Volkskunde

1. Allgemein

Die V. ist eine seit dem frühen 20. Jh. etablierte Fachwissenschaft, die sich heute als historisch argumentierende, empirische Kulturforschung und dabei sehr stark als Europäische Ethnologie versteht. Zu ihren Dachorganisationen gehört die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde. Als Kulturwissenschaft des Alltags gibt die V. Einsichten in die Vielfalt und Komplexität von Gesellschaften und Kulturen in Europa, in deren Prozesshaftigkeit und Dynamik. Kultur meint nicht einen festen Bestand an unveränderlichen Traditionen und Werten, der etwa geografisch oder national klar abgegrenzt ist. Vielmehr umschreibt er, wie Menschen, Gruppen, Gesellschaften miteinander umgehen, sich verständigen, organisieren, ihre Lebenswelten und Erfahrungsräume in spezifischen Handlungsrahmen gestalten. Der Untersuchungsraum beschränkt sich nicht mehr nur auf die deutschsprachigen Gebiete. Angesichts von Globalisierungsprozessen (Globalisierung), Digitalisierung, Mobilität und Transnationalisierung hat sich die Perspektive erweitert, ggf. über die Grenzen Europas hinaus.

Mit dem Volksparadigma der V. verbanden sich bereits in vorwissenschaftlichen Feldern Erkenntnisinteressen und volkskundliche Wissens- und Deutungsbestände, die seit dem späten 18. Jh. immer auch politisch-ideologisch durchdrungen waren. Die Instrumentalisierungen des Begriffes Volk und seiner Komposita durch die NS-Ideologie in einer Volkstumspflege und NS-V. führten in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zur Aufarbeitung und kontinuierlichen Dekonstruktion essentialistischer nationalistischer Mythisierungen von Volk, Volkstum, Volkskultur, Volkskunst, Gemeinschaft, Sitte und Brauch oder Ethnie. Diese Praxis gehört zum Selbstverständnis des „Vielnamenfaches“. V. kann damit jüngeren gesellschaftspolitischen Herausforderungen eines völkisch imprägnierten Populismus einen fundierten Wissensbestand entgegenstellen.

2. Begriff und Forschungsgeschichte

Die Wortverbindung Volks-Kunde wird gegen Ende des 18. Jh. greifbar in sich formierenden populären wie wissenschaftlichen Wissensfeldern, die nicht mehr von anthropos (Mensch) sondern von ethnos (Volk) abgeleitet sind: Ethnographie, Ethnologie, Völkerkunde und V. Letztere taucht im Umkreis von Statistik und Kameralwissenschaften (Kameralismus) als eine bevölkerungskundliche Verwaltungswissenschaft 1787 erstmals auf. Es geht um die Erkundung von „Denk- und Lebensart, Religion, Gewerbe und Sitten der Einwohner“ (Mader 1793: 51) oder die „physische Darstellung des Volkes“ und dessen Lebensweise unter „Volkssittenkunde“ (Niemann 1807: 232 f.). V. zielt auf „Land und Leute“, einem der Apodemik entlehnten Topos. Die frühste belegbare Begriffserwähnung stammt dann auch aus dem Hamburger Reisejournal „Der Reisende“ 1782. Die Wissensgeschichte vordisziplinärer Kulturforschung zeigt darüber hinaus die Ausbildung von ethnografischen Interessen mit Blick auf konkrete Lebensbedingungen und -praxen unterer Bevölkerungsschichten im Rahmen außeruniversitärer Diskussionen der Moralphilosophie oder des frühen transnationalen Genres der Gesellschaftsskizzen des „dokumentarischen Journalismus“ im frühen 19. Jh.

Im Kontext europäischer Nationenbildungsprozesse folgte die romantische Hinwendung zu sogenannter Volkspoesie, seit Johann Gottfried Herder ästhetisch verklärt über den Begriff „Volkslied“ (1771). Der „Volksseele“ entsprungen, wird „Volk“ personalisiert und in seiner kollektiven Kreativität stilisiert. In dieser findet sich die geeinte Sprach- und Kulturnation (Nation). Dieser Prozess wird am empirischen Befund der Liedüberlieferung als „Fund und Erfindung“ (Klusen 1969) charakterisierbar. Aus diesen Zusammenhängen rührt auch der international populär gewordene Begriff „folk-lore“ (Thoms 1846), ein Kunstwort, das über Folkloristik als Bereich nationaler Philologien und Ethnografien akademisch etabliert wurde.

Die Volkstums-Idee Friedrich Ludwig Jahns aus dem Jahr 1810 von der „Einungs- und Wiedererzeugungskraft eines Volkes“, sichtbar in Volkstracht, Volksfesten, „Volksthumsdenkmälern“ (Jahn 1810: 37), war noch virulent nach der Reichsgründung von 1871 und ihrer politischen Integrationskrise. Die praktische Umsetzung dieser Idee bestand in der Pflege und Förderung regionaler „Eigenart“ und „Volkskultur“ als Bestandteil nationalpolitischer Wünsche. Ludwig Achim von Arnim, Clemens Brentano, später Jacob und Wilhelm Grimm waren diesen Ideen verbunden. Auch Wilhelm Heinrich Riehls Konzept einer „Volkskunde als Wissenschaft“ (1858) war – ungeachtet ihrer empirisch-ethnografischen Ansätze – eine staatswissenschaftlich verstandene konservative Soziallehre mit weitreichendem Nachwirken von organologischen Deutungen der gesellschaftlich bedeutsamen Schlüsselbegriffe Stamm, Sprache, Sitte, Siedlung. Auf die zeitgenössische Fachentwicklung hatte er allerdings keinen nennenswerten Einfluss.

Nationale Sinnstiftung und die Bewältigung von krisenhaften Modernisierungserfahrungen (Modernisierung) bedingten die bürgerliche Formierung einer V. im vorwissenschaftlichen Terrain bürgerlicher Vereinigungen aus spezialisierten Akademikern und interessierten Laien mit Museums- und Archivgründungen (Museum, Archive). So war Rudolf Virchow an der Gründung des Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes 1889 in Berlin (Königliche Sammlung für Deutsche Volkskunde [1904], heute: Museum Europäischer Kulturen) beteiligt. Mit wachsenden Sammeltätigkeiten und zunehmender Musealisierung entwickelte sich alsbald eine spezifisch volkskundliche Darstellungsästhetik (Stuben- und Arbeitsszenerien, tableaux vivants mit einer Ausstattung von sogenannter Volkskunst). Die V.-Vereine mit Fachorganen organisierten sich in dem 1904 gegründeten Verband der Vereine für Volkskunde.

Nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich V. als eigenständige Disziplin an Universitäten. 1919 wurde an der Universität Hamburg der erste Lehrstuhl für V. in Deutschland besetzt, in Prag an der Karl-Ferdinands-Universität die Professur für „Volkskunde, deutsche Sprache und Literatur“. Für die Professionalisierung der V. war insb. die Zeit „vor und zwischen den Weltkriegen“ (Köstlin 2011) prägend. Als Teil einer internationalen vergleichenden folkloristischen, ethnologischen Forschung entstanden Projekte wie die Volksliedarchive in Wien 1904, in Freiburg im Breisgau 1914 (Zentrum für Populäre Kultur und Musik [2014]) das „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ (Bächtold-Stäubli/Hoffmann-Krayer, 10 Bde., 1927–42), die „internationale volkskundlichen Bibliographie“ (1917) und der „Atlas der deutschen Volkskunde“ (1928–39, 1956–84). Sie prägten lange das Fachprofil.

Im Umfeld konservativer Sozialbewegungen wurde V. als „Pflege- und Bewahrungspolitik“ (Kaschuba 2012: 104) v. a. von Lehrern und Pfarrern praxisorientiert zur Volksbildung und -erziehung als populäre Heimatkunde betrieben. An den Vorstellungen traditionsverbundener, in sich abgeschlossener und gesellschaftlich stabiler, bes. ländlicher Welten sowie an der Ausbildung von schillernden Regionalismen und Nationalismen war V. mitbeteiligt.

Die völkische Bewegung, seit Mitte der 1890er Jahre sich formierend, konnte hier mit ihrer kultur- und zivilisationskritischen Haltung (Kulturkritik) anknüpfen, zumal in den 1920er Jahren im Zusammenhang mit einer etablierten Volkstumsideologie, der Vorstellung von deckungsgleichen Stammes- und Kulturräumen, entlang einer Suche nach Ursprung und Ursinn, auch – unter Rückgriff auf die Mythologie der Grimms – mit Kontinuitätspostulaten germanischer Traditionen. V. wurde damit auch anschlussfähig für den Nationalsozialismus. Er verband die volkskundlichen Wissens- und Deutungsbestände mit seiner biologistischen Rassenideologie (Rassismus). Volk und Volkstum wurden als Kampfbegriffe in einer angewandten NS-V. im staatlichen Machtapparat institutionalisiert (Forschung- und Lehrgemeinschaft Das Ahnenerbe der SS, Amt Rosenberg).

Die „Münchner Schule“ als volkskundliche Forschungsrichtung (Hans Moser, Karl-Sigismund Kramer) distanzierte sich nach 1945 in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von der mythologischen Altlast durch eine strikt quellenkritische, archivalisch-empirische Forschung. „Volksleben“ wird hier lokalisiert und historisiert, in soziale Konstellationen eingebunden und verortet. Dennoch blieb V. bis in die 1960er Jahre von den ideologischen Aufladungen des Volksbegriffes behaftet. Ideologiekritik und sozialwissenschaftlich-kulturanthropologische Perspektiven führten – nach Diskussionen um die Standortbestimmung des Faches (Falkensteiner Protokolle 1970) – anschließend zu einem Paradigmenwechsel mit dem „Abschied vom Volksleben“ und mit einem programmatischen Forschungsinteresse für die „kulturelle Seite gesellschaftlichen Lebens“ (Bausinger 1978: 14) sowie für die „Sozialgeschichte regionaler Kultur“ (Brückner 1987: 125).

Bräuche wurden bspw. von der Herkunftsfrage gelöst, als zeitgenössische Ausdrucksweisen von Gruppen, als Freizeitgestaltung, oder Formen medialer Vermarktung und sogenannte Volklieder als populärkulturelle Phänomene (Populärkultur) zusammen mit moderner Unterhaltungsmusik untersucht. An die Stelle von Vertriebenen-V. (als Traditionspflege zur Identitätsstabilisierung) trat die Migrationsforschung, die politische Zusammenhänge von Integrationsstrategien der Flüchtlingsgruppen und von sozialen Praxen der Beheimatung aufzeigte. Mit diesen Perspektiven entwickelt sich V. zur historisch argumentierenden Gegenwartswissenschaft, wenngleich das „Volksparadigma“ modifiziert als „kleine Leute“ oder in den Konzepten von „populärer Kultur“, „ländlicher Kultur“, „Arbeiterkultur“ oder „Volkskultur“, von „breiten Bevölkerungsschichten“, „unteren Schichten“ und „städtischen Kulturen“ mitschwang (Kaschuba 2012: 105).

Angesichts komplexer Gesellschaften und globaler Vernetzung richtet sich heute der Blick auf vielfältige gesellschaftliche Felder, auf soziale Ordnungen und Machtverhältnisse, auf die Diversität von Erfahrungsformen und Wahrnehmungsdimensionen, auf soziokulturelle Praxen und Handlungsmuster in ihrer lokalen Einbettung wie in globalen Kontexten.

3. Methodenrepertoire, Forschungsfelder, Themen

Das methodische Repertoire des Fachs hat sich den veränderten Bedingungen angepasst. Die Disziplin zielt nicht auf eine vordergründige Beschreibung sozialer Praxis, sondern auf das Verstehen und Erklären der Sinnhorizonte und Handlungszusammenhänge im Zusammenspiel mit sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Bedeutungsbezügen sowie deren Wandel. Kleine Untersuchungsfelder, methodenpluraler Zugang, qualitative Datengenerierung über Feldforschung, Auswertung textueller, visueller und materieller Quellen, emische Sicht, hermeneutisch-interpretatives Vorgehen und eine Vielfalt theoretischer Bezüge als sensibilisierende Konzepte für die analytische Erschließung der Datenkorpora sind kennzeichnend.

Etablierte Forschungsfelder sind u. a. Erzählforschung, Sachkulturforschung (Dinge materieller Kulturen), audio-visuelle Anthropologie, Ethnografie politischer Felder, Populärkultur- und Massenkulturforschung im eigentlichen Sinne von Alltagsleben und -handeln, Stadtforschung und Kulturanalyse des Ländlichen, empirische Religionsforschung, Forschungen zu Mobilitätsregimen, Digitalisierung oder Arbeitskulturen. Die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der V., also eine „Ethnographie der Ethnologie“ (Clifford 1986: 7), haben Konstruktions-, und Verfremdungsprozesse während des wissenschaftlichen Be-Schreibens und der Interpretation anderer Vergesellschaftungs- und Lebensformen aufgezeigt. So gehört z. B. Ethnizität zu den folgenreichsten Konstruktionen von Alterität als kultureller Identität. Die maßgeblich von Völkerkunde und V. geprägten und zur sozialen Wirklichkeit geronnenen Vorstellungen darüber besitzen Wirkmacht bis in den Alltag und beeinflussen soziales sowie politisches Handeln. I. S. einer reflexiven Kulturanthropologie werden daher nationalistische und hegemoniale Implikationen von homogenen nationalen Kulturen oder Ethnien dekonstruiert und kritisch in die aktuellen Diskurse eingebracht.