein“ (Newman 1957: 718). Wohlgemerkt ist – nicht: wird. Notiert doch bereits F. Nietzsche in der Einleitung zum Konzept einer Abhandlung „Der Spiegel. Philosophie des verbotenen Wissens“ aus dem Zeitraum Herbst 1885/Frühjahr 1886: „Gott ist widerlegt, der Teufel nicht. Für hellsichtige und mißtrauische Augen, welche tief genug in die Hintergründe zu blicken wissen, ist das Schauspiel des Geschehens kein Zeugniß weder von Wahrhaftigkeit noch väterlicher Fürsorge oder überlegener Vernünftigkeit; weder etwas Vornehmes, noch etwas Reines und Treuherziges“ (Nietzsche 1974c: 32). Dem entspr. sein vielgerühmtes perspektivisches Denken, wie F. Nietzsche in dem anschließenden Konzept „Der Versucher“ (Nietzsche 1974c: 33–35) ausführt angesichts der „Harmlosigkeit unserer kritischen Philosophen“: „Die unbedingte Nothwendigkeit alles Geschehens enthält nichts von einem Zwange: der steht hoch in der Erkenntniß, der das gründlich eingesehn und eingefühlt hat. Aus seinem Glauben ergiebt sich kein Verzeihen und Entschuldigen – ich streiche einen Satz durch, der mir mißrathen ist, so gut ich die Nothwendigkeit einsehe, vermöge deren er mir mißrieth, denn der Lärm eines Karrens störte mich – so streichen wir Handlungen, unter Umständen Menschen durch, weil sie mißrathen sind. ‚Alles begreifen‘ – das hieße alle perspektivischen Verhältnisse aufheben das hieße nichts begreifen, das Wesen des Erkennenden verkennen“ (Nietzsche 1974c: 33).

Was bei F. Nietzsche Konzept blieb, hat der in seinem sogenannten Wahnsinnsjahr geborene M. Heidegger in seiner Deutung des „Seyns“ ins Werk gesetzt. So heißt es in seinem sogenannten zweiten Hauptwerk „Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis“ (Heidegger 2003) aus den Jahren 1936–38, das erst posthum 1989 zu seinem 100. Geburtstag erschien: „Alle ‚Inhalte‘ und ‚Meinungen‘ und ‚Wege‘ im Besonderen des ersten Versuchs von ‚Sein und Zeit‘ sind zufällig und können verschwinden.“ – „Aber bleiben muß der Ausgriff in den Zeit-Spiel-Raum des Seyns. Dieser Ausgriff ergreift jeden, der stark genug geworden, die ersten Entscheidungen zu durchdenken, in deren Bereich mit dem Zeitalter, dem wir eingeeignet bleiben, ein wissender Ernst zusammentaugt, der sich nicht mehr stößt an gut und schlecht, an Verfall und Rettung der Überlieferung, an Gutmütigkeit und Gewalttat, der nur sieht und faßt, was ist, um aus diesem Seienden, darin das Unwesen waltet als ein Wesentliches, in das Seyn hinauszuhelfen und die Geschichte in ihren eigenwüchsigen Grund zu bringen“ (Heidegger 2003: 244 f.).

4. Der Nihilismus der Gegenwart

In jenen Jahren sollte sich Franz Kafkas Diktum bewahrheiten, es gebe nichts Teuflischeres als das, was ist. So erklärt sich M. Heideggers stillschweigende Rücknahme seiner Seinsdeutung, als die Geschichte einen anderen Lauf nimmt als den (vor-)gedachten; lapidar heißt es (1947/48) im Bd. 4 seiner Schwarzen Hefte: „Im Ereignis geschieht nichts. Hier ist kein Geschehen mehr; auch kein Geschick; denn auch die Schickung west noch aus dem Gegenüber. Im Ereignis ist das Wesen der Geschichte verlassen. Die Rede von der Seynsgeschichte ist eine Verlegenheit und ein Euphemismus“ (Heidegger 2015: 382). So lautet das Vermächtnis eines Denkens, das sich ganz dem Unwesen seiner Zeit verschrieben hat. Jahre später hat es Samuel Barclay Beckett im „Namenlosen“ (Beckett 1976) auf den Punkt gebracht: „Bleiben wir in der Familie, das ist intimer, man kennt sich, man braucht keine Überraschungen zu befürchten, man hat das Testament gesehen, nichts für niemanden“ (Beckett 1976: 511). Immerhin räumt M. Heidegger in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1948 ein: „Je wesentlicher ein Denken ist, umso weniger kann es wissen, welche geschickhafte Bestimmung und Entfaltung ihm vorbehalten ist. Vermutlich ist gerade das, was es von sich und mit sich will, irrig“ (Heidegger 2015: 505). Nicht einfach einem Irrtum, der sich berichtigen ließe, ist der Seinsdenker erlegen als vielmehr einer diabolischen Irreführung, die nur wenige durchschauen. Obschon sonst eher zurückhaltend in theologischer Hinsicht, vermerkt M. Heidegger unter dem Stichwort „Wissenschaft. – Vermutlich weiß der Teufel mehr als alle Forscher; und bleibt doch ein Teufel“ (Heidegger 2015: 473). Denn nicht allein die Wissenschaft besitzt Methode; nicht weniger methodisch verfahren die Mächte der Selbstzerstörung und des Untergangs. So beschließt W. Benjamin sein „Theologisch-politisches Fragment“ (Benjamin 1991a; ca. 1920/21), das zunächst den Vorrang des Messias v. a. historischen Geschehen (Geschichte, Geschichtsphilosophie) bekundet, mit Blick auf eine gegenläufige Bewegung, auf „eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Unterganges führt“ und die Natur mit sich reißt: „Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis. [–] Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat“ (Benjamin 1991a: 204).

Nichts anderes aber ist geschehen in den Jahren zuvor und in den folgenden Dezennien. Erkannte W. Benjamin sein „Passagen-Werk“ (Benjamin 1991b) zunächst als „Versuch, das neunzehnte Jahrhundert so durchaus positiv anzusehen wie ich in der Trauerspielarbeit das siebzehnte mich zu sehen bemühte“ (Benjamin 1991b: 571), so gilt ihm gut 100 Seiten später: „Das ‚Moderne‘ die Zeit der Hölle. […] Die Totalität der Züge zu bestimmen, in denen das ‚Moderne‘ sich ausprägt, hieße die Hölle darstellen“ (Benjamin 1991b: 676). Dabei stand der Höllensturz noch aus, in dem eine „Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat“, kulminieren sollte: fürwahr kein „großes Bad und Gliederstrecken“, sondern Untergang und Prokrustesbett.