Sozialer Wandel

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1. Problemstellung

Der s. W., einer der allg.sten Grundbegriffe der Soziologie, ist leicht zu definieren, wenn man einen anderen, komplizierteren Begriff zu Hilfe nimmt, nämlich den Begriff der sozialen Struktur (Sozialstruktur). Unter sozialen Strukturen kann man sich die (relativ) stabilen Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens, die (relativ) stabile Ordnung der Gesellschaft vorstellen, die gegen Veränderungen widerständig sind. S. W. heißt also: Veränderungen sozialer Strukturen, Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung. Die Theorien des s.n W.s bemühen sich, die Einheiten und Ebenen zu bestimmen, an denen und auf denen sich s. W. beobachten lässt: die Dimensionen des s.n W.s, z. B. Tempo, Tiefgang, Richtung und Steuerbarkeit sowie die äußeren und inneren Wandlungskräfte, die eine gegebene Ordnung verändern können. Bis hierhin entspricht dies alles noch unserem Alltagsverständnis. Von Struktur-, System- und Wertewandel reden wir bereits in der Umgangssprache; dass wir uns in einer Epoche beschleunigten Wandels befinden, in der überkommene Ordnungen zunehmend in Frage gestellt werden, wird seit dem Beginn der Moderne regelmäßig behauptet.

Die wissenschaftlichen Probleme setzen ein, wenn wir fragen, was soziale Strukturen bzw. gesellschaftliche Ordnung sind und bedeuten, wie man ihre Veränderung messen und erklären kann, inwieweit s. W. steuerbar und prognostizierbar ist. Beginnend mit den Klassikern der Soziologie (man könnte noch weiter in die Philosophiegeschichte zurückgehen), gehen die Kontroversen um die „Natur“ von Ordnung und Wandel, um den Primat von Ordnung oder Wandel, um die Möglichkeit einer einheitlichen Sozialtheorie bzw. die Notwendigkeit komplementärer Erklärungsansätze. Diese Grundlagenprobleme sind auch heute keineswegs erledigt geschweige denn gelöst, sondern brechen an den Fronten der Theoriediskussion immer wieder auf.

Auguste Comte, der der zeitgenössischen physique social den Namen „Soziologie“ gegeben hat, war – wie zuvor die Denker des Rationalismus, Liberalismus und Idealismus – von einer umfassenden gesellschaftlichen Entwicklung hin zum „positiven Stadium“ ausgegangen, in dem sich die Menschheit mit Hilfe der entfalteten Wissenschaft selbst steuert. A. Comte hatte als gleichgewichtige Grundkräfte dieser Entwicklung Statik (Ordnung) und Dynamik (Fortschritt) unterschieden: „In der positiven Politik sind Ordnung und Fortschritt die beiden untrennbaren Seiten desselben Prinzips“ (Comte 1974: 38). Andere Klassiker haben sich eindeutig für Wandel oder Ordnung als Ausgangspunkt ausgesprochen, obwohl sie dann bzgl. der Erklärung des jeweiligen Prinzips zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen gelangten. Für Karl Marx war bekanntlich die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft […] die Geschichte von Klassenkämpfen“ (MEW 4: 462), das Wachstum der Produktivkräfte der Motor der Entwicklung und die Ordnung der jeweiligen Produktionsverhältnisse immer nur ein Übergang. Vilfredo Pareto stellte die Marxsche Formel auf den Kopf: „Die Geschichte ist ein Friedhof von Eliten“ (Pareto 1955: 229), d. h. ein ständiger Wechsel von Regimes, die der Gesellschaft eine Zeit lang ihre Ordnung aufprägen, dann aber ihren Konkurrenten und deren Regime Platz machen müssen.

Die andere theoretische Linie repräsentiert Émile Durkheim. Für ihn war Ordnung die primäre soziale Tatsache und ihre Veränderung nur aufgrund spezifischer Wandlungskräfte denkbar. Gesellschaft beruht auf der Grundtatsache der Solidarität, d. h. des ursprünglichen Zusammenhalts der Gesellschaftsmitglieder aufgrund gemeinsamer Wertorientierungen. Durch äußere Störungen (z. B. Bevölkerungszuwachs) und durch innere Störungen (Anomie als ein gewisses Maß an Unvollkommenheit der Solidarität) gerät die Ordnung unter Wandlungsdruck; durch Differenzierung bildet sich die moderne, arbeitsteilige Gesellschaft heraus. Max Weber sah die Ordnung durch die jeweilige Organisation und Legitimation von Herrschaftsverbänden (Herrschaft) garantiert. Die verschiedenen historischen Epochen sind durch unterschiedliche „Herrschaftstypen“ zu interpretieren, die jeweils durch innere und äußere Kräfte (Rationalisierung, Traditionalisierung [ Tradition ], Charisma) verändert werden. M. Weber zögerte, von einem generellen Entwicklungstrend zu sprechen, aber er hat den Weg zur modernen Welt schließlich doch – am Idealtyp des Kapitalismus – als die fortschreitende Rationalisierung aller Lebensbereiche dargestellt.

Dieser dogmengeschichtliche Rückblick ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Anders als vielleicht in den Naturwissenschaften sind in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften die Klassiker nicht endgültig zu überholen, sondern immer wieder Anknüpfungspunkt für die aktuelle Theoriediskussion. Was die sozialen Strukturen konstituiert (moralische Gemeinsamkeit, kulturelle Legitimation, ökonomischer Zwang, politische Macht) und was die Wandlungskräfte sind (Klassen- und Kulturkonflikte, Gegeneliten, heute v. a. in Form neuer sozialer Bewegungen [ Soziale Bewegungen ], ökologische Herausforderungen wie Umweltzerstörung und Klimawandel, technologische Errungenschaften wie Digitalisierung und KI), wird auch in den heutigen Theorien unterschiedlich akzentuiert.

S. W. und soziale Strukturen sind selbst bereits abstraktere Begriffe als die Kategorien der Klassiker (Ordnung/Fortschritt, Produktionsverhältnisse/Produktivkräfte, Solidarität/Differenzierung, Herrschaftsordnung/Rationalisierung). Sie sind in die moderne Soziologie hineingekommen, als diese das Problem bewältigen wollte, auch „einfache Gesellschaften“ außerhalb des abendländischen Kulturkreises sowie die vielfältigen sozialen Ordnungs- und Wandlungsprozesse unterhalb der Ebene der Gesamtgesellschaft zu begreifen: Institutionen, Organisationen, Gruppen, Interaktionen. Sozialpsychologie, Kleingruppenforschung, Kulturanthropologie haben zur Abstraktion der soziologischen Grundbegriffe und zur Generalisierung der Theorien des s.n W.s beigetragen.

Bei einer der zentralen neueren Kontroversen geht es dabei um die Frage, ob die Soziologie überhaupt einen eigenen Gegenstandsbereich und eigene Gesetzmäßigkeiten für sich beanspruchen kann oder ob nicht Institutionen, Strukturen, Organisationen, Gruppen prinzipiell aus individuellem Handeln rekonstruiert werden müssen (Individualismus-Kollektivismus-Kontroverse). Sehr vereinfacht ausgedrückt geht es um die These, dass letztlich nur handelnde Individuen Motive und Pläne haben, Entscheidungen treffen, sich solidarisch oder abweichend verhalten (Devianz), Legitimität anerkennen oder Widerstand leisten können. In dieser Perspektive sind Theorien des s.n W.s als Lerntheorien zu konzipieren oder als Nutzentheorien oder Motivationstheorien. Der symbolische Interaktionismus zeigt, wie selbst kulturelle Legitimationen, die die Lebenszeit eines Individuums weit übergreifen, nur durch Handeln produziert, tradiert und reaktualisiert werden. Die Gegenposition bestreitet nicht, dass letztlich nur Individuen handeln, sondern sie bestreitet, dass diese Einsicht tragfähig ist, um soziale Phänomene zu erklären, die aufgrund der Interaktion mehrerer Akteure prinzipiell emergente Eigenschaften aufweisen. Damit ist gemeint, dass die Beziehungs- und Verteilungsstrukturen zwischen Akteuren und die aggregierten Folgen von Handlungen nicht aus den Lernerfolgen, Nutzenschätzungen, Motiven und Situationsdefinitionen der Handelnden alleine abgeleitet werden können, insb. nicht unintendierte, paradoxe Folgen.

Man muss nicht É. Durkheims Auffassung sein, das nutzenmaximierende Individuum sei selbst erst ein Spätprodukt der gesellschaftlichen Entwicklung, man muss nicht der Gesellschaft einen Vorrang vor dem Individuum geben, um die Eigenständigkeit sozialer Phänomene, also auch des s.n W.s, zu behaupten. Aber diese Kontroverse ist mitnichten abgeschlossen, und insgesamt befindet sich die Soziologie heute bzgl. ihrer theoretischen Entwicklung in einem Zustand, in dem verschiedene Paradigmen nebeneinander existieren, mehrere „Sprachen“ zugleich gesprochen werden.

2. Fragestellungen von Theorien des sozialen Wandels

Wir gehen davon aus, dass eine einheitliche Theorie des s.n W.s derzeit nicht in Sicht ist und dass wir andererseits die Fülle der Einzelbefunde nicht zusammenfassen können. Deshalb organisieren wir die folgende Übersicht anhand von zentralen Fragestellungen, die i. d. R. jeweils von mehreren Erklärungsansätzen benutzt werden.

Die Frage nach den Einheiten des s.n W.s führt uns nochmals zu den Definitionsproblemen und zur Beschaffenheit der sozialen Strukturen, die sich wandeln können. Jeder „Strukturwandel“ soll verstanden werden als „Veränderung des Personals der Herrschaftspositionen“ (Dahrendorf 1957: 201): Diese konflikttheoretische Formulierung bringt zum Ausdruck, dass die Anordnung und die Besetzung von Herrschaftspositionen als die entscheidenden Strukturtatsachen und damit als Einheiten des Wandels anzusehen sind. So hilfreich aber diese einfache Operationalisierungsregel für die empirische Messung des Wandels ist (Personalwechsel ist leicht beobachtbar), so unbefriedigend ist die mangelhafte Unterscheidung von Personenaustausch, Positionsveränderung und Regimeveränderung; diese Unterscheidungen könnten allenfalls mit den Dimensionen Tempo und Tiefgang nachgeliefert werden.

„Wir definieren einen Wandel in der Struktur eines sozialen Systems als Wandel seiner normativen Kultur. Wenn wir die oberste Ebene sozialer Systeme betrachten, handelt es sich um einen Wandel des gesamtgesellschaftlichen Wertsystems“ (Parsons 1979: 43): Diese strukturfunktionalistische Formulierung fasst nur die Veränderung von Normen und Werten als Strukturwandel, während Rollen- und Beziehungsänderungen innerhalb eines konstanten Norm- und Wertrahmens als Anpassung gefasst werden; außerdem werden die in den sozialen Rollen und sozialen Beziehungen handelnden Personen definitorisch aus der Betrachtung von sozialen Systemen ausgeblendet, was natürlich die Kritik vonseiten des methodologischen Individualismus provoziert hat. Ganz klar kommt jedoch heraus, dass nach dieser Auffassung Veränderungen des Rechts, der Verfassung, der kulturellen Leitprinzipien die weitreichendsten Wandlungsvorgänge indizieren, obwohl eindeutige Operationalisierungen nicht gegeben werden.

„Wandlungsprozesse sind grundsätzlich als Selektionsprozesse erkenntlich, die unterschiedliche Handlungsweisen durch die eigenen kollektiven Folgen und/oder durch die Ressourcenbedürftigkeit reproduktiver Prozesse differentiell ausscheiden oder bevorzugen“ (Schmid 1982: 35): Diese anspruchsvolle Formulierung kann verdeutlichen, was in den jüngeren systemtheoretischen Ansätzen thematisiert wird (Systemtheorie). Soziale Systeme müssen sich in einer komplexen Umwelt in der Weise bewähren, dass sie ihre eigenen Handlungsfolgen bewältigen und die Ressourcen für ihr Überleben sichern; sie müssen diejenigen Strukturen ändern (Handlungsweisen ausscheiden), die dies nicht leisten, und solche Strukturen verstärken (Handlungsweisen bevorzugen), die dies bes. gut leisten. Diese Theorieansätze betrachten alle möglichen sozialen Einheiten in Bezug auf ihre eigenen, überindividuellen Handlungsfolgen und Reproduktionserfordernisse innerhalb einer komplexen Umwelt und ihres Selektionsdrucks.

Die Frage nach den Ebenen des s.n W.s lässt sich einfacher behandeln. Über die Unterscheidung in die Mikroebene des sozialen Handelns, in die intermediäre Ebene der Gruppen und Institutionen und Organisationen und in die Makroebene der Gesamtgesellschaft besteht weitgehende Übereinstimmung. Es gibt aber, je nach theoretischem Ausgangspunkt, interessante Verknüpfungsprobleme. Der individualistische Ansatz kommt über die „Zusammenlegung von Ressourcen“ von individuellen zu kollektiven Akteuren und den entsprechenden Wandlungsprozessen. Kollektivistisch-makrosoziologische Ansätze gehen den umgekehrten Weg über Differenzierung, Spezialisierung, Segmentierung von gesamtgesellschaftlichen Prozessen zu intermediären und zu Mikroprozessen des Wandels. Die für die Klassiker zentrale Ebene der Zivilisationen (ja der Menschheit insgesamt) ist heute in der Modernisierungstheorie (Modernisierung), in den Konvergenztheorien und in der Theorie der Weltgesellschaft aktuell. Praktisch geht es um die Frage der Autonomie bzw. Interdependenz der nationalstaatlich verfassten Gesellschaften. Je weiter die Perspektive, desto mehr treten supranationale Akteure (Supranationalität) und Wandlungsprozesse in den Blick (multinationale Unternehmen, internationale Organisationen, Verteidigungsbündnisse, NGOs, globalisierte Märkte, Medien und Massenkultur usw.); aber je genauer die vergleichende Analyse, desto deutlicher wird auch, dass die strukturprägende Kraft der historisch gewachsenen Institutionen, die auch in den modernen Gesellschaften nach wie vor nationalstaatlich geprägt sind, immer noch Relevanz entfaltet.

Auf allen Ebenen wollen wir die Dimensionen des s.n W.s beschreiben, messen und ihre Zusammenhänge erklären, v. a. Tempo, Tiefgang, Richtung und Steuerbarkeit (Steuerung). Tempo wird in chronologischen Zeiteinheiten gemessen, aber es macht Sinn, nicht nur vom historischen Zeitverlauf und darin von individuellen Lebensläufen zu sprechen, sondern auch vom Lebenszyklus von Organisationen, Regimes oder Zivilisationen. Karl Mannheim hat in der Abfolge der Generationen, in der altes Wissen sozusagen abstirbt und neues Wissen sich nach dem Maße der die jungen Generationen prägenden historischen Erfahrungen durchsetzt (beschleunigt, retardiert), einen entscheidenden Mechanismus des s.n W.s gesehen. In der Innovationsforschung wird diese Idee verallgemeinert: Wandel ergibt sich aus dem Aggregat von Diffusionsprozessen.

Der Tiefgang des s.n W.s bemisst sich zunächst nach der Quantität bzw. der Proportion der von einer Änderung betroffenen Einheiten (z. B. bei den Prozessen der Urbanisierung, der Migration, der Nutzung insb. sozialer Medien (Social Media), der Elementarbildung, der Wahlrechtsausdehnung etc.), sodann nach dem Umfang der betroffenen Bereiche (Wirtschaft, Politik, Kultur usw.), im Wortsinn jedoch nach der Art und Anzahl der betroffenen Ebenen, wo immer die Sozialstruktur als Hierarchie von Ebenen bzw. Bereichen konzipiert wird. Nach der marxistischen Theorie (Marxismus) sind deshalb diejenigen Wandlungsprozesse die entscheidenden, die die ökonomische Struktur verändern. Nach der Hierarchie des Strukturfunktionalismus (Rollen, Kollektive, Normen, Werte) sind Wertveränderungen die gewichtigsten Wandlungsprozesse; nach der Konflikttheorie (Sozialer Konflikt) solche Veränderungen, die nicht nur Personal oder Organisation, sondern das Regime eines Herrschaftsverbandes umformen. Die jüngeren systemtheoretischen Ansätze wollen einen solchen Perspektivismus überwinden zugunsten einer universalistischen Theorie sozialer Systeme und ihres Wandels und bedienen sich dabei evolutionstheoretischer Konzepte: Variation, Selektion und Reproduktion. Danach bestimmen sich die zentralen Wandlungsprozesse innerhalb der permanenten Variation von Eigenschaften als diejenigen Selektionen, die die Reproduktionschancen der betreffenden Einheiten am stärksten verbessern: im Falle der gesamtgesellschaftlichen Evolution solche „Errungenschaften“ wie Recht, Markt, demokratisch legitimierte Herrschaft, Wissenschaft, die sich als „evolutionäre Universalien“ (Parsons 1979: 55) in einer Mehrzahl von Gesellschaften durchsetzen.

Bzgl. der Richtung des s.n W.s können wir eine Reihe von typischen Verlaufsmustern unterscheiden, z. B. lineare, exponentielle und limitationale Trends; Differenzierungsprozesse der Multiplikation, Verzweigung und der Ausgrenzung (Segmentation); zyklische Schwankungen und Kreisläufe; sowie Kombinationen dieser Muster mit positiven und negativen Rückkoppelungen, Multiplikator- und Akzeleratoreffekten. Entspr. verwenden wir zur Analyse Wachstumsmodelle, Stufen- und Stadienmodelle mit und ohne Schwellen, Konjunkturmodelle, kybernetische Modelle. Das dominierende Richtungsproblem ist der „Weg zur modernen Welt“, wie er in den Modernisierungstheorien und allen Kritiken daran behandelt wird. Wichtig ist jedoch, dass sich die Theorien des s.n W.s prinzipiell von der „Fortschrittsidee“ befreit haben und Phänomenen der Stagnation, des Trendbruchs, der Regression, der Segmentation, Nischenbildung und Vereinfachung ihre Aufmerksamkeit zuwenden.

Bzgl. der Steuerbarkeit des s.n W.s (der Modernisierung, von Innovationen usw.) hat sich in den auf Rationalismus und Comteschen Positivismus zurückgehenden Optimismus der Soziologie heute Skepsis gemischt. Ungeplanter Wandel, latente Funktionen, informelle Gegenstrukturen, paradoxe Folgen des Handelns, Nebenwirkungen, konterintuitive Effekte gehören heute zu den aktuellen Forschungsthemen der Soziologie ebenso wie die inhärenten Probleme der Planung, Entscheidung, Implementation und Akzeptanz. Der Zivilisationsprozess selbst wird von Autoren wie Norbert Elias als ungeplante „Verflechtungsordnung“ (Elias 1980: 314) begriffen. Dem „Zufall“ wird sowohl in der Innovationsforschung als auch in der generellen System- und Evolutionstheorie ein systematischer Platz eingeräumt. Dennoch aber bleibt die Planbarkeit und Steuerbarkeit wenigstens von begrenzten Prozessen des s.n W.s eines der konstitutiven Projekte der Soziologie und eine der grundlegenden Überlebens- und Entwicklungsvoraussetzungen moderner Gesellschaften.

Bzgl. der klassischen Frage nach den Antriebskräften des s.n W.s ist zusammenfassend zu sagen, dass sie dieselbe Vielfalt aufweisen wie die Erklärungen von Stabilität und Ordnung. Unterscheidungen in exogene und endogene, dominante und multifaktorielle Ursachen haben nur mehr dogmengeschichtlichen oder heuristischen Wert. Nach wie vor präferiert die Soziologie gegenüber exogenen Einflüssen die Konzentration auf endogene Störungen sozialer Strukturen und Systeme: inhärente ökonomische Konflikte und Herrschaftskonflikte, unvermeidliche Rollenüberlastung, notwendige Kontroll- und Sozialisationsdefizite, Spannungen zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen. Insgesamt sucht die soziologische Theorie heute jedoch nach vereinheitlichenden Bezugsrahmen, innerhalb deren sich die verschiedenen Paradigmen und Terminologien aufheben und mit den neuen Konzepten von Rückkoppelungen, paradoxen Effekten, Umweltdruck und Selektion usw. verbinden lassen.