Seelsorge

1. Begriff, Abgrenzung und Gliederung

S. ist ein menschliches Grundphänomen, das im Christentum jedoch bes. Ziele, Formen und Vollzüge erhalten hat. Wie sich der Mensch als Wesen der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung erfährt, ist er nicht allein instinktdeterminiert und reagiert nicht bloß auf Reize, sondern integriert diese in ein zielgerichtetes, sinnhaftes Handeln, das sich selbst und das eigene Tun mit einer Deutung des Kosmos in Beziehung setzt. In diesem Sinnhandeln ist das Phänomen Seele in einem Gegenüber zum Leib und seinem Funktionieren dem Menschen als dem „noch nicht festgestellte[n] Tier“ (Nietzsche 1960: 623; Herv. i. O.) ursprünglich gegeben, wie auch immer es dann sekundär verstanden wird (von einer unsterblichen Seele bis zu einer höheren biologischen Gehirnfunktion). S. ist darum primär die Sorge für die eigene Seele, d. h. Hinwendung und Sorgfalt bei der Orientierung des eigenen Sinnhandelns und Integration des einzelnen Aktes in einen Lebenssinn. Das wichtigste Mittel dieser Sinngebung seiner Handlungen ist die Sprache. Das Christentum (wie schon das Judentum) greift dieses Urphänomen auf, stellt es in den Mittelpunkt seiner Praxis und wertet es auf. Auch hier ist S. zunächst Selbstsorge, und zwar in einer neuen Radikalität, nämlich der von Heilsgewinn und Heilsverlust. Ebenso selbstverständlich ist von Anfang an die S. für andere. Sie hat stets etwa in Form der correctio fraterna (geschwisterliche Zurechtweisung nach Mt 18,15–17) oder der „geistlichen Werke der Barmherzigkeit“ (Bellarmin 2013: 134) das christliche Miteinander bestimmt. Deren Kern ist freilich nicht das explizite Wort an den anderen, sondern das Gebet für ihn. Neben diese allgemeine christliche S. tritt nach dem Vorbild Jesu von Anfang an auch das vollmächtige Wort gesandter, von der Kirche beauftragter Seelsorger (paradigmatisch die Binde- und Lösegewalt nach Mt 18,18, später mit dem kanonistischen Fachbegriff cura animarum/epimeleia ton psychon versehen oder auch bei Papst Gregor I. mit dem biblischen Bild vom Hirten cura pastoralis benannt). Auch die Sorge für andere radikalisiert sich in ihrer christlichen Dringlichkeit. Denn nun besteht sie nicht mehr hauptsächlich darin, Einzelnen zu einer guten Anpassung an den Kosmos zu verhelfen. Vielmehr vermittelt christliche S. den Ruf heraus aus der „sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise“ (1 Petr 1,18), somit heraus aus den von Familie, Herkunft und Brauch bestimmten Lebenswelten hin zu einem Leben unter dem Anspruch des „Kehrt um und glaubt“ (Mk 1,15). Konkret zeigt sich dieses Un-Angepasste in der Kirchlichkeit der S., insofern die Ek-klesia der institutionalisierte Ruf aus dieser Welt in das Reich Gottes ist. So kann das gesamte Handeln der Kirche als S. bezeichnet werden, insofern es den Menschen zum Heil verhelfen will. Insgesamt zeigen sich im Begriff der S. also zwei Spannungsfelder: das zwischen menschlicher und christlicher S. und das zwischen der S. aller Gläubigen und der vollmächtig-amtlichen cura animarum.

2. Selbstverständnis und Standards christlicher Seelsorge

S. ist im katholischen Raum synonym zu „Pastoral“. Im engeren Sinn ist sie jedoch die vorwiegend gesprächshafte Zuwendung zum Einzelnen. Bei den Standards kehren die beiden Spannungspole (menschlich-christlich und Laien- und Amts-S.) wieder, ersterer in der fruchtbaren Spannung von S. und Psychotherapie. Während nämlich vorneuzeitlich die Psychologie als Teil der Philosophie weitgehend in ein theologisches Menschenbild und eine entsprechende S. integriert war, muss sich eine heutige S.-Lehre gegenüber einer autonomen Psychologie (besser: einer Vielzahl von Psychologien, manchmal auch als Religionsersatz instrumentalisiert) in Rezeption und Abgrenzung selbst neu bestimmen. Daraus kann S. in einem „pragmatischen Eklektizismus“ (Wollbold 2000: 56) aus Psychotherapie und sozialpädagogischer Beratung viele Elemente der Grundhaltungen (etwa Empathie, Akzeptanz und Kongruenz nach Carl Ransom Rogers), des Settings, anamnetischer und diagnostischer Verfahren und der Gesprächsdynamik rezipieren, ohne doch das eigene Ziel (Heil im umfassenden Sinn), Selbstverständnis und die eigene Professionalität aus dem Auge zu verlieren. U. a. zeichnen sich viele ihrer Formen durch eine größere Alltagsnähe und Niedrigschwelligkeit aus. So gibt es heute ganz zu Recht eine Pluralität von S.-Konzeptionen.

Wichtig für fruchtbare Verbindungen mit der Psychologie war die US-amerikanische Bewegung des Clinical pastoral training (Klinische S.-Ausbildung) bzw. pastoral counseling (Anton Theophilus Boisen, Seward Hiltner u. a.), die seit den 60er Jahren des 20. Jh. in Protestantismus (Joachim Scharfenberg, Dietrich Stollberg u. a.) und Katholizismus (Josef Schwermer, Josef Goldbrunner) rezipiert und zu einer eigenen Disziplin wurde, der Pastoralpsychologie. In den letzten Jahren ist durch die Profilierung von spiritual care im Rahmen der medizinischen Wissenschaft das Thema S. auch außerkirchlich neu relevant geworden. Dies könnte freilich auch dazu führen, dass das christliche Profil insb. der Krankenhaus- und Hospiz-S. verloren geht. Dadurch könnte die Diskussion zwischen den therapeutischen und den verkündigenden S.-Konzepten der liberalen und der Dialektischen Theologie neu an Bedeutung gewinnen. Lösungen sollten allerdings nicht allzu grundsätzlich, sondern in theologisch verantworteter Pragmatik eines Sowohl-Als auch gesucht werden.

Die Spannung zwischen Laien- und Amts-S. sollte nicht auf die etwas sterile Diskussion enggeführt werden, ob der Titel von Seelsorgern katholischerseits nur Amtsträgern (Amt) vorbehalten ist. Sie hat Vorläufer etwa im altkirchlichen Mönchtum und dem charismatischen pater spiritualis, in den franziskanischen Laienbewegungen des Mittelalters oder im Anspruch des Pietismus, im persönlichen Gespräch von Christ zu Christ Entscheidendes zum Aufleben des Glaubens wirken zu können. Wohl aber ist das Spezifikum amtlichen Handelns zu wahren, insb. bei den beiden Sakramenten, die auf das engste mit seelsorglichem Handeln verbunden sind, nämlich Buße und Krankensalbung (in diesem Sinn zu verstehen ist der amtliche Seelsorgsbegriff der Übertragung pastoraler Vollmachten an einen Bischof oder Priester für ein bestimmtes Gebiet oder einen Bereich in cann. 150 f. CIC, mit begrenzter Mitwirkung von Diakonen oder Laien in can. 517 § 2 und can. 1032 § 2). Hier sind Modelle der Zusammenarbeit zu entwickeln, die Identitäten wahren und gleichzeitig dem Ziel der salus animarum optimal entgegenkommen. Wichtiger aber dürfte die Frage nach der eigenen Spiritualität der S. sein, die nicht in ausgeliehenen psychotherapeutischen Identitäten bestehen kann. Durch ihren starken Alltagsweltbezug muss sie aber wesentlich Elemente der nicht-professionellen Alltagsberatung aufnehmen. Denn faktisch geschieht ein Großteil von S. nicht zuletzt in der Territorial-S. eher unspezifisch und eingebettet in andere Vollzüge. Fatal wäre es, solchen durchaus prägenden Gesprächen den Charakter einer professionellen S. einfach absprechen zu wollen.

3. Seelsorge als res mixta

Professionelle S. findet nicht nur im kirchlichen Rahmen statt, sondern überall da, wo es gilt, Menschen in besonderen Lebenssituationen und -krisen beizustehen, insb. in oder an Krankenhaus, Kur, Schule, Hochschule, Militär, Polizei, Bundesgrenzschutz, Gefängnis (Anstaltsseelsorge), in Häusern der Altenpflege, in jugendpädagogischen und in sozialtherapeutischen Einrichtungen, Notfall- und Telefon-S. und S. für Schausteller, Migranten, Touristen und Menschen unterwegs, Camper und Kreuzfahrer, im Internet, für Aidskranke und nach sexuellem Missbrauch und viele andere. Rechtlich-organisatorische Grundlage schaffen Gesetze und Verwaltungsverordnungen, bei nichtöffentlichen Trägern zumindest privatrechtliche Verträge einen Rahmen für Anstellung, Integration, Wirkungskreis und ggf. bes. Rechte (z. B. „Geistlichenprivileg“ nach § 139 Abs. 2 StGB). Grundlage für diese Möglichkeit von S. in nichtkirchlichen Organisationen ist eine doppelte: die korporative, positive Religionsfreiheit, die den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht auf pastorales Wirken in der Öffentlichkeit gibt (teilweise noch ausdrücklicher in Staatskirchenverträgen präzisiert), aber auch ein gemeinsames Interesse am Wohlbefinden der sich in diesen Institutionen befindlichen Personen. Beide Begründungen wird man sinnvollerweise auszubalancieren versuchen. Dadurch kann etwa die S. ihre Sonderposition nutzen, Klienten einen Freiraum gegenüber der „totale[n] [Institution]“ (Goffman 1973: 11) von Krankenhaus, Altenheim oder Gefängnis zu bieten. Das gemeinsame Interesse läuft allerdings auch Gefahr, den besonderen christlichen Auftrag, der auch die „Kommunikation des Evangeliums“ (Lange 1981: 101) einschließt, zugunsten einer rein psychotherapeutischen oder bedürfnisorientierten Krisenintervention zu vernachlässigen. Bei nicht kirchenhaft verfassten Religionsgemeinschaften ist vorrangig zu klären, welchen Träger das S.-Angebot hat und inwiefern er diese nicht bloß für Mission oder Proselytismus nutzt.