Zensur

Der Begriff Z. ist mehrdeutig. Seine juristische Aufbereitung in einem Staatslexikon legt nahe, dass im Fokus die Zulässigkeit der staatlichen Reglementierung des gesprochenen, geschriebenen und gedruckten Wortes steht. In der Tat ist durch Z. zentral die Meinungsfreiheit, analog und digital, tangiert. Betroffen sind Bürger, Verbände, Medien. Der so umrissene Terminus Z. ist kein verbaler Sympathieträger. Er ist im deutschen Kulturkreis negativ besetzt. Die Reizfigur assoziiert jene lästige Kuratel, die Symptom autoritärer Staaten, wenn nicht gar von Diktaturen ist. Dem Unwerturteil über Z. korrespondiert das durchweg positiv konnotierte Z.-Verbot, das Wesensmerkmal liberaler Staaten ist. Allerdings ist es mit derartigen holzschnittartigen Kontrastbegriffen und den von ihnen ausgelösten Aversionen und Sympathien nicht getan. Anknüpfungspunkt für die juristische Bewertung von Z. und Z.-Verbot in den einzelnen Staatsgebilden sind in erster Linie der konkrete rechtliche Kontext, in den die Materie eingebettet ist, und die staatliche Praxis. Primäres Orientierungsdatum für Deutschland sind die Kommunikationsgrundrechte des GG. Art. 5 Abs. 1 S. 3 konstatiert: Eine Z. findet nicht statt. Die an die Garantie der Meinungsfreiheit und der Medienfreiheiten angeseilte Maxime proklamiert eine prinzipielle Absage an jegliche Z. Die Anschlussfrage ist, ob daraus auf ein ausnahmsloses Z.-Verbot geschlossen werden muss oder ob einzelne staatliche Regulierungen der Freiheitsrechte zulässig, vielleicht sogar geboten sind.

Die dezidierte Ablehnung der Z. durch das GG ist historisch verständlich. Das Verdikt entspricht der spezifischen Grundrechtsorientierung des modernen Verfassungsstaates. Z. impliziert seit jeher Unfreiheit. Die Geschichte der Z. ist unrühmlich. Der Kampf gegen sie war mühselig. Er hat den Prozess der Konstitutionalisierung des Staates begleitet. Noch im 19. Jh. war das Aufkommen von Freiheitsrechten in den ersten Verfassungsurkunden vom Z.-Vorbehalt des Staates begleitet. Die Repressalien der Obrigkeiten gingen seinerzeit mit der Verfolgung von als Demagogen denunzierten Kritikern einher, die ins Exil flüchteten. Opfer waren Georg Büchner, Heinrich Heine und Joseph Görres. Der Versuch der Paulskirchenverfassung des Jahres 1848, die Z. zu ächten, schlug fehl. Erst der WRV von 1919 gelang eine entspr.e Regelung (Art. 118 Abs. 2 WRV), an die das GG 1949 anknüpfen konnte. Freilich handelt es sich bei den früheren Schikanen der Staats-Z. aus heutiger Sicht nicht nur um ein Phänomen fast vergessener biedermeierlicher Zeiten. Die eigentliche deutsche Katastrophe fand später statt. Zum Zivilisationsbruch der NS-Diktatur (Nationalsozialismus) gehörte die mit Bücherverbrennungen eingeleitete Z. in diversen Erscheinungsformen (Schriftleitergesetz, Rezensionsverbot). Die kategorische Absage des GG in Art. 5 Abs. 1 S. 3 bestätigt, dass Freiheitsrechte Reaktionen auf historische Gefährdungslagen sind. Einen zusätzlichen Beleg lieferte ab 1989 die deutsche Wiedervereinigung mit der beitrittsbedingten Fortgeltung des GG namentlich in den Grundrechtsgarantien. Das Festhalten auch am Z.-Verbot des Art. 5 Abs. 1 S. 3 war eine Absage an die vormalige lückenlose Staatskontrolle mitsamt der strafbewehrten Z., die beides Instrumente des auch darum implodierten Unrechtsstaates DDR waren. Zugl. handelte es sich 1949 wie 1989 um den Ausdruck der spezifisch demokratischen Komponente des Z.-Verbots. Es gilt das klassische Narrativ des BVerfG, dass die Kommunikationsgrundrechte „für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung […] schlechthin konstituierend“ sind (BVerfGE 7,198). Das Demokratieprinzip (Demokratie) des GG impliziert den offenen und genehmigungsfreien Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. Eine Staats-Z. erscheint von daher widersinnig. Ihr Verbot gehört darum auch zur indisponiblen Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG).

Die Wortfassung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 ist wie manche andere lakonische Aussage im Grundrechtsteil des GG kurz und knapp. V. a.: Der Staat als primärer Adressat des Z.-Verbots wird gar nicht erwähnt. Das verleitet oft zum Trugschluss eines umfassenden Schutzes der Meinungsfreiheit vor jedweder Pression von welcher Seite und durch wessen Maßnahme auch immer. Als Verstoß gegen das Z.-Verbot des GG wird sozusagen alles ausgegeben, was der Meinungsfreiheit schadet. Bei dieser pauschalen Sicht verliert das Z.-Verdikt des GG jede Konsistenz und Effektivität. Es bedarf der Konkretisierung durch zwei Korrektive. Das eine ist die Reduktion des Z.-Verbots auf Z.-Maßnahmen des Staates; das zweite ist die Beschränkung auf Akte der staatlichen Vorzensur. Die richtige Lesart der Vorschrift ist also: Eine Vorzensur des Staates findet nicht statt.

a) Die Beschränkung auf den Staat als den Autor von Z. entspricht seiner klassischen Position als dem Widersacher der Grundrechte, die auf Abwehr zielen. Dieselbe Dimension eignet dem Z.-Verbot. In Pflicht genommen ist der Staat als Autor von Zensur.

aa) Anders als staatliche Pressionen sind Maßnahmen Privater, auch wenn sie auf eine Z. hinauslaufen (können), prinzipiell kein Thema des Art. 5 Abs. 1 S. 3. Völlig unproblematisch für die Integrität der Meinungsfreiheit ist diese Beschränkung des Z.-Verbots auf Staatseingriffe nicht. Ob neben dem Staat auch ihm wirkungsgleiche private, wirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Machtgruppierungen (Konzerne, Medien, Verbände) der Bindung an die Grundrechte unterliegen, war die große Frage schon des letzten Jahrhunderts. Sie hat im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung nichts an Bedeutung verloren. Spezifische Z.-Aspekte betreffen heute die staatsähnliche Wirkungsmacht zumal supranationaler sozialer Netzwerke (Verbot der Hassrede; Urheberschutz durch Uploadingsperre im Internet).

bb) Im Übrigen liegt die Schlichtung von Grundrechtskonflikten zwischen Privaten außerhalb des Anwendungsbereichs des Z.-Verbots. Zwar reicht das allg.e Persönlichkeitsrecht Privater (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 GG) so weit, auch auf die Unterlassung rechtsverletzender Meinungsäußerungen von Seiten anderer Privater zu dringen. Sogar ein vorsorgliches gerichtliches Buchverbot ist zulässig. Doch handelt es sich bei dieser Entscheidung eines Gerichts nicht um einen Akt verpönter staatlicher Kunst-Z. Das von Privaten angerufene Gericht wird ausschließlich zur justiziellen Sicherung privater, d. h. nichtstaatlicher Belange tätig. Konsequenz: Wegen Klaus Manns Roman „Mephisto“ (1936) durfte unter dem GG (1968) sogar ein gerichtliches Publikationsverbot wegen Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts von Gustaf Gründgens ergehen (BVerfGE 30,173).

cc) Auch bei der Aufschlüsselung des Sammelbegriffs Staat, dessen Z. ausgeschlossen sein soll, sind Differenzierungen notwendig. Staat ist nicht jeder öffentlich-rechtliche Funktionsträger. Für die politischen Parteien kommt dies schon deshalb nicht in Frage, weil sie ungeachtet einer gewissen Staatsnähe privatrechtlich formierte Faktoren der gesellschaftlichen Sphäre sind. Konsequenz: Parteiausschlüsse von radikalen Autoren scheitern nicht an Art. 5 Abs. 1 S. 3. Auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind wegen der Staatsfreiheit des Mediums kein Teil der Staatsorganisation. Konsequenz: Die Absetzung einer Sendung durch den Intendanten ist von dessen staatsunabhängiger Programmverantwortung legitimiert. Eine unzulässige Staats-Z. ist das nicht. Noch signifikanter ist die Sonderstellung von Religionsgesellschaften. Sie sind zwar vielfach mit dem rätselhaften Ehrentitel einer K.d.ö.R. ausgestattet (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV). Sie erfüllen indes keine Staatsaufgaben; sie sind nicht Teil der Staatsorganisation. Konsequenz: Die Verweigerung der Druckerlaubnis für die Schrift eines Kirchenbediensteten durch den vorgesetzten Bischof (sog.es nihil obstat, d. h. die Verweigerung des Imprimatur) ist kein Fall einer von Art. 5 Abs. 1 S. 3 untersagten Staats-Z.

b) Nur die staatliche Vorzensur oder Präventiv-Z. ist ausgeschlossen. Die Integrität der Meinungsfreiheit für den Bürger wie für Massenmedien hat Vorrang gegenüber allen präventiven Kontrollmaßnahmen des Staates. Das gilt auch dann, wenn die beabsichtigte Meinungskundgabe inhaltlich nicht mit den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG übereinstimmt, also gegen die allg.en Gesetze verstößt. Nachträgliche Kontrollsanktionen des Staates bleiben zulässig. Eine vollständige Freistellung von jeder Bindung genießt der zunächst vom präventiven Z.-Verbot profitierende Akteur also nicht. Die Kommunikationsgrundrechte sind wie jedes andere Freiheitsrecht in die staatliche Rechtsordnung eingebunden. Kein Freiheitsrecht ist schrankenlos. Eine umfassende Sanktionsimmunität der Medien würde gegen die Maxime der privilegienfeindlichen Demokratie des Verfassungsstaates verstoßen.

c) Ob man die nachträgliche („repressive“) Überprüfung einer Meinungskundgabe und ihre Beanstandung als „Nachzensur“ bezeichnen sollte, ist keine Geschmacksfrage. Der Begriff passt nicht. Mit der willkürlichen Vorgehensweise eines grundrechtsindifferenten Obrigkeitsstaates hat die strikt gesetzlich determinierte nachträgliche Realisierung der Rechtsbindung nichts gemein. Kontrollmaßstab ist schließlich allein die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG (allg.e Gesetze, Jugend- und Ehrenschutz [ Ehre ]): Die Durchsetzung der Schranken unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Verhältnismäßigkeit) und der gerichtlichen Nachprüfung. Die wenig verfassungsästhetische Rede von Nachzensur sollte unterbleiben. Rechtsnachteile entstehen dadurch nicht. Das Verbot der Vorzensur bleibt allemal unangetastet. Es wirkt absolut und ist abwägungsresistent. Diese Direktive des GG gilt unmittelbar. Sie bedarf nicht erst einer Umsetzung durch den einfachen Gesetzgeber.