Devianz

Der Begriff D. – synonym für „abweichendes Verhalten“ – findet sich erst seit der Mitte des letzten Jahrhunderts, um frühere, wertgeladene Termini (z. B. „Sozialpathologie“) durch Rückgriff auf das neutralere lateinische devia (verwendet u. a. für „Schleichweg“, „ungebahnte Wege“, „entlegen“, „pfadlos irrend“ etc.) zu vermeiden. Aber schon zum Ende des Jh. wurden in einschlägigen Thesauri für „deviant“ Synonyme u. a. wie „perverse“, „sick“, „abnormal“, „quer“ etc. genannt.

Eine konsensuelle Definition des Begriffs D. fehlt bis heute. Trotz Ähnlichkeit mit dem Terminus Deviation der Statistik besteht Konsens, dass mit D. keine Abweichung von einer statistischen Norm gemeint ist.

a) Einige absolutistische gesellschaftstheoretische Ansätze (z. B. die funktionalistische Systemtheorie) beanspruchen, Handlungen benennen zu können, die für ein Sozialsystem dysfunktional sind und daher D. darstellen. Widersprüchliche Analysen auf der Basis dieses Ansatzes sprechen gegen diesen Anspruch.

b) Universalistische normativistische Ansätze auf Grundlage philosophisch und/oder theologisch fundierter Naturrechtslehren und Menschenrechtskonventionen könnten universell verbindliche, absolute Kriterien für D. liefern, wenn sie interkulturell konsensfähig wären (Universalismus).

c) Für gesellschaftsspezifische normativistische Ansätze ist D. Verhalten, das die normativen Regeln und Erwartungen (nicht nur Gesetzesnormen) in bestimmten sozialen Systemen verletzt, sofern es sich um Normen Norm handelt, deren Bruch mit hoher Wahrscheinlichkeit negative Reaktionen/Strafen auslöst. Der damit unterstellte normative Konsens ist in modernen, meist multikulturellen Gesellschaften (Multikulturalismus) fraglich, damit auch die exakte Bestimmbarkeit von D. Auch unbekannt bleibende Normbrüche sind hier D.

d) Für die legalistische Konzeption ist jedes Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt, aber auch nur dieses, D. Gegen Kritik, dass die zum Gesetz gewordenen Interessen der Mächtigen kein akzeptables Maß für D. sein könnten, wird eingewendet, dass Gesetze zwar auch Macht, Einfluss und Interessen herrschender Gruppen widerspiegelten, aber doch die Forderungen der Mehrheit berücksichtigen müssten und langfristig auch das „Rechtsgefühl“ der Bevölkerung abbildeten. Wichtig sei, dass hinter diesen Normen das staatliche Durchsetzungspotential stehe, die Normen durchsetzbar seien. Allerdings – so die Kritik – würden auch Handlungen als D. definiert, die von geringem Interesse seien, während viele Handlungen gegen kein Gesetz verstoßen, die von der Bevölkerung als Brüche von bedeutsamen Normen angesehen werden. Gegen die Konzeptualisierung von D. als nicht geschätztes Verhalten/negativ bewertete Befindlichkeit wird eingewendet, dass so auch Phänomene wie Krankheit, Behinderung, Entstellung, die Zugehörigkeit zur verachteten Kasten, Klassen, Ethnien, bestimmten (z. B. sexuellen) Orientierungen zu D. würden. Zwar seien damit oft Zuschreibungen von missachteten Rollen und Stigmatisierungen verbunden, aber nicht immer Verletzungen normativer Regeln, während nicht jede Verletzung normativer Regeln gesellschaftlich missbilligt werde, aber dennoch D. sei. D. sei auf Enttäuschungen von Erwartungen zu beschränken, die Brüche von normativen Regeln darstellen.

e) Für den Gruppen-Bewertungsansatz ist D. Verhalten, das nach Meinung der Mehrheit einer Gruppe unakzeptabel oder moralisch verwerflich ist (unabhängig von seiner Häufigkeit oder rechtlichen Beurteilung). Vorzug sei, dass sich so Fragestellungen stellen, die in anderen Ansätzen nicht thematisch werden könnten. Bedenklich ist dagegen, dass auch Verhalten als D. angesehen wird, auf das weder informelle noch formelle Reaktionen erfolgen.

f) Für den ganz anders angelegten reaktivistisch-konstruktionistischen Ansatz (Labeling Approach), der sehr stark dem symbolischen Interaktionismus verpflichtet ist, für den die Bedeutungen von Handlungen erst durch Interaktionen erzeugt werden, ist D. keine „objektive“ Qualität einer Handlung oder eines Merkmals einer Person, sondern die Folge interpersoneller oder kollektiver negativer Reaktionen (Zorn, Verurteilung, Strafe, Stigma) auf einen wahrgenommenen oder behaupteten Normbruch. Jedes Verhalten, das die Leute so etikettieren, ist D. Erfolgen keine negativen Reaktionen, liegt keine D. vor; geheime D. gibt es nicht. Varianten sehen auch als nicht-konform angesehene Einstellungen und Eigenschaften, die in dem betreffenden Kollektiv als unakzeptabel gelten, als D. an, sofern negative Reaktionen auftreten. Kritisch lässt sich hingegen einwenden, dass selbst gesellschaftlich bedeutsame Sachverhalte (z. B. ein unentdeckter oder nicht verfolgter Steuerbetrug in Mrd.-Höhe) außer Betracht blieben.

g) Ein neuerer, synthetischer Ansatz verbindet Elemente aus dem reaktivistischen und dem Gruppen-Bewertungsansatz. D. ist Verhalten, das die Mehrheit einer gegebenen Gruppe als unakzeptabel ansieht oder auf das eine negative kollektive Reaktion folgt. Er bezieht nur overtes Verhalten und nicht die Einstellungen oder Eigenschaften von Akteuren ein, wohl aber nicht entdecktes Verhalten, das von einer Gruppe als unakzeptabel angesehen worden wäre oder eine negative kollektive Reaktion ausgelöst hätte, wenn es entdeckt worden wäre. Gleiches gilt für Verhalten, das als unakzeptabel gilt, auch wenn keine kollektive Reaktion oder eine Reaktion durch Instanzen sozialer Kontrolle erfolgt. Aber die zentrale Idee des Labeling-Ansatzes wird aufgegeben und unterstellt, dass die Reaktionen auf ein bestimmtes Verhalten ex ante valide eingeschätzt werden können. Die offensichtliche situative, historische und interkulturelle Variabilität gesellschaftlicher Reaktionen auf vermeintliche D. lassen an der Sinnfälligkeit dieser „Synthese“ zweifeln. Umstritten sind auch Vorschläge, das Konzept „positive D.“ für Verhaltensweisen, die in extremer Form positiv von erwartbarem normgerechten Verhalten abweichen („Helden der Arbeit“, „Heilige“ etc.), einzuführen.

Die Unterschiedlichkeit der Konzeptualisierungen von D. impliziert, dass auch in der Frage, welche konkreten Sachverhalte als D. anzusehen sind, keine Übereinstimmung besteht. Die Liste von Formen von D., die in der Forschung behandelt werden, ist entsprechend lang, so dass von einer Behandlung einzelner Tatbestände abgesehen werden muss. Stattdessen seien aus der Fülle theoretischer Ansätze zur Erklärung des Vorkommens, der Formen und der Folgen des Umgangs mit D. die wichtigeren erwähnt. Die folgende (grobe) Übersicht strukturiert diese Darstellung der Theorien unter dem Gesichtspunkt ihrer Zugehörigkeit zum normativistischen oder reaktivistischen Verständnis und unter dem Gesichtspunkt, ob sie ihre erklärenden Variablen auf der Makro- oder Mikroebene suchen. Neuere, um Theorieintegration bemühte Ansätze lassen sich so naturgemäß nicht eindeutig zuordnen.

a) Makro-normative Theorien untersuchen die Sozialstrukturen von Kollektiven (Sozialstruktur), um die Variation in der Häufigkeit der verschiedenen D.-Formen zwischen verschiedenen Gesellschaften, Schichten oder verschiedenen ethnischen Gruppen etc. bzw. Veränderungen derselben zu erklären. Paradigmatisch ist die Studie von Émile Durkheim (von 1897), die die Suizidraten (Suizid) verschiedener Gesellschaften und von Teilgruppen durch die Kombination der beiden Faktoren Integration und Regulation zu erklären und vier Suizidtypen herauszuarbeiten versuchte. Ferner ist für É. Durkheim ein bestimmtes Maß an D. (z. B. Kriminalität) für eine Gesellschaft „normal“ und sogar funktional: D. hält die Möglichkeit des sozialen Wandels offen und durch Normbrüche werden durch die i. d. R. einsetzende Entrüstung und Prozesse der sozialen Kontrolle die geltenden Werte und Normen (Wert; Norm) verdeutlicht.

b) Die Anomietheorie Robert K. Mertons erklärt die Verteilungsmuster von D. als Reaktionen auf die in vielen modernen Gesellschaften zu beobachtende Disjunktion zwischen den zentralen Werten und den sozialstrukturell bedingten unterschiedlichen Chancen, diese Werte mit den durch die geltenden Normen als zulässig angesehen Mitteln erreichen zu können. Steven F. Messner u. a. ergänzen, dass durch wirtschaftliche Ungleichheit bewirkte Anomie v. a. dann D. auslöst, wenn wirtschaftliche und nichtökonomische Institutionen (u. a. soziale Sicherungssysteme) darin versagen, materielle und sozial-kulturelle Bedingungen zu schaffen, die den Gedanken an D. als nicht notwendig erscheinen lassen. Auch Robert Agnews General Strain Theory of Crime setzt an der Anomietheorie an, entwickelt diese aber durch Übernahme stresstheoretischer Ideen in Richtung auf eine mikrosoziologische Theorie, die nicht nur in der Blockade der Chancen zur Erreichung zentraler Werte, sondern auch im Verlust von Chancen, in begrenzten Coping-Ressourcen und der Unausweichlichkeit von schweren Belastungen Ursachen von D. sieht. Auch die Theorie der Kontrollbalance stellt eine die Makro-und Mikroebene verbindende Theorie dar, die verschiedene Formen von D. aus dem Ungleichgewicht von Kontrolle durch andere und Kontrolle über andere erklärt. Die Theorie der sozialen Desorganisation sieht D. als Folge von Wert- und Normkonflikten – ausgelöst durch sozialen und kulturellen Wandel (sozialer Wandel), Mobilität, Migration sowie mangelnde soziale Integration (v. a. in den großen Städten). Unter bestimmten Bedingungen bewirkt soziale Desorganisation delinquente Subkulturen, die dann, wenn sich insb. junge Menschen durch soziale Ungleichheit und strukturelle Benachteiligung in der Mittelschichtgesellschaft als chancenlos erleben und diesen Eindruck mit Ihresgleichen teilen, bestimmte Typen von D. – oft in der Form von Bandendelikten – fördern.

c) Mikro-normative D.-Theorien: Mikrosoziale Prozesse und Bedingungen bewirken, dass erstens soziale Kontrolle nicht optimal wirksam ist und/oder Akteure Möglichkeiten haben, deviantes Verhalten zu erlernen. Die Kontrolltheorie von Travis Hirschi sieht D. als Folge des Versagens sozialer Kontrolle, das wahrscheinlich wird, wenn Menschen – bedingt durch bestimmte soziale Lagen, Familienkonstellationen etc. – keine engen Bindungen an bedeutsame Bezugspersonen (z. B. Eltern), keine innere Verpflichtung auf konforme Werte und Normen, keine konformen Glaubensvorstellungen und keine Einbindung in konforme Netzwerke entwickeln konnten. Für die General Theory of Crime ist D. die Folge der unzulänglichen Entwicklung von Selbstkontrolle, die daraus resultiert, dass Akteure – in Abhängigkeit von Sozialisationsmängeln – eine Präferenz für spannende Situationen, für das Vermeiden von Anstrengungen und für kurzfristige Belohnungen sowie eine unzulängliche Fähigkeit zur Empathie entwickeln. Sie erliegen dann häufig der Versuchung, ohne Rücksicht auf Verluste durch deviantes Verhalten in bestimmten Situationen schnell zum Erfolg zu kommen.

d) Bes. bedeutsam sind verschiedene Formen der Lerntheorie. Nach Edwin Sutherlands Theorie der differentiellen Assoziation zeigen Akteure dann D., wenn sich durch das Lernen in den Kontakten im sozialen Umfeld ein Überwiegen der Situationsdefinitionen ergibt, die D. als akzeptables oder gar wünschenswertes Verhalten ansehen. Durch Rückgriff auf die moderne Lerntheorie hat Ronald L. Akers daraus eine überzeugende D.-Theorie entwickelt. Weiterentwicklungen in verschiedene Richtungen liegen vor. Auch Techniken der Neutralisierung werden erlernt, durch die deviante Akteure sich u. a. von der Verantwortung frei sprechen, den Schaden leugnen/bagatellisieren, ihr Handeln anderen anlasten etc. Da es sich indirekt um die Abwehr von Stigmatisierung handelt, könnte diese Theorie auch zu den mikro-reaktivistischen Theorien gerechnet werden. Dass deviante Akteure i. d. R. solche Techniken einsetzen, zeigt dass sie die Normen, von denen sie abweichen, kennen und ihr Handeln selbst als D. ansehen.

e) Viel beachtet wird jüngst die klassische Theorie der rationalen Wahlhandlung der D. (Jeremy Bentham). Sie geht die davon aus, dass D. dann auftritt, wenn ein Akteur nach seiner rationalen Abwägung des erwarteten Nutzens, der Abschätzung des Entdeckungs- bzw. Sanktionsrisikos und der erwarteten Sanktionshärte zum Ergebnis kommt, dass D. verglichen mit Alternativen das bessere Ergebnis erbringen würde.

f) Makro-reaktivistische D.-Theorien: Sie untersuchen Entstehung und Inhalt von Regeln, Normen, insb. von Strafgesetzen, durch deren Anwendung D. „erzeugt“ wird. Strafgesetze kommen meist durch ein konflikthaftes Ringen von gesellschaftlichen Gruppen um die Durchsetzung von Werten, aber v. a. um die Wahrung von (oft ökonomischen) Interessen zustande, an dem Klassen, soziale Bewegungen, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, aber auch engagierte Einzelpersonen („moralische Unternehmer“) teilnehmen. Rekonstruktionen solcher Prozesse haben komplexe Muster aufgezeigt. Nicht immer sind wirtschaftliche Aspekte entscheidend, auch die Macht der Medien und der Einfluss wissenschaftlicher Experten können bedeutsam sein. Ähnliches gilt für soziale Bewegungen.

g) Mikro-reaktivistische D.-Theorien: Im Zentrum stehen die Interaktionen zwischen einem vermeintlichen Täter/Abweichler und seinem „Opfer“ (bzw. Zeugen der Handlung) und später die Interaktionen dieses Akteurs mit Personen, die informelle und formelle soziale Kontrollen ausüben. Da D. ex post „produziert“ wird, erscheint diesem Ansatz ätiologische Forschung als sinnlos. Erforscht werden die Entstehung, die Anwendung und die Folgen der Anwendung von Normen. Für diese Theorie erfolgt die Zuschreibung der Bedeutung des Handelns des als deviant angesehenen Akteurs interaktiv. Wegen der unterschiedlichen Perspektiven von Täter und Opfer prallen sehr verschiedene Situationsdefinitionen aufeinander. Es mag sein, dass man das Geschehen auf sich beruhen lässt (normalisiert) oder dass sich daraus ein „Fall“ entwickelt, bei dem die informellen und/oder formellen Kontrolleure die ihnen zu Gebote stehenden Mittel nutzen, um das Rechtssystem oder andere Kontrollsysteme (z. B. die Medizin, die Nachbarschaft etc.) zu mobilisieren und dem betreffenden Verhalten und/oder dem Akteur das Etikett D. anzuheften. Für den Verlauf dieses Prozesses sind die Situation und die Merkmale der Beteiligten bedeutsam: u. a. Biographie, soziale Lage, soziale und persönliche Ressourcen, Geschlecht, Alter, Beruf, Prestige, Ethnizität, Macht- und Einflussgefälle zwischen Täter und Opfer, handlungsleitendes Wissen der Vertreter von Instanzen sozialer Kontrolle (Pädagogen, Polizisten, Richter, Ärzte etc.). Am Ende kann eine den „devianten“ Akteur zutiefst sozial diskreditierende Stigmatisierung stehen. Diese Akteure entwickeln aber u. U. Techniken des Stigmamanagements, um diese Entwicklung zu bewältigen. Haftet das Stigma dennoch und wird das Rollenrepertoire des Akteurs so stark beschnitten und seine Identität so sehr negativ geprägt, dass sich als Reaktion darauf weitere „deviante“ Handlungen einstellen, spricht man vom Wechsel von primärer zu sekundärer D. – eine deviante Karriere nimmt ihren Lauf.