Identitätspolitik

  1. I. Politikwissenschaft
  2. II. Rechtswissenschaft

I. Politikwissenschaft

Abschnitt drucken

1. Begriffsbestimmung

Rein semantisch betrachtet, stellt der Begriff I. eine Verbindung zwischen den Wörtern "Identität" und "Politik" her. Aus seiner Grundbedeutung abgeleitet, lässt sich Identität als etwas verstehen, das nur mit sich und nie mit etwas anderem übereinstimmt. Identität bezeichnet damit etwas mit sich selbst Gleiches: eine in sich geschlossene und abgrenzbare Einheit (bspw. ein Ding oder eine Person). Diese Einheit kann ein Individuum oder eine Gruppe sein und ist durch eigentümliche Merkmale bestimmt, die das Individuum oder die Gruppe als wesentlich für ihr Selbstverständnis erachtet. Ausgehend von diesen Merkmalen lässt sich eine Abgrenzung zu anderen Individuen bzw. Gruppen vornehmen.

Im engeren Sinn politisch wird Identität erst, wenn mit dem Status als spezifisches Individuum oder der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmte Rechte und Ansprüche erhoben oder verweigert werden können (Hidalgo 2020, S. 4f). Ganz allgemein meint I. deshalb heute vornehmlich den Konflikt um den Status von Gleichheit, Freiheit und Teilhabe (Partizipation) zwischen Gruppen von Minderheiten, die sich als marginalisiert, ausgeschlossen oder diskriminiert betrachten, und der Mehrheitsgesellschaft (Séville 2021, S. 99).

2. Ideengeschichtliche Einordnung

2.1 Denkmodelle der Identität: Zwischen Essentialismus/ Antiessentialismus und Individualismus/ Kollektivismus

Die zeitgenössische I. baut hauptsächlich auf den philosophischen Grundlagen der Postmoderne auf. Um das Phänomen der Postmoderne und die daran anschließende I. ideengeschichtlich adäquat verorten zu können, muss man die Koordinaten betrachten, innerhalb derer Identität gedacht werden kann. Das betrifft einerseits den philosophischen Status der Identität (2.1.1) und andererseits das Verhältnis von Identität und Gruppe (2.1.2).

2.1.1 Der philosophische Status der Identität

Grundsätzlich lassen sich mit dem Essentialismus und dem Antiessentialismus zwei unterschiedliche philosophische Sichtweisen auf das Konzept der Identität unterscheiden, die deren logischen bzw. ontologischen Status näher bestimmen. Der Essentialismus ist eine Position, die ganz allgemein gesprochen davon ausgeht, dass die Dinge ein Wesen haben. Die Identität, also die in sich geschlossene und abgrenzbare Einheit eines Objekts, wird durch ihre zeitlosen und unveränderlichen Eigenschaften bestimmt. Durch die eigentümliche Kombination dieser Eigenschaften, die die Identität zu dem machen, was sie ist, lassen sich verschiedene Identitäten voneinander abgrenzen.

Der Antiessentialismus verneint hingegen, dass die Dinge eine wesensmäßige Verfasstheit haben. Die Merkmale einer Einheit sind zeitlich bedingt und somit einer stetigen Veränderung unterworfen. Damit verliert die Identität auch ihren geschlossenen und abgrenzbaren Charakter. Identitäten sind aus antiessentialistischer Sichtweise als kontingent und prozesshaft zu betrachten.

2.1.2 Das Verhältnis von Identität und Gruppe

Die I. adressiert das Problem der Identität nicht im Allgemeinen, sondern fokussiert sich auf die soziale Dimension der Identität, verstanden als die gesellschaftliche Eigen- oder Fremdzuschreibung von Merkmalen und Kategorisierungen. Folglich wird Identität immer im Verhältnis zu Gruppen gedacht. Dabei spielt es analytisch keine Rolle, ob man die Beziehung von (einzelnem) Individuum zur Gruppe oder das Verhältnis von Teilgruppe zur Gesamtgruppe betrachtet. Schlussendlich geht es immer um das Verhältnis einer kleineren Einheit (Identität) zu einer größeren Einheit (Identität). Der Einfachheit halber soll im Folgenden von Individuum (Einzelperson oder Teilgruppe) und Gruppe (Summe von Einzelpersonen oder Gesamtgruppe) gesprochen werden. Idealtypisch lassen sich hierbei zwei Sichtweisen differenzieren: Individualismus und Kollektivismus (Holismus). Der Individualismus denkt die Gruppe vom Individuum her (Individuum → Gruppe). Die Merkmale einer Gruppe ergeben sich aus der Identität der sie konstituierenden Einzelpersonen. Die soziale Realität als Ganze kann dann analog als die Summe des Verhaltens aller einzelnen Individuen betrachtet werden. Der Kollektivismus denkt das Individuum von der Gruppe her (Individuum ← Gruppe). Folglich nimmt er an, dass die Identität des sozialen Ganzen (als Teil- oder Gesamtgruppe) eine der Identität des Einzelnen vorgeordnete Realität darstellt. Die Eigenschaften bzw. Strukturen des Ganzen üben Einfluss auf die Identität aus bzw. konstituieren diese sogar.

Die Unterscheidungen Essentialismus/Antiessentialismus und Individualismus/ Kollektivismus lassen sich zu einer Matrix kombinieren. Drei dieser Kombinationsmöglichkeiten waren in der Moderne besonders wirkmächtig - Liberalismus, Marxismus und (eine Version des) Konservatismus. So kann man insbesondere den Liberalismus als Theorie verstehen, der, von dem essentialistischen Bild des vernunftbegabten und freien Menschen ausgehend, versucht, eine rationale Gesellschaftsordnung zu entwerfen, welche die individuelle Freiheit garantiert. Der Marxismus hält zumindest formal am essentialistischen Menschenbild des Liberalismus fest, entfaltet seine Kritik am Liberalismus jedoch ausgehend vom historischen Materialismus, der den Menschen wesentlich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt sieht. Bereits gegen Ende des 18. Jh. hat sich eine Spielart des Konservatismus entwickelt, die dem Liberalismus (und später auch dem Marxismus) radikal entgegengesetzt ist (Furedi 2018, S. 14): Sie denkt das Individuum von der Gesellschaft her, vertritt jedoch eine antiessentialistische Vorstellung des Menschen. Elemente dieses Denkens finden ihren Niederschlag auch im Werk von Friedrich Nietzsche, ohne aus ihm dadurch einen konservativen Denker zu machen. Ein durch selektive Interpretation auf Antiessentialismus und Kollektivismus reduzierter Nietzsche wird dann allerdings zentraler methodologischer Referenzpunkt der postmodernen Philosophie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich insbesondere in Frankreich entwickelt (Reckermann 2008: 1ff).

Essentialismus Antiessentialismus
Individualismus Liberalismus
Kollektivismus Marxismus Konservatismus

2.2 Theoretische Formationsphase: Französische Postmoderne

Begründet ist dieser Rückgriff der Postmoderne auf Nietzsche in der Suche vieler dezidiert linker Intellektueller nach einer gesellschaftskritischen Alternative zu dem in diesen Kreisen dominanten Marxismus (Wolin 2019: 9). Wie ist diese Abkehr vom Marxismus hin zur Postmoderne zu verstehen?

Von einer strukturellen Warte aus handelt es sich in beiden Fällen um kollektivistische Ansätze, die jedoch in ihrer jeweiligen Konkretion unterschiedliche Ausprägungen annehmen: Während der Marxismus das Individuum durch die Produktionsverhältnisse bestimmt denkt, sieht die Postmoderne die individuelle Identität primär in Abhängigkeit zur Kultur, verstanden als Sinn- und Bedeutungsstrukturen. Radikaler ist der Bruch in Bezug auf die zugrundeliegende Vorstellung des Menschen: Der Marxismus ist essentialistisch in dem Sinn, dass er von einer überzeitlichen menschlichen Verfasstheit ausgeht. Das Wesen des Menschen liegt in der Arbeit, d. h. in der Fähigkeit, sich in der Arbeit selbst zu erzeugen (Zehnpfennig 2005: XLVI). Durch die falschen gesellschaftlichen Verhältnisse, der Trennung von Arbeit und Kapital, entfremdet sich der Mensch nicht nur vom Produkt seiner Arbeit, sondern auch von sich selbst. Die gesamte Geschichte lässt sich aus marxistischer Perspektive als Rückkehr zum eigentlichen Wesen des Menschen deuten. Die Postmoderne steht jeglicher Annahme über das Wesen des Menschen und aller Ableitungen daraus skeptisch gegenüber. Sie glaubt nicht mehr an "Meta-Erzählungen" (Lyotard 1986: 7). Diese Skepsis ist geschichtlich und theoretisch fundiert. Es sei nach den Schrecken des 20. Jh. geschichtlich evident, dass jeglicher Essentialismus in den Totalitarismus münde. Theoretisch wird die Skepsis durch eine schon bei F. Nietzsche präfigurierte nominalistische Sprachkritik legitimiert: Erstens gibt es keine Kongruenz von Wirklichkeit und Sprache; zweitens entsteht jeder Begriff durch das "Gleichsetzen des Nicht-Gleichen"; drittens konstituiert Sprache Wirklichkeit (Nietzsche 1988: 880). In Bezug auf den Menschen bedeutet das für die Postmoderne, es gibt immer nur den konkreten Menschen mit seinen singulären Eigenschaften. Wenn wir die Eigenschaften eines Menschen durch Begriffe erfassen wollen, so geht ein Teil seiner Besonderheit (seiner konkreten Eigenschaften) zwingend durch die begriffliche Abstraktion verloren. Analog schließen wir, wenn wir ein bestimmtes Merkmal als konstitutiv für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe machen, Individuen von dieser Gruppe aus, wenn sie das Merkmal nicht besitzen bzw. es ihnen nicht zugeschrieben wird. Die kulturellen Sinn- und Bedeutungsstrukturen geben uns die Kategorien vor, durch die wir andere aber auch unsere eigene Identität erfassen können. Unsere Identität ist damit für die Postmoderne etwas durch sprachliche Kategorisierung Aufgezwungenes. Sie ist ein Machteffekt, der immer auch mit Ausschließung verbunden ist (Macht).

Hieraus ergibt sich der Problemhorizont, vor dem sich das postmoderne Denken entfaltet. Einerseits reduziert die Sprache durch ihre Funktion der Abstraktion immer Besonderheit. Andererseits ist nur das wirklich, was wir bezeichnen und durch Sprache anderen verständlich machen können. Weder können wir einfach auf Sprache verzichten noch kann es eine Sprache geben, die die Wirklichkeit als solche adäquat repräsentieren könnte. Folglich glaubt die Postmoderne im Gegensatz zum Marxismus auch nicht an eine herrschaftsfreie Gesellschaftsordnung, in der sich das Wesen (Marxismus) bzw. die Singularität (Postmoderne) des Menschen adäquat entfalten könnte. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie ihren normativen und gesellschaftskritischen Impetus aufgibt (Lindemann 2021: 53, Hahn 2023: 18). Was bleibt, ist in den Worten Foucaults die "endlose Arbeit an der Freiheit" (Foucault 2005: 703).

Diese entfaltet sich v. a. in zwei Dimensionen: Einerseits gilt es, sich die Macht der Sprache und der Limitierung durch gesellschaftliche Kategorisierungen bewusst zu machen. Andererseits versuchen postmoderne Autoren durch Historisierung (M. Foucault) oder sprachliche Dekonstruktion (J. Derrida) die Bestimmtheit der Kategorien aufzulösen. Ein unbestimmter Begriff lässt nämlich keine exakte Zuordnung mehr zu. Die Arbeit an der Auflösung ist aber deswegen "unendlich", weil wir in der sprachlichen Kommunikation immer schon eine feste Referenz eines Begriffs voraussetzen müssen: Wir müssen um die Wirklichkeit durch Begriffe strukturieren zu können, ein Teil dieser Wirklichkeit durch Abstraktion immer ausblenden bzw. ausschließen. Im Sinn der Postmoderne müssen wir den klaren Bezug der Sprache immer wieder neu verunklaren und damit das Ausgeschlossene in den Begriff zurückholen.

2.3 Theoretische Ausdifferenzierung: Identitätspolitik ersten und zweiten Grades

Die Problematik einer solchen Position liegt auf der Hand und leitet über zu der Gestalt, in der I. heute meist auftritt. Würde man nämlich die Integration des Gegensatzes bzw. des Ausgeschlossenen immer weiter fortführen, so kommt man am Ende zu einem paradoxen Begriff: Einerseits müsste er alles umfassen, was schlussendlich gleichbedeutend mit einer universalistischen Position ist. Andererseits lässt er aber keine Subsumption mehr zu, weil er kein Merkmal enthalten darf, das eine Unterscheidung ermöglicht. Die postmoderne I. steht also vor folgendem Problem: Wenn sie Identität politisieren will, im Sinne einer Einforderung von Rechten von bisher Benachteiligten, muss sie ein Kriterium einführen, dass zwischen Privilegierten und Benachteiligten unterscheidet.

Diese Problematik greifen in den 80er Jahren insbesondere die von der Postmoderne inspirierten Sozialwissenschaften in den USA auf. Die Rezeption ist dabei durchaus kritisch; allerdings nicht in dem Sinne, dass der postmoderne Denkrahmen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Vielmehr wird den französischen Vordenkern vorgeworfen, dass sie nicht konsequent genug gewesen seien. Konkret ist damit gemeint, dass sie im Kampf gegen die Ausschließung selbst wiederum bestimmte Gruppen ausgeschlossen haben (Spivak 2008: 27ff). Dementsprechend kommt es auch zu einer verstärkten Ausdifferenzierung der Theorie in spezialisierte Denkrichtungen, die sich jeweils um bestimmte marginalisierte, gesellschaftliche Kategorisierungen gruppieren. Hier sind vor allem die Kategorien "Geschlecht" (postmoderner Feminismus), "Rasse" (Antirassismus) und "Westen" (Postkolonialismus) zu nennen.

Am Beispiel Stuart Halls lässt sich in Bezug auf die Kategorie der "Rasse" gut veranschaulichen, wie die postmoderne I. versucht, die oben skizzierte Problematik zu adressieren. Auch er setzt mit seiner Kritik an der essentialistischen Vorstellung von Identität bei der Sprache an: Begriffe "erzählen uns, dass es innerhalb der hektischen Erschütterungen, Diskontinuitäten und Brüche der Geschichte eine stabile Grundlage gibt, die sich nur sehr langsam verändert" (Hall 2012: 67). Identität ist deshalb für Hall nicht etwas Statisches, sondern muss "als Prozess, als Erzählung, als Diskurs" verstanden werden (Hall 2012: 74). Dementsprechend ist auch die Kategorie der "Rasse" ein diskursives Konstrukt, welches "das enorme Spektrum von […] Differenzen, die in der materiellen Wirklichkeit existieren, als ein System sprachlicher Differenzierungen konstituiert und dadurch bedeutsam" macht (Hall 2018: 70). Durch rassische Kategorisierung wie "schwarz" wird aus der Vielzahl an Merkmalen eines herausgehoben und zum entscheidenden gemacht, das den einzelnen einer Gruppe zuordnet und die Identität so fixiert. Halls Vorstellung von Identität gleicht damit anderen von der Postmoderne beeinflussten Theoretikern wie beispielsweise Judith Butler. Auch für sie ist die Einheit der Identität kein logisches und analytisches Merkmal der Persönlichkeit, sondern eine gesellschaftlich instituierte und aufrechterhaltene Norm der Intelligibilität (Butler 2021: 38).

Ausgehend von seiner eigenen aktivistischen Erfahrung versteht Hall den politischen Übergang von einer homogenen und dauerhaften zu einer heterogenen und prozesshaften Vorstellung von Identität als zweistufigen Prozess: Er differenziert zwischen einer I. ersten und zweiten Grades. Die I. ersten Grades besteht darin, die gleichermaßen aufgezwungene wie abwertende Fremd-Kategorisierung ins Positive zu wenden und sie dadurch zu essentialisieren. Dieser Essentialismus soll nur vorläufig sein und einem spezifischen politischen Ziel dienen: Nämlich im Namen einer gemeinsamen Identität politische Ziele zu artikulieren. In eine ganz ähnliche Richtung argumentiert auch die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak, wenn sie sich für einen strategischen Gebrauch des Essentialismus ausspricht (Spivak 2006: 281). Die I. zweiten Grades soll diesen strategischen Essentialismus wieder aufbrechen. Selbst eine abwertende Fremdkategorisierung die positiv gewendet wird, entgeht nicht der Logik jeder Kategorie überhaupt: Sie schließt aus. Das ausschließende Moment soll kritisch reflektiert und das Ausgeschlossene dadurch immer wieder in den Begriff integriert werden, um eine begriffliche Verhärtung zu verhindern. Identität soll dadurch fortwährend neu verhandelt werden.

3. Kritik der Identitätspolitik

An dieser Modifikation der Theorie offenbart sich dann allerdings die theoretische Widersprüchlichkeit der postmodernen Philosophie überhaupt: Die Auflösung von gesellschaftlichen Kategorien muss ein bloßes normatives Leitideal bleiben (Hahn 2023: 351). Auch die postmoderne I. kommt nicht umhin, sich auf soziale Kategorisierungen zu beziehen, wenn sie politisch wirkmächtig werden will. Die zugrundeliegenden Merkmale für die Zugehörigkeit zu der politisch relevanten Gruppe sind jedoch abhängig von der jeweiligen Fremdzuschreibung, da sie nicht durch einen Bezug auf ein objektives Kriterium gerechtfertigt werden können. Auch bleibt die politische Praxis problematisch: Einerseits ist eine politisch wirksame Mobilisierung auf Basis einer Gruppenzugehörigkeit in vollem Bewusstsein um deren konstruktiven Zwangscharakter kaum vorstellbar. Andererseits besteht bei einem strategischen Gebrauch des Essentialismus immer die Gefahr, sich im politischen Engagement so sehr mit der kollektiven Identität zu identifizieren, dass man sie für wirklich hält (Susemichel/Kastner 2020: 18). Selbst wenn man ein entsprechend fundiertes theoretisches Reflexionsniveau unterstellt, scheint genau dies in der gelebten politischen Praxis der zeitgenössischen I. häufig der Fall zu sein. Dementsprechend setzt die Kritik an der I. - entgegen deren eigentlichem theoretischen Ausgangspunkt - auch nicht bei der Dekonstruktion sozialer Kategorien, sondern zumeist bei der Essentialisierung von Gruppenzugehörigkeit an:

1) Aus der Perspektive des Liberalismus ist nicht der Essentialismus als solcher problematisch, sondern dass er im Kollektiv verortet wird. Die politischen Ansprüche, welche die I. gegen die Allgemeinheit erhebt, werden nämlich nicht entsprechend des Individualismus für Einzelpersonen geltend gemacht, sondern sind an die Gruppenzugehörigkeit gebunden. Ziel ist dabei nicht die Gleichstellung der Gruppe mit der Mehrheitsgesellschaft, sondern die Anerkennung dieser Minderheit als solche, d. h. als eine mit spezifischen Sonderrechten ausgestattete Gruppe (Fukuyama 2018: 97). In letzter Konsequenz wird durch das Insistieren auf partikularen Ansprüchen die für den Liberalismus konstitutive Einheit des demokratischen Volkswillens untergraben, was zu einer gesellschaftlichen Zersplitterung führt (Lilla 2018: 120).

2) Von neomarxistischer und sozialdemokratischer Seite wird gegen den Kollektivismus der essentialistischen I. zweierlei eingewandt: Der Kampf um politische Rechte wird fälschlicherweise auf kultureller und nicht auf ökonomischer Ebene ausgetragen. Dadurch kann der emanzipative Anspruch der jeweiligen sozialen Gruppen auf Systemwandel (Neomarxismus) bzw. sozialpolitische Reformen (Sozialdemokratie) immer nur partikular sein. Die gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben somit im Kern unangetastet bzw. sogar noch schlimmer: die eigentliche Ursache gesellschaftlicher Missstände wird durch eine "Entpolitisierung der Ökonomie" verschleiert (Žižek 2001: 13).

3) Kritik an der I. kommt jedoch auch von deren dezidierten postmodernen Verfechtern. Sie problematisieren nicht die Fokussierung auf die Identität als solche, sondern deren naive Essentialisierung. Sobald sich I. darin erschöpft, eine essentialistische Identitätsvorstellung politisch zur Geltung zu bringen, ist sie gesellschaftspolitisch unzureichend. Sie muss die I. zweiten Grades als normatives Ziel im Blick haben, d. h. sie muss "an der Abschaffung der eigenen Identität […] arbeiten" (Hardt/Negri 2010: 333).

II. Rechtswissenschaft

Abschnitt drucken

1. Begriff

I. ist eine theoretisch fundierte Denkströmung mit gesellschaftspolitischem Gestaltungsanspruch. In deren Mittelpunkt stehen zum einen die Anerkennung von Individuen und besonders von Gruppen, die nach essentialistischen Merkmalen wie Ethnie und Religion, sexueller Orientierung oder Geschlecht organisiert sind, und zum anderen der Kampf gegen Diskriminierungen aufgrund dieser Merkmale. Die juristische Relevanz der I., die bislang kein Rechtsbegriff ist, ergibt sich daraus, dass Recht aus jener Perspektive einerseits Anerkennung verweigern und Diskriminierungen bewirken kann, andererseits aber das Instrument für entsprechende Akzeptanz und Abhilfe ist. Das identitätspolitische Denken hat darüber hinaus eine herrschaftstheoretische Dimension, die sich über den Komplementärbegriff der Diversität (Vielfalt) erschließt.

Diversität soll Exklusionen – aufgrund essentialistischer Merkmale – beenden, Marginalisierungen abbauen und gleiche Freiheit in einer Gesellschaft gewährleisten. Der diskriminierte Einzelne sei Teil einer strukturellen Diskriminierung aufgrund unreflektierter Hierarchien und Machtverhältnisse in Staat und Gesellschaft, die auch ohne negative Intention der Handelnden entsprechende Benachteiligungen produzierten und materielle Ungleichheit verstetigten. Die liberale Demokratie ist aus dieser Sicht eine die bestehenden „ungerechten“ Verhältnisse stabilisierende Institutionenordnung. Entscheidungen am Maßstab des „Normalmodells“ und des Allgemeinen reproduzierten und schützten nichts weiter als unreflektierte Privilegien der (Mehrheits-)Gesellschaft. Stattdessen sei jeder Mensch in einer Gesellschaft in irgendeiner Weise „markiert“ und damit Teil einer besonderen Minderheit. „Normalität“ im Sinn eines gesellschaftlichen Maßstabs sei deshalb keine normative Kategorie. Das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsmodus liberaler Demokratie gerät unter Verdacht, Privilegien in den bestehenden Herrschaftsverhältnissen als „Recht des Stärkeren“ fortzuschreiben. Das Gesetz kann mit seinen abstrakt-generellen Differenzierungen nämlich die Gleichheits- und Freiheitsrechte verletzende Kategorien schaffen.

2. Ansatzpunkt im Recht

Das Recht bietet verschiedene Ansatzpunkte für I. Zunächst kann das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsmodus in repräsentativen Gremien delegitimiert werden, weil in einer demokratischen Mehrheitsentscheidung ohne identitätspolitischen Minderheitenschutz eine verweigerte Anerkennung, eine diskriminierende Missachtung der Minderheit gesehen werden kann. Gruppen, die keine Mehrheitschance haben, können sich zudem als strukturelle Minderheiten betrachten, die durch Sonderrechte in demokratischen Verfahren geschützt werden müssten. Die politischen Rechte der Bürger sind nach dieser Logik um Gruppenrechte, wie bei nationalen Minderheiten, zu erweitern. Dahinter stehen gruppenbezogene Repräsentationskonzepte, die an die Idee deskriptiver Repräsentation anknüpfen, d. h. das zu besetzende Gremium hat im Ergebnis ein möglichst getreues sozio-ökonomisches, ethnisch-kulturelles Abbild der Gesellschaft zu sein. Konkordanzgremien, wie etwa Bürgerräte, könnten diesen Anspruch in die staatliche Willensbildung übertragen und ein zusätzliches Korrektiv zu parlamentarischen Verfahren bilden.

Deskriptives Repräsentationsdenken steht zudem hinter Diversitätsstrategien für die öffentliche Verwaltung. 1994 hatte der verfassungsändernde Gesetzgeber die von der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat empfohlene Aufnahme eines Art. 20b in das GG, wonach der Staat die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten zu achten habe (BT-Drs. 12/6000, 15, 71 ff.), abgelehnt. Über den klassischen Minderheitenschutz hinaus sollten weder die multikulturelle Gesellschaft noch Gruppenrechte in der Verfassung verankert werden. Gleichwohl ist Diversität als politisches Leitbild in den 1990er Jahren in die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen und teilweise in das einfache Recht aufgenommen worden. Rechtlicher Eichpunkt dafür ist die Ermessensbindung, auf Diversität hinzuwirken. Maßstabsbildend dafür stehen die Regierung und Verwaltung, Unternehmen und Bildungseinrichtungen adressierende „Charta der Vielfalt“ oder das Geschlechterparität anordnende Bundesgremienbesetzungsgesetz (BGBl. 2015, I S. 642). Entsprechende Personalstrategien dürften allerdings parallel vom klassischen Leitmotiv getragen sein, die Legitimität demokratischer Herrschaft durch „repräsentative Bürokratie“ und Entscheidungsgremien zu sichern.

Für das Staatsrecht steht die Erweiterung des Legitimationssubjekts (Legitimation) im Mittelpunkt: Es geht um Verfahrensregeln, wie die Abschaffung von Sperrklauseln im Wahlrecht, die bereits für nationale Minderheiten aufgehoben sind, den gruppensensiblen Zuschnitt von Wahlkreisen und um die im Fall der Parität angestrebte Einschränkung der Allgemeinheit der Wahl. Die Forderung nach und Landesgesetze für eine geschlechterparitätische Besetzung von Parlamenten, die auch eine 50 %-Quote in Bezug auf das zu besetzende Gremium bedeuteten, sind von Verfassungsgerichten vorerst zurückgewiesen worden.

Denkbar sind darüber hinaus Quoten für die Kategorien Alter, Ethnie (Ethnizität) und Religion bei der Gremien- und Ämterbesetzung. Die Regelungstechnik einer Quotierung von Ämtern und Gremien und bei Auswahlentscheidungen ist auf identitätsprägende Kategorien grundsätzlich anwendbar. Für das Verwaltungsrecht kommt hinzu, dass jedwede Typisierung und Generalisierung identitätssensibel zu hinterfragen wäre, was die Gegenwartstendenz zur verhältnismäßigen Einzelfallprüfung mit Härteklausel als Regelfall des Verwaltungshandelns verstärken könnte.

Das GG ermöglicht schließlich mit Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG bereits eine Quotenregelung für die Kategorie „Geschlecht“ (Gender). Die Gebote, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken, sind aufgrund der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission in die Verfassung eingefügt worden (BT-Drs. 12/6000, 49 ff.). Das Individualgrundrecht wird von der Staatsrechtslehre teilweise ergänzend als Gruppenrecht in dem Sinn konzeptioniert, dass faktisch allein „Frauen“ als gesellschaftliche Gruppe zu fördern seien. Auch wenn die Norm in der Praxis bislang individualbezogen und häufig nur als Vorzugsregelung bei gleicher Eignung, Befähigung und Leistung im Sinn des Art. 33 Abs. 2 GG auslegt wird, ist die „Gruppenbezogenheit“ in der Rechtspraxis unübersehbar. Politische Parteien haben die geschlechterparitätische Rekrutierung des politischen Personals in ihre Statuten aufgenommen oder müssen sich für entsprechende Unterlassung rechtfertigen.

Noch weitergehend wäre die Akzeptanz eines Rechtspluralismus, d. h. die parallele Geltung von Rechtsordnungen auf einem Territorium und ihre partikulare Anwendung auf identitätsgeprägte Gruppen. Ein Rechtspluralismus müsste in der institutionellen Architektur des Staates insoweit gespiegelt werden, als nur die Gruppen für die Setzung, Änderung und Durchsetzung „ihres Rechts“ zuständig wären.

3. Kritik

Konsequent zu Ende gedacht, stellt I. die Voraussetzungen der liberalen Demokratie zur Disposition. Denn die Regeln und Arrangements politischer Herrschaft in einer liberalen Demokratie, der Grundrechtsschutz eingeschlossen, können aus der Gruppenperspektive als Ausdrucksformen der Mehrheitskultur verstanden werden. I. eröffnet die Möglichkeit, Gesetze bis hin zur Institution des Grundrechtsschutzes mit dem Argument prinzipiell abzulehnen, diese seien wegen ihrer kulturellen Rahmung für abweichende Ansprüche strukturell blind. Das grundrechtsbeschränkende Gesetz drückt aus dieser Perspektive die kulturell imprägnierten Vorverständnisse und Muster der Mehrheit aus. Strenges identitäres Gruppendenken dementiert so die menschenrechtliche Universalität (Menschenrechte) und ermöglicht ein segmentiertes Grundrechtsdenken. Die Grundrechte veränderten unter diesen Bedingungen ihre Funktion, müssten sie doch zukünftig die Partizipationsansprüche der Gruppen moderieren, das Individuum zur Anerkennung der Richtigkeitsansprüche im segmentierten sozialen Raum veranlassen und dessen Austritt aus der identitären Gruppe gewährleisten.

Quoten werfen das Problem auf, dass essentialistische Merkmale wie Geschlecht und Ethnie grundsätzlich nicht änderbar und dem Einfluss der betroffenen Personen entzogen sind. Der „farben- und geschlechtsblinde“ Zugang nach meritokratischen Kriterien wird in einer unausweichlichen Form und ohne Ansehen der Person außer Kraft gesetzt. Dieser Ansatz gerät zudem in einen Wertungswiderspruch zum Antidiskriminierungsrecht, das Differenzierungen zwischen Menschen nach den personenbezogenen Merkmalen (Art. 3 Abs. 3 GG; AGG; Art. 19 AEUV; Art. 21 EuGRC) ausdrücklich untersagt oder zumindest unter Rechtfertigungsdruck stellt und dabei zeigt, dass es keiner binären Logik folgt, sondern politischen Wertungen aufgeschlossen ist.

Der moderne Verfassungsstaat macht die gleiche Freiheit der Staatsbürger und die Repräsentation des Volkes allein vom formalen Bürgerstatus und der Wahlentscheidung abhängig. Dies ist eine Errungenschaft der Aufklärung, die tribale und ständische Herrschaftsverständnisse zurückgedrängt hat. Der Mensch bleibt als citoyen über den Status hinaus unbestimmt. Eine gesellschaftliche Formung, die den Menschen festlegt, unterbleibt. Die liberale Demokratie beruht nicht auf „Identitätsrepräsentation“, sie beruht auf „Vertretungsrepräsentation“.