Katholizismus

1. Katholizismus als historischer und analytischer Begriff

Inhalt und Verwendung des Begriffs „K.“ variieren mit den politisch-sozialen und regionalen Umständen. Als historisch gewordener Begriff war und ist er zugl. auf seine jeweilige gesellschaftliche Umwelt wie auch auf die katholische Kirche als solche bezogen – und damit auch eng mit der Identität des Katholischen in der Geschichte verwoben. Teils resultierten seine historischen Ausprägungen aus Fremdzuschreibungen zur Qualifizierung von Kirche und Katholiken, teils aus der Artikulation eines katholischen Selbstverständnisses im jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld auf regionaler, nationaler und transnationaler Ebene. Seine bis vor Kurzem stark nachwirkende Fassung hat der Begriff im 19. und frühen 20. Jh. erhalten, einer Zeit, in der insb. im politischen Diskurs ganz selbstverständlich von einem „ultramontanen“, „sozialen“ oder „politischen K.“ die Rede war – zunächst von seinen Gegnern in polemischer Absicht, dann aber auch seitens katholischer Akteure im Sinne einer positiven kollektiven Selbstbezeichnung in den gesellschaftlichen Konfrontationen der Zeit. Die faktische Differenzierung von Kirche und K. führte innerkatholisch zu einem vielfältigen Diskurs um die rechte Zuordnung von Kirche und Welt (Kirche und Welt), von Lehramt und Laienengagement, von Theologie und Politik. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wich teils aufgrund der Entideologisierung der Innenpolitik in den sich etablierenden Demokratien Westeuropas, teils aufgrund der innerkirchlichen Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner Rezeption die ältere politisch-kämpferische Konnotation des Begriffs gesellschaftlich wie innerkirchlich einem offeneren Verständnis. Die Rolle des K. im Rahmen des demokratischen Verfassungsstaats und einer nach 1945 sich überkonfessionell gründenden „christlichen Demokratie“ wurde ebenso betont wie eine neue innerkatholische Vielfalt. Mit der Bejahung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung und der größeren Nähe der Kirche zur Gegenwartsgesellschaft wuchs das Gewicht der verfassten Kirche im sozialen und politischen Handeln von Kirche und Katholiken, was in der deutschsprachigen K.-Forschung die These von der (unausweichlichen) Verkirchlichung alles katholischen Engagements in der Gesellschaft hervorgebracht hat. In der Gegenwart scheinen – vor dem Hintergrund einer europaweiten Spannungs- und Krisenphase des allg. Christlichen wie der katholischen Kirche im Besonderen – die Lebensäußerungen eines von den Strukturen der verfassten Kirche unabhängigen, gesellschaftlich prägenden Engagements von Katholiken, seien dies Laien oder Kleriker (Klerus), geringer zu werden; dem entspricht eine rückläufige Verwendung des K.-Begriffs im öffentlichen Sprachgebrauch.

Aus geschichts- bzw. sozialwissenschaftlicher Perspektive ist daher zweierlei geboten: Zunächst gilt es, den K.-Begriff, seine Varianten und die historischen Phänomene, auf die er angewandt wurde oder wird, in ihrer je eigenen historischen Gebundenheit differenziert zu sehen. Zugl. ist es notwendig, den K.-Begriff analytisch zu fassen und zu reformulieren, um einerseits der historischen Vielfalt und den jüngeren Wandlungsprozessen gerecht werden, und andererseits die bleibende Bedeutung eines weltzugewandten, binnenpluralen K. für Kirche und Gesellschaft (Kirche und Gesellschaft) beschreiben und untersuchen zu können.

2. Begriffsgeschichte

Wissenschaftlich betrachtet existieren aktuell zahlreiche Varianten des K.-Begriffs. In der jüngeren deutschsprachigen Forschung finden sich gut etablierte Positionen und Differenzen. Religionssoziologisch ist der im Wesentlichen reaktiv-ablehnende Bezug des K. zur Moderne herausgestellt worden. Aus geschichts- und politikwissenschaftlicher Perspektive ist K. definiert worden als „nationale oder regionale Gesamtheit der Katholiken, die kraft ihrer staatsbürgerlichen Rechte und inneren Bindung an die Kirche deren Interessen wahrnehmen oder Dienste leisten, welche die Kirche der Gesellschaft zu leisten fähig und verpflichtet ist“ (Hürten 1995: 374). Betont wird, dass K. und moderne Gesellschaft von Anfang an keine ausschließlich antagonistischen Größen gewesen sind. Aus systematisch-theologischer Sicht ist und bleibt der K.-Begriff sperrig, denn er ist kein lehramtlicher. Im Anschluss an Karl Rahner sah man aus systematisch-theologischer Perspektive im K. die Gesamtheit all jener „Lebensäußerungen und Auswirkungen“ der Kirche in der Gesellschaft, welche durch wechselnde, d. h. historisch kontingente Umstände bedingt sind und deshalb „weder zum bleibenden Wesen der Kirche gerechnet noch als dessen notwendige geschichtliche Ausprägung angesehen werden können“ (Rahner 1961: 89). Diese lange gepflegte definitorische Abgrenzung legt allerdings heute das Missverständnis nahe, die Kirche selbst habe keinen eigenen Weltbezug. Dieser aber ist ein wesentlicher Impuls der Kirchenlehre des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Die Schwierigkeiten des K.-Begriffs resultieren allerdings nicht allein aus solchen definitorischen Differenzen. Der Begriff hängt vielmehr auch mit weiteren sozialen und wissenschaftlichen Kern- bzw. Deutungsbegriffen zusammen, die ihrerseits definitionsbedürftig, weil ebenso strittig und zeitgebunden sind. Solche Kernbegriffe sind etwa „Revolution“, „Demokratisierung“, „Moderne“, „Säkularisierung“, „Verkirchlichung“, „Entweltlichung“, „Individualisierung“, „Religiosität“, „Diversität“ und einige mehr. Diese Querbezüge verweisen auf die prinzipielle Zeitgebundenheit von Definitionen. Ein Überblick über die Geschichte des K. kommt deshalb nicht mehr umhin, auch die semantisch-deutende Ebene zu historisieren und sie von der geschichtlich beschreibenden bzw. erklärenden Darstellung zu unterscheiden.

In Reaktion auf die Säkularisation erhielt der K.-Begriff bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. eine starke „ultramontane“ Färbung. Katholischerseits galt die Selbstorganisation des K. „als sicherste Bürgschaft der religiösen Freiheit und der politischen Ordnung und Unabhängigkeit“ der Kirche (Dieringer 1850: 763). Zugl. wurde die autoritative Macht des säkularen Staates vorwiegend als „protestantisch“ identifiziert. Umgekehrt diente der K.-Begriff Liberalen und Protestanten als eine ständig aktivierbare semantische Projektionsfläche für die vermeintliche oder tatsächliche politische, gesellschaftliche und kulturelle Devianz und Rückständigkeit der religiös-konfessionell bestimmten Minderheit der Katholiken.

Mit den Kulturkämpfen des 19. Jh. trat eine dezidiert (partei-)politische Aufladung des Begriffs hinzu. Sie zwangen zur inneren Geschlossenheit und mobilisierten bis in den Alltag hinein ein katholisches Selbstverständnis, das sich im katholischen Milieu als sozialer Großformation und katholischen Parteien wie dem Zentrum oder der Schweizerischen Konservativen Volkspartei verdichtete. Diese von außen forcierte und nach innen proklamierte Geschlossenheit ermöglichte es aber zugl. liberalen Strömungen des K., im katholischen Selbstverständnis ein (sozial-)politisches Engagement zu verankern, das sich begrifflich und praktisch auf den Boden der entstehenden, marktdominierten Industriegesellschaft stellte (sozialer K.).

Innerkirchlich führten die Modernitätskonflikte hingegen ständig zu autoritativen lehramtlichen, und d. h. immer auch semantischen Bereinigungen. Alles was vom ultramontanen Kirchenverständnis abwich und kirchenrefomerische Anliegen artikulierte, verfiel der päpstlichen oder ultramontanen Deutung als „liberal“, „national“ oder „modernistisch“ und wurde als nicht-katholisch verurteilt.

In der Zwischenkriegszeit trat begrifflich ein neues Gegensatzpaar innerkatholischer Selbstbeschreibung hinzu, das rückblickend auf tiefliegende Bruchlinien hinweist. Der politische und soziale K., der nach 1918 in einem nie zuvor gekannten Ausmaß politisch und gesellschaftlich Verantwortung übernahm, interpretierte sich und seine Geschichte als Ausdruck einer aus dem 19. Jh. stammenden, von unten getragenen, sozial wie politisch mächtigen, weil einheitlichen und kirchlich unterstützten „katholischen Bewegung“. Diesem Selbstverständnis als Bewegung wurde von der Kirchenführung unter Papst Pius XI. wie von Kritikern des deutschen Verbands- und Vereins-K. das Konzept der „Katholischen Aktion“ entgegengestellt. Die missionarische Frontstellung der Katholischen Aktion gegen eine als säkularistisch verstandene Moderne enthielt im Kern allerdings eine Absage an eine pluralistische Gesellschaft. Schlussendlich blieb auch die auf den katholischen Zusammenhalt zielende bloße Aktualisierung des älteren (ultramontanen) Selbstverständnisses von K. als „reine, universale u. unabhängige Religion“ und eines K., der „indifferent gegen weltliche Gebilde“ ist, „solange seine religiösen Aufgaben, seine Lehren u. seine Entfaltung durch sie nicht[-]freundlich od. feindlich berührt werden“ (Schnitzler 1929: 76), im politischen Streit zwischen Diktatur und Demokratie viel zu unscharf und war daher nicht nur anfällig, sondern auch z. T. förderlich für autoritäre Konzepte von Staat und Politik.

Die tiefe Zäsur von 1945 erzwang nach dem Zivilisationsbruch, den die nationalsozialistische Herrschaft (Nationalsozialismus) mit ihren systematischen grausamen Menschenrechtsverletzungen insb. an Juden und anderen Minderheiten darstellt, eine Relektüre von Begriff und Geschichte des K. Dies galt v. a. in Deutschland, aber auch darüber hinaus. In Frage stand, ob der Begriff „politischer K.“ als solcher noch brauchbar oder mit der Deutschen Zentrumspartei 1933 untergegangen sei. Nicht wenige wollten den Begriff, weil durch das unrühmliche Ende der katholischen Partei belastet, hinter sich lassen und bevorzugten eine Sprachregelung, die von „Christdemokratie“ und „katholischer Politik“ für Demokratie und Menschenwürde ausging. Innerkirchlich blieb aber parallel dazu das Konzept der Katholischen Aktion v. a. unter einigen Bischöfen im Umlauf. Das Zweite Vatikanische Konzil entschied dann die nicht nur semantisch ausgefochtenen Streitigkeiten um die Stellung von Kirche und Katholiken zu Demokratie und Moderne zugunsten eines K. auf dem Boden der christlichen Demokratie (GS 76). Zugl. und wohl langfristig noch wirkmächtiger, veränderte sich das Selbstbild der Kirche in ihrem Bezug zur Welt. An die Stelle der strikten Unterscheidung von Heilsinstitution und Welt trat eine Semantik, in der die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, […] auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“ wurden (GS 1). Die Vertreter der Kirche selbst sahen sich berufen, sich politisch in Sachfragen zu artikulieren und zu engagieren. Dieser Wandel ist als wesentlicher Bestandteil einer „Verkirchlichung“ des K. ausgemacht worden. Diese Deutung allein dürfte aber zu kurz greifen. Vielmehr zeigt sich ein tieferliegendes Problem, das seit den 1970er Jahren innerhalb des K. besteht und rein begrifflich nicht aufzulösen ist: „Man wird hierin [in dem politischen Engagement der Kirche] keine bloße Neuauflage eines politischen Katholizismus oder Klerikalismus unter veränderten ideologischen Vorzeichen (früher hierarchisch beeinflusste konfessionelle Verbände, Einrichtungen und Parteien, jetzt eine in politische Tages- und Sachfragen verwickelte, ‚politisierte‘ Kirche) vermuten, […] wohl aber, was vermutlich mehr ist, einen Ausdruck von Unsicherheit über die glaubensspezifische gesellschaftliche Funktion der Kirche, die gelegentlich mit gesellschaftskritischem Pathos überspielt wird“ (Seeber 1970: 485).

In der historisch-gesellschaftlichen Realität und damit im Außenbezug des K. und seiner jeweiligen Spielarten schlagen sich freilich diese innerkatholischen Diskurslinien mehr oder weniger bedingt und dann stets vermittelt durch das Kräfteparallelogramm sozialer Gruppen und katholischer Persönlichkeiten nieder.

3. Phänomengeschichte des politischen und sozialen Katholizismus

Auch wenn der Begriff „K.“ heute mitunter noch gebraucht wird, um allg. die katholische Welt und Weltsicht im Gegensatz zu dem aus der Reformation entstehenden „Protestantismus“ zu bezeichnen, so ist der K. nach vorherrschendem Verständnis v. a. eine politisch-soziale Bewegung vorwiegend katholischer Laien im Kontext der sich entfaltenden Moderne. Diese Bewegung entsteht im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen politischen Strömungen und sozialpolitischen Initiativen infolge und in Reaktion auf die Französische Revolution und die bald danach von Großbritannien aus sich in Europa rasch ausbreitende Industrielle Revolution (Industrialisierung, Industrielle Revolution). Die Frage der konfessionellen Identität und der Politik für eine bestimmte Konfessionsgruppe (der Katholiken) stellte sich dabei in den verschiedenen politischen Geographien des konfessionell gespaltenen, teils zersplitterten Europa auf unterschiedliche Weise, und sie liegt oftmals quer zur Frage der generellen politischen Grundorientierungen „konservativ“ und „liberal“ bzw. später „sozialistisch“ sowie ihrer Mischformen.

Dies lässt sich bereits in der Frühphase des K. beobachten, in der quer durch Westeuropa sehr unterschiedliche politische Konzepte von der Monarchie bis zur parlamentarischen Demokratie vertreten wurden. Im scharfen Kontrast zu den katholischen Vordenkern der Restauration wie Joseph de Maistre oder Juan Donoso Cortés erkannte und analysierte Alexis de Tocqueville am Beispiel der USA ebenso hellsichtig wie nüchtern den Aufstieg der modernen Demokratie und betonte die innere Verwandtschaft von Christentum und demokratischer Gesellschaft im Blick auf die Gleichheit aller Menschen vor Gott.

De facto war für den K. die politische Mobilisierung der Gesellschaft im 19. Jh. bestimmend. Bes. dort, wo die katholische Konfession trotz beachtlicher Mitgliederzahlen strukturell in der Minderheit war, agierte der K. zuerst (kirchen-)politisch, später auch partei- und sozialpolitisch aus der Defensive gegen einen teils aufgeklärt-liberalen, teils protestantisch-nationalen Mainstream. Die Entstehung der Deutschen Zentrumspartei und des sie tragenden, v. a. im letzten Drittel des 19. Jh. im Zuge der Hochindustrialisierung rasch entfalteten Vereins- und Verbands-K. war zunächst sichtbarer Ausdruck dieser in Kulturkämpfen herbeigeführten Homogenisierung des Katholischen, das sich anfangs bes. um den Papst und die „Römische Frage“ scharte. In Deutschland trat der Verlust des Kirchenstaats und die unsichere Lage des Papsttums spätestens ab den 1890er Jahren erkennbar hinter dem Willen zurück, Teil der aufstrebenden deutschen Nation zu sein. Der in Kaiserreich und Weimarer Republik geleistete Beitrag des K. zur Sozialgesetzgebung war Ausdruck und Markenzeichen eines auf eine Aussöhnung mit den Vorzügen der Moderne gerichteten politischen Strebens. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Zentrumspartei trotz interner Divergenzen in der Demokratie- und Föderalismusfrage (BVP) vom Anfang bis in die Phase des Niedergangs ein Garant der Weimarer Republik und verlässlicher Regierungspartner in der ersten deutschen Demokratie.

Außerhalb der gemischt-konfessionellen Länder verfolgte Pius XI. mit der von ihm propagierten Katholischen Aktion einen kirchlichen Leitungsanspruch gegenüber Gesellschaft und Politik. Dieses Modell stand dem des sich frei und eigenständig organisierenden (Laien-)K. diametral entgegen. In katholischen Ländern erleichterte es den Sieg autoritärer bzw. faschistischer Herrschaft; zuerst in Italien und Spanien, etwas später in Österreich, Portugal, Ungarn und der Slowakei. In Deutschland schwächte im Schicksalsjahr 1933 das Insistieren des Vatikans auf eine, wenn auch modifizierte Umsetzung der Katholischen Aktion die an Verfassung und (liberalem) Rechtsstaat orientierten Kräfte im deutschen K.

Die ältere Tradition des organisierten K. als gesellschaftspolitisch wirksamer Bewegung lebte in den parlamentarischen Demokratien der Nachkriegszeit fort. Während die katholischen „Milieuparteien“ älteren Zuschnitts in Deutschland nach 1945 nicht mehr erfolgreich wiederbelebt werden konnten (bzw. sollten) oder wie in den Niederlanden und der Schweiz erst später zu christdemokratischen Volksparteien umgewandelt wurden, flossen zentrale Elemente des älteren K. in die neuen überkonfessionellen Volksparteien der aufstrebenden „christlichen Demokratie“ ein. Z. T. schon im Ausgang des Zweiten Weltkriegs entstanden als neue christdemokratische Parteien die CDU/CSU (1945/50), die Democrazia Cristiana (1945), das Mouvement républicain populaire (1944) und die ÖVP (1945). Die Christdemokratie der Nachkriegszeit, die ausgehend von der Schweiz schon damals stark international vernetzt war, legte eine entscheidende Basis für eine „demokratische“ und „soziale“ Politik i. S. v. parlamentarischer Demokratie, sozialer Marktwirtschaft und einer zunehmenden Integration Europas (Europäischer Integrationsprozess) auf der Basis eines christlichen Menschenbildes. Dessen freiheitsbetonte Interpretation des Menschen ermöglichte eine mit den Errungenschaften der Aufklärung vermittelte Grundlegung von demokratischer Politik und pluralistischer Gesellschaft (Pluralismus). Nicht zuletzt die Funktionsnotwendigkeiten einer auf Parteien und Fraktionen aufbauenden parlamentarischen Demokratie brachten es mit sich, dass der Organisationsgrad des Laien-K., aber auch der Strukturen der verfassten Kirche in der Nachkriegszeit (wieder) deutlich zunahm.

Deutlich anders verliefen die Geschicke des K. im Einflussbereich der UdSSR. Die Politik einer erzwungenen Säkularisierung der Gesellschaft ließ in der DDR nahezu ausschließlich Raum für einen verkirchlichten Laien-K. Im Gegensatz zu Teilen der evangelischen Schwesterkirchen suchte die katholische Kirche ihren Bestand durch die konsequente Nichtkooperation der Laien mit dem Regime zu gewährleisten. Erst in der Krisenphase der späten 1980er Jahre traten auch katholische Laien und Geistliche aus dem Schatten der kirchenamtlich auferlegten politischen Abstinenz. So wurden auch katholische Kreise zu Mitträgern der Friedlichen Revolution, die das DDR-Regime gewaltfrei beseitigte.

Pionierland der Demokratisierung östlich des „Eisernen Vorhangs“ war Polen. Unter dem Schutz und mit nachdrücklicher Unterstützung des aus Polen stammenden Papstes Johannes Paul II. erkämpften sich der oppositionelle Gewerkschaftsbund Solidarność und ein liberales katholisches Bürgertum zivilgesellschaftliche Freiräume, die unter dem Eindruck der zunehmenden Schwäche der Sowjetunion zur Liberalisierung und Demokratisierung des politischen Systems führten. Als ungleich schwieriger erwies sich allerdings dann der Weg des polnischen K. in eine pluralistische Gesellschaft. In Ungarn und der Tschechoslowakei bestanden vor 1989 hingegen so gut wie keine Spielräume für ein katholisches Engagement außerhalb der Kirchenmauern.

In Westeuropa bedeutete das Zweite Vatikanische Konzil für den politischen und sozialen K. der Nachkriegszeit Bestätigung und Notwendigkeit zum Wandel zugleich. Bestätigt wurde er in seinem Eintreten für Menschenrechte, Demokratie und Sozialstaat. Ein Umdenken seiner Vorstellungen von innerer Geschlossenheit, die schon bald nach 1945 viele Kritiker aus den Reihen des „anderen K.“ und dann „Links-K.“ an eine Neuauflage des katholischen Milieus erinnert hatte, erforderte hingegen die Lehre von der Autonomie der Kultursachbereiche und die Hervorhebung der Legitimität unterschiedlicher Gewissenentscheide (Gewissen, Gewissensfreiheit) von Katholiken auch und gerade in der Politik (GS 76). Eine Identifizierung des K. mit der Christdemokratie konnte seit dem Konzil nicht mehr als quasi „kirchlich geboten“ dargestellt werden. Das Verhältnis von Kirche, K. und Parteien wurde pluraler und damit in seinen verschiedenen Aspekten für alle Akteure diskutierbar, aber eben auch stets begründungspflichtig. Die verfasste katholische Kirche sah sich selbst stärker denn je als Teil der Gesellschaft und Akteur u. a. in öffentlichen Debatten. In den USA wurde die katholische Kirche in Gestalt der auch hier massiv ausgebauten Bischofskonferenz v. a. in der Ära von Ronald Reagan (1981–89) zu einem mächtigen Akteur nicht nur in der Zivilgesellschaft, sondern auch in der Politik. Ihre erstmals in einem öffentlichen Dialogprozess erarbeiteten Stellungnahmen zur Rüstungs- und zur Sozialpolitik wurden national wie international weithin beachtet. In Deutschland spiegelt sich der Wandel zu einer auch parteipolitisch pluraleren Verankerung des K., wie sie v. a. seit 1990 eingetreten ist, wider in der Zusammensetzung des ZdK und seiner Führungsgremien, in den Organisationsstrukturen und Themen der jüngeren Katholikentage (Deutscher Katholikentag) und deren parteipolitischer Zusammensetzung sowie im Dialog mit seinen Kritikern von links und rechts. Insgesamt haben dadurch in wichtigen Fragen die internen Spannungen und Konflikte nochmals zugenommen. Sie werden wie im Fall der Schwangerschaftskonfliktberatung in Deutschland oder der Gleichstellung der Frau in der Kirche in den USA im Extremfall für Kirche und K. intern nahezu unbearbeitbar, insb. dann, wenn Papst und Kurie direkt intervenieren. In anderen Fällen wie etwa beim anhaltenden Engagement für die europäische Integration, in der Sozialpolitik oder bei anderen Fragen des Lebensschutzes gelingt dagegen, oft in einem ökumenischen Verbund mit der EKD, nach wie vor eine gemeinsame Positionsfindung. Sind die Verbindungsglieder des K. zur Politik vielfältiger und z. T. diffuser geworden, so kann indes von einer undifferenzierten Äquidistanz zu allen Parteien keine Rede kein. Nach wie vor spielen für das Wahlverhalten und hinsichtlich der Mandats- und Entscheidungsträger nachweislich religiöse Überzeugungen und Bindungen an Glaube und Kirche unter Katholiken wie Protestanten eine Rolle. In der Summe besteht in Deutschland die seit jeher größere Nähe von katholischer Kirche und K. zur Christdemokratie bis in die Gegenwart fort. Im Kontext der allg.en, sich verstärkenden Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen in den etablierten westlichen Demokratien haben sich Kirche bzw. K. freilich insgesamt stärker zu gesellschaftlichen Akteuren gewandelt, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, in der politischen Öffentlichkeit Stellung nehmen und auf die politische Willensbildung Einfluss zu nehmen versuchen.

4. Ein analytischer Katholizismusbegriff für die Gegenwart

Vor dem Hintergrund der vielfältigen Begriffs- und Phänomengeschichte scheint es geboten, den K.-Begriff stärker als bislang als analytischen Begriff aufzufassen und zu verwenden. Der analytische K.-Begriff ist durch zwei wesentliche Bezugspunkte bzw. Festlegungen bestimmt: K. wird erstens als ein Phänomen der Modernisierung bzw. der Entstehung von modernen demokratischen Gesellschaften verstanden. Der K. in seinen verschiedenen Spielarten ist ein Resultat der funktionalen Differenzierung westlicher Gesellschaften, die eine dauerhafte Spannung zwischen dem Religionssystem und den übrigen gesellschaftlichen Teilsystemen erzeugt hat. In Ablehnung wie Zustimmung bezieht sich der K. auf die mit einer gelingenden Modernisierung einhergehenden, vom jüdisch-christlichen Ethos wie westlicher Aufklärung gleichermaßen gespeisten Fundamentalkonzepte von persönlicher Freiheit und (politisch-rechtlicher) Gleichheit aller Menschen bzw. Bürger. Er stützt sich auf die daraus abgeleiteten religiös-kulturellen, sozialen und politischen Akzeptanz- und Teilhabeansprüche katholischer Personen, Gruppen, Organisationen und Institutionen, die erstere für sich und/oder für andere vertreten. Zweitens und zugl. bezeichnet der Begriff K. gesamthaft die sozial verfasste, in der Gesellschaft wirksame Dimension der katholischen Kirche in ihren unterschiedlichen Bezügen zu und in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt unter Berücksichtigung der aus diesen Bezügen resultierenden Wirkungen. Im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil ist Kirche dabei weit zu verstehen als die Gesamtheit des „pilgernden Volk Gottes“ in seiner kirchlich-institutionellen Verfasstheit sowie seinen vielfältigen, von der verfassten Kirche oft unabhängigen, weil selbstorganisierten Bewegungen und Organisationsformen. Von K. bzw. Varianten des K. im Sinne von gegebenenfalls auch verschiedenen oder divergierenden „Katholizismen“ ist immer dann zu sprechen, wenn Mitglieder und Repräsentanten des Christentums in seiner römisch-katholischen Fassung außerhalb des Teilsystems Religion in modernen Gesellschaften unter Berufung auf Kirche, Glauben und christliches Gewissen aktiv werden, in Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Kultur Einfluss zu nehmen versuchen und womöglich Macht und Verantwortung übernehmen.

Mit einer solchen Definition lassen sich katholische Kirche und K. also analytisch unterscheiden und jeweils theoretisch und empirisch untersuchen. In dogmatischer und pastoraler Hinsicht bleibt die katholische Kirche Gegenstand der Theologie, sofern es um ihre Glaubensverkündigung und Selbstauslegung geht. Im Hinblick auf die Einflussnahme von Kirche und Katholiken auf ihre Umwelten, also den K. im hier definierten Sinne, kann und sollte dieses Handeln und seine strukturellen und kulturellen Voraussetzungen mit den Mitteln der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften untersucht werden. Da es sich um eine analytische Begriffsunterscheidung handelt, führt diese Definition von K. nicht zu einer schematischen Trennung oder gar Separierung. Die (verfasste) katholische Kirche und der K. sind und bleiben in letzter Konsequenz immer zwingend aufeinander bezogen, wurzeln sie doch – theologisch gesprochen – in der einen Heilsgeschichte des Christentums. In der kontingenten sozialen Wirklichkeit ist dieser Wechselbezug aber mal mehr, mal weniger stark ausgebildet. Insb. unter modernen Bedingungen sind der religiöse Selbstvollzug der Kirche und der durch seinen Gesellschaftsbezug definierte K. analytisch auseinanderzuhalten. In freiheitlichen Gesellschaften ist die Differenz von Kirche und K. zudem konstitutiv und damit auch für den kirchlichen Selbstvollzug unverzichtbar, bewahrt dies doch die verfasste Kirche vor einer Überdehnung ihrer religiösen bzw. geistlichen Autorität oder gar fundamentalistischen (Fundamentalismus), anti-modernen (Antimodernismus) Versuchungen. Dieses Verständnis von K. sowie die Existenz eines pluralen K. entsprechen strukturell der modernen Autonomie der Kultursachbereiche (GS 76). Wie diese Differenzierung zwischen Kirche und K. sich im Einzelfall darstellt, gehört in den Bereich des historisch Kontingenten und des daher v. a. empirisch zu Erforschenden. Eine Kernaufgabe der K.-Forschung ist es, diese analytische Begriffsbestimmung und ihre Potentiale für eine vergleichende, interdisziplinäre Erforschung der Katholizismen in globaler Perspektive fruchtbar zu machen.