Individuum

1. Begriffs- und Ideengeschichte

Das lateinische individuum steht wie das griechische atomos für eine nicht weiter differenzierbare Einheit, das Unteilbare, das am Ende einer Analyse stehende kleinste Element. Von den damit verbundenen logischen und ontologisch-metaphysischen Perspektiven des Atomismus geht allerdings nur eine von zwei verschiedenen Entwicklungslinien des Begriffs des I.s aus. Die andere prägt das bereits bei Platon angedeutete Verständnis einer spezifischen Einzigkeit und Besonderheit, das u. a. auch das I. im Rahmen der christlichen Seelenlehre ausmacht. Die Intention, den materialistischen Atomismus der Antike hinter sich zu lassen, prägt in unterschiedlichen Formen den Begriff des I.s bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Heute verwenden wir „I.“ i. d. R. für einzelne Menschen, auch für distinktes Einzelnes überhaupt, zu dessen wesentlichen Bestimmungen eine interne Differenziertheit gehört, die gemäß der Ungeteiltheit des materialistischen Atomismus gerade negiert wird. So kennzeichnet man seit dem 18. Jh. die Auffassung, nach der das I. mit seinen Rechten, Interessen und Bedürfnissen aufgrund seiner zeitlichen oder wesensmäßigen Priorität den Kollektiven wie Staat und Gesellschaft überzuordnen ist, als Individualismus. Insb. die Aufklärung zeigt sich von der Ansicht geprägt, dass das menschliche I. das Ursprüngliche unserer Staats- und Gesellschaftsstruktur sei, die sich umgekehrt als eine Konstellation von Einzelnen konstituiere. So hat sich der Begriff des I.s zu einem anthropologischen Konzept des Selbstbezugs und Selbstverständnisses entwickelt, das mit den Vorstellungen von Differenziertheit, Autonomie und Freiheit korreliert. Emphatisch verstanden bezeichnet er das, was ein Einzelnes zum Einzelnen macht – die Einzigartigkeit eines menschlichen Subjekts, insofern es in seiner Subsumierbarkeit unter allg.e Bestimmungen nicht aufgeht. Damit konnotiert der Begriff des I.s sein abstraktes Pendant der Individualität im Sinne einer Identität, die dem Einzelnen aus der Gestaltung seiner generischen sowie persönlichen Voraussetzungen, Eigenheiten und Möglichkeiten im Zuge eines Individualisierungsprozesses zuwächst. Insoweit ist der anthropologische Begriff des I.s von seiner ontologisch-metaphysischen Herkunft zu unterscheiden.

2. Individuum und Metaphysik

Für die altgriechischen Atomisten besteht das Seiende aus einer Pluralität kleinster, nicht mehr teilbarer Einheiten, aus denen sich die phänomenale Welt konstituiert. Gegen dieses Verständnis von Individuen (I.en)als materielle Atome opponiert Aristoteles, der in mathematisch-naturphilosophischen Kontexten davon ausgeht, dass jede kontinuierliche Größe in immer kleinere Größen teilbar ist, hingegen in logisch-ontologischen Ausführungen I.en im Sinne unteilbarer Einzelsubstanzen oder individueller Akzidenzien annimmt. Da Aristoteles nur Allgemeines als Gegenstand von Wissenschaft anerkennt, scheint eine wissenschaftliche Betrachtung des I.s ausgeschlossen. Dieses kann lediglich Bezugspunkt eines deiktischen „dieses Etwas“, nicht aber einer auf das Allgemeine zielenden Definition sein (metaph. 999a, 1003a, 1030a 9).

Spätantike und Frühscholastik sind, wie Theodor Kobusch (1976) darlegt, geprägt von Kontroversen um die ontologische Priorität des Individuellen vor dem Allgemeinen und von der Ausdehnung des urspr. auf das substantielle Sein beschränkten Begriffs des I.s auf Akzidenzien. In der Hoch- und Spätscholastik vertiefen sich nach Ludger Oeing-Hanhoff (1976) teils metaphysisch, teils logisch-semantisch motivierte Diskussionen um das Individuationsprinzip, d. h. den Ausgangspunkt der Sonderung eines I.s in seiner Individualität, um individuum als transzendentales, d. h. überkategoriales Prädikat, um die Frage der Graduierbarkeit von Individualität und um den universalientheoretischen Status der I.en. Hierbei wird aus nominalistischer Sicht den Universalien der Status von Namen der unter sie fallenden I.en zugeschrieben, denen allein eine eigenständige Wirklichkeit zukommt. Diese z. B. durch Wilhelm von Ockham repräsentierte Position beschränkt sich nicht auf die Metaphysik, sondern impliziert Argumente für die moralische Autonomie des I.s. Die häufig der Scholastik zugeschriebene Formel individuum est ineffabile, nach der nur Allgemeines begrifflich oder wissenschaftlich fassbar sei, findet sich in sinngemäßer Andeutung bereits in der Antike, v. a. aber in der frühen Neuzeit.

G. W. Leibniz zielt im Gegensatz zu der aristotelischen Auffassung der Nichtdefinierbarkeit des I.s auf dessen begrifflich-logische Bestimmung, indem er es als durch einen sog.en vollständigen Begriff i. S. d. Konjunktion aller von ihm aussagbaren Prädikate analysierbar beschreibt. Die insofern begrifflich verschiedenen Monaden fasst G. W. Leibniz überdies nicht als materielle I.en, sondern als ideelle Kraftzentren auf, die mit ihren unterschiedlich ausgeprägten Perzeptionsstufen bzw. Bewusstseingraden individuelle Weltperspektiven konstituieren. Das nach Tilman Borsche (1976) u. a. bei Friedrich Schlegel, Wilhelm von Humboldt und Hegel nachwirkende Motiv klingt auch in Arthur Schopenhauers Version unterschiedlicher Grade von Individualität und divergierender Weltvorstellungen an. Insb. für Hegel spielen vor diesem Hintergrund die Begriffe des I.s und der Individualität in metaphysischen und ästhetischen sowie in natur-, geschichts- und religionsphilosophischen Kontexten eine zentrale Rolle.

Die Philosophie des Deutschen Idealismus trägt dazu bei, dass sich der Subjektbegriff und damit das Verständnis des I.s von dem klassischen substanzmetaphysischen Paradigma insofern löst, als sich die Konzepte von Freiheit und Selbstbewusstsein im Vorstellungsrahmen eines prozesshaften Geschehens, einer von sich aus aktiven Subjektivität, bewegen. Johann Gottlieb Fichte geht in seiner Konzeption der sog.en Tathandlung bzw. konstitutiven Selbstsetzung von einer urspr.en Freiheit aus, die als allg.er, überindividueller Vernunftgrund absolut ist, wobei I.en sich einerseits von diesem allg.en Vernunftgrund her bestimmen, andererseits aber über eine je eigene Freiheit verfügen, die ihre Individualität ausmacht. Insofern I.en aufgefordert sind, den überindividuellen Vernunftgrund als Freiheitsgrund anzuerkennen und die ideelle Gemeinsamkeit des überindividuellen „Wir“ zur Richtschnur des Denkens und Handelns zu machen, deutet sich eine Spannung an, welche das Individualitätsdenken des Deutschen Idealismus durchgehend prägt.

Im 19. Jh. konzentriert sich nach T. Borsche die Verwendung der Begriffe von I. und Individualität auf den Menschen in seinem Verhältnis zu dem jeweils Anderen. In diesem Sinne betrachtet Karl Marx das I. in seinem Verhältnis zur übrigen Natur und als Bestandteil von Sozietät und Staat, wobei die Bedeutung des I.s gegenüber den es umgebenden Verhältnissen zurücktritt. Im Gegensatz dazu betont Friedrich Nietzsche die prinzipielle Ungebundenheit des I.s und konfontiert selbiges mit der Forderung nach befreiender, schöpferischer Selbstverwirklichung entgegen einer Regulierung durch sittliche oder rechtliche Gesetze. Begriffliche und methodologische Untersuchungen zum Individuellen im Gegensatz zum Allgemeinen (Rudolf Eucken, Paul Natorp, Heinrich Rickert) prägen die Zeit des Übergangs vom 19. zum 20. Jh. mit ihren neuen Verhältnisbestimmungen von I. und Geschichte (Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger) sowie I. und Kosmos (Max Scheler, Michael Landmann). Als eine eigene auf das I. konzentrierte Stömung kann der von stoischen Motiven geprägte, wesentlich durch Sören Kierkegaard, Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Karl Jaspers repräsentierte Existenzialismus gelten, der nach Odo Marquard als „eine Philosophie des Einzelnen“ (Marquard 2013: 12) bzw. des I.s zu betrachten ist. Die Kontingenz des Existierens lässt das Vorläufige und Fragmentarische zum Merkmal menschlicher Individualität werden.

3. Individuum und sprachliche Bezugnahme

Unser sprachlicher Bezug auf I.en erfolgt mittels singulärer Termini bzw. Eigennamen (z. B. „Sokrates“), die prinzipiell durch die Verbindung genereller Termini mit deiktischen Ausdrücken („dieser Philosoph“) ersetzbar sind. Insofern kommt deiktischen Ausdrücken eine Schlüsselrolle bei der Identifizierung von I.en und der referenziellen Bezugnahme auf sie zu. Peter Frederick Strawson bindet die Wahrheitsfähigkeit singulärer Aussagen an ein Bezugssystem, in dem auf ein I. mittels der Angabe einer eindeutigen Position innerhalb des Systems hingewiesen wird. Das I. ist dabei Gegenstand einer Identifizierung anhand von Kriterien, die es als ein Einzelnes eindeutig von anderen Einzelnen zu unterscheiden erlauben. Die Identifizierung muss letztlich rückführbar sein auf eine Wahrnehmungssituation, in der deiktisch bzw. demonstrativ auf ein bestimmtes Einzelnes hingewiesen wird. Im Hinblick auf Begriffssysteme und Ontologien erhebt P. F. Strawson die generelle Forderung, dass „für identifizierendes Denken über Einzeldinge ein demonstratives Element unerläßlich ist“ (Strawson 1972: 152).

Singuläre Referenz ist jedoch zusätzlich gebunden an das Selbstbewusstsein, verstanden als privilegierter epistemischer Zugang zu psychischen Zuständen, durch das eine Situation überhaupt erst als die jeweils eigene erlebt bzw. erfahren wird. P. F. Strawsons Ansatz modifiziert insofern die cartesische Konzeption einer substanzmetaphysisch-dualistischen Verbindung von raumzeitlicher Referenz einerseits und Selbstbewusstsein andererseits zu einer Theorie der Person, die einen integralen Typ von Entitäten in der Weise annimmt, dass ein und demselben I. „sowohl Bewußtseinszustände als auch körperliche Eigenschaften“ zuschreibbar sind (Strawson 1972: 130). Das I. erkennt sich als Person, weil es „eine Person unter anderen“ ist (Strawson 1972: 132), wobei, abgesehen von der nach Manfred Frank unklaren Unterscheidung von „I.“ und „Person“, das jeweilige Selbstsein in seiner bewussten Individualität mit ihrem „wesenhaften Bezug auf die Zeit“ (Frank 1986: 100) in den Hintergrund tritt. Während P. F. Strawson die Möglichkeit einer eindeutigen raum-zeitlichen Identifizierung an die Notwendigkeit der Sprecherposition bindet, bleibt bei ihm zugl. das körperhafte Ding als Paradigma einer Ontologie des I.s bestimmend. Dieses Paradigma wird jedoch der Diskrepanz von Selbst- und Fremdreferenz nicht gerecht, die Ernst Tugendhat so beschreibt, dass zwischen beiden zwar eine „veritative Symmetrie“, zugl. aber eine „epistemische Asymmetrie“ bestehe (Tugendhat 1979: 89). Demnach kann die Gegebenheitsweise psychischer Zustände epistemisch nicht mit einer Objektidentifikation gleichgesetzt werden. Die sprachliche Form des Selbstbezugs mittels deiktischer Ausdrücke suggeriert lediglich eine Möglichkeit der individuellen Selbstreferenz, die die Besonderheit des Erlebens, „ich selbst“ zu sein, nicht zum Ausdruck bringt.

Bezieht man sich mit dem Wort „ich“ auf einen psychischen Zustand, dann kommt dieser in entspr.en Aussagen zur Sprache, allerdings ohne Identifizierungsfunktion. Im Anschluss an Ludwig Wittgenstein wird zwischen Subjekt- und Objektgebrauch der Wortes „ich“ unterschieden, woraus sich für M. Frank entweder die Nicht-Referentialität von „ich“ oder aber eine Form der Referentialität von „ich“ ergibt, die nicht auf eine Identifikation nach Art der Fremdreferenz reduzierbar ist. Zentrale Momente einer Semantik der Individualität i. S. d. Sonderstellung der durch „ich“ ausgedrückten Selbstreferenz im Gegensatz zur Fremdreferenz sind nach Michael Bösch (2011: 1229) identifikationslose Bezugnahme, Irrtumsausschluss, notwendige Existenzimplikation und Irreduzibilität. Strittig bleibt, ob es sich bei der erstpersonalen Selbstreferenz des I.s um einen vor-propositionalen praktischen Selbstbezug im Gegensatz zu einer propositional strukturierten Selbsterkenntnis handelt, oder ob jener praktische Selbstbezug wiederum als eine ihrerseits propositional strukturierte Wissensrelation zu begreifen ist. Zur Debatte steht also auch für E. Tugendhat, ob die durch „ich“ ausgedrückte spezifische Individualität allererst vom System sprachlicher Relationen abhängig bzw. begreifbar ist oder nicht.

Aus Sicht der analytischen Ontologie ist die Struktur des sich konstituierenden I.s gemäß der „ich“-Referenz als „ein Sammelpunkt von Verbindungen zu verschiedenen Typen von Entitäten in der Welt, sogar außerhalb der Welt und zu der Welt selbst“ zu verstehen. Dabei kann sich das individuelle Selbstbewusstsein durch diverse Negationen zu anderem in der Weise gestalten, dass Antgonismen wie „Ich – dies“, „Ich – du“, „Ich – wir“ usw. als ein „Netz struktureller Negativitäten“ (Castañeda 1994: 227, 229) zustande kommen. Nach diesem Ansatz interpretiert ein I. sein Selbstsein als Zusammenhang oder Resultat von Ereignissen, und zwar erlebten Ereignissen im Sinne kontingenter Interpretation. Insofern ist das Ich in seiner je eigenen Individualität als ein Interpretationsprodukt zu verstehen, das seinerseits hermeneutischen Verschiebungen unterliegt. Die „ich“-Referenz kann als zentrales Element jener Selbstinterpretation und ihrer kommunikativen Artikulation gelten. Individualität erschöpft sich daher nicht im formalen Selbstbezug, sondern resultiert aus dynamischen, geschichtlich-kulturellen Bezügen, die sich in der unmittelbaren Erfahrung von Einzigartigkeit manifestieren. Demgegenüber geht es bei Fragen pluraler Selbstreferenz darum, wie ein I. sich im Rahmen des „wir“-Sagens artikulieren und zur Geltung bringen kann. Eine solche plurale Selbstreferenz trägt dadurch, dass ein I. sich mit ihr auf eine komplexe Einheit bezieht, zu der es selbst gehört, zur Artikulation und zum Verständnis sozialen Handelns bei.

4. Soziologie und Ethik des Individuums

Menschliche I.en sind i. S. d. aristotelischen zoon politikon-Motivs wesentlich eingebunden in gesellschaftliche Strukturen, die über personale Interaktion und Kommunikation einzelner individueller Akteure hinausweisen. Fragen danach, inwieweit I.en entweder durch gesellschaftliche Prozesse konstituiert werden oder selbst zu deren Konstitution beitragen, stehen im Zentrum einer Soziologie des I.s. Das jeweils vorausgesetzte Konzept von Gesellschaft bzw. Vergesellschaftung korreliert mit dem Konzept und den Bestimmungen des I.s bzw. von Individualität.

Dem Verständnis des I.s als letztem Element von Gesellschaft steht die Auffassung einer Gesellschaft als einem ganzheitlichen sozialen Gebilde gegenüber, als dessen Konstituenten dann nicht I.en, sondern Kommunikationsmechanismen gelten. Die erstere, als methodologischer Individualismus zu kennzeichnende Position geht einher mit der Distanzierung von kommunikationsbasierten holistischen Gesellschaftstheorien. In diesem Sinne wendet sich Max Weber (1972) gegen ein hypostasiertes Kollektivsubjekt, indem er seine Theorie auf individuelle Akteure mit ihren je eigenen Intentionen gründet. Entspr. werden soziales Handeln und soziale Beziehungen auf eine gemeinschaftliche Intentionalität zurückgeführt, die M. Weber als Konstruktionsgrund des Sozialen begreift. Da aber weder alle sozialen Wirkungen von Handlungen auf individuelle Intentionen zurückgehen noch das Phänomen der sozialen Kooperation restlos aus der Gesamtheit individueller egoistischer Nutzenkalküle (Nutzen) ableitbar ist, fordert die Frage, wie es überhaupt zu überindividuellen, gemeinsamen Intentionen kommen kann, zu der Konzeption komplexerer Individualitätsbegriffe heraus – etwa zu Ansätzen einer „Wir-Intentionalität“ oder kollektiven Intentionen, die den sozialkontextuellen Bedingungen ebenso wie dem individuellen Bewusstsein Rechnung tragen. Wird der soziologische Begriff des I.s zur Beschreibung und Explikation von Gesellschaft in Anspruch genommen, treten mitunter Ambivalenzen in der Weise auf, dass die Mechanismen individueller Lebensgestaltung zugl. in deren Standardisierung bzw. Institutionalisierung einmünden und dass das I. aufgrund seines Selbstbewusstseins und seiner Selbstbezüglichkeit eine reflexive Distanz zu gesellschaftlichen Zusammenhängen einnimmt.

Eine Ethik des I.s impliziert nach Heiner Hastedt (1998), die Möglichkeit der Realisierung von Individualität sowie ihre wechselseitige Anerkennung als Wert zu begreifen und Individualität als Wert an verallgemeinerungsfähige Kriterien zu binden. Damit zielt eine solche Ethik nicht nur auf die Reflexion der Bedingungen des Gelingens von Individualität gemäß der Selbstverantwortung des I.s in einer jeweiligen Lebenspraxis, sondern auch auf den normativen Anspruch eines „allgemeinen Rechts auf Individualität“ (Bösch 2011: 1235). Die Vorstellung eines solchen Rechts etabliert sich nicht zuletzt im Rahmen der menschenrechtlichen Selbstauslegung (Menschenrechte) freier I.en, womit Ansprüche an gesellschaftlich-politische Kontexte verbunden sind, insofern sie die Wahrung von Freiheit und Integrität der jeweiligen individuellen Praxis betreffen. Derartige Ansprüche umfassen neben der physischen auch die psychische Integrität, alle Dimensionen von geistiger und politischer Freiheit sowie Eigenverantwortlichkeit der Lebensführung. Eine Begründung des Rechts auf Individualität vor dem Hintergrund menschenrechtlicher Standards rekurriert auf die wohl nur formal zu fassende Gemeinsamkeit einer freiheitlichen Praxis, die dem einzelnen I. Raum für die Verwirklichung seiner Individualität lässt. Sind entspr.e Voraussetzungen erfüllt, bleibt gleichwohl für das I. die Herausforderung einer gelingenden Selbstverwirklichung, die sich u. a. gegen Risiken der Selbst-Entfremdung (Entfremdung) innerhalb der Differenzstruktur einer individualisierenden Lebenspraxis behauptet. Damit impliziert eine Ethik des I.s die klassische Frage nach dem guten oder gelingenden Leben, die, traditionell mit tugendethischen Reflexionen vernüpft, im Rahmen moderner, etwa von Michel Foucault (2004) entwickelter Selbstauslegungsperspektiven in die Frage nach der Authentizität des I.s bzw. in eine „Ethik der Authentizität“ (Taylor 1995: 34) einmündet.

5. Individuum, Individualität, Individualismus

Individualität ist fassbar als Lebensäußerung, die sich im Handeln und Sprechen des I.s artikuliert. Zu den zentralen Momenten unserer Gegenwart zählt, dass eine solche „poietische Expressivität“ (Bösch 2011: 1234) kulturgeschichtlich zum Schlüsselmoment des modernen Begriffs vom I. wurde. Für Niklas Luhmann (1989) ist es die individuelle Form als ästhetische Kategorie im 18. Jh., die den je eigenen Ausdruck des persönlichen Lebens ins Zentrum des Interesses rückt und in der Romantik die Form einer Poetologie der Individualität annimmt. Demgegenüber geht Charles Taylor der Frage nach der Identität von I.en und Gemeinschaften nach, indem er in historisch-systematischer Differenzierung unterschiedliche Arten und Ursprünge des modernen Individualismus differenziert. Bereits bei Michel de Montaigne artikuliere sich ein über den cartesischen Subjektivismus hinausgehender „Individualismus der Selbstentdeckung“ i. S. d. „Erkenntnis des Individuums in seiner unwiederholbaren Besonderheit“ (Taylor 1994: 325). Indessen unterzieht C. Taylor (1995) das neuzeitliche Konzept der menschlichen Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen bzw. sein Selbstverständnis einer kritischen Revision. Das Menschenbild eines autonomen I.s münde in der verfehlten Konsequenz eines Individualismus der Selbstverwirklichung mit seinem Wertrelativismus und Subjektivismus, der Belange jenseits der eigenen Individualität ignoriere und die Beantwortung moralischer Streitfragen letztlich verhindere. Ein Gegenmodell entwirft C. Taylor (2001) in Form des Postulats einer Besinnung auf Werte wie Gemeinsinn und Solidarität mit gemeinschaftsbezogenen Rechten und Pflichten, wobei er die Rolle des Gemeinwesens und die Zugehörigkeit des I.s zu seiner kulturell bedingten Wertegemeinschaft betont.

Impulse für das expressive Selbstverständis des I.s gehen bereits von Jean-Jacques Rousseau und Johann Gottfried von Herder mit ihrem romantischen Motiv einer Individualisierung als Prozess kontinuierlicher Selbstgestaltung aus. Dieser kaum noch rational einzuholende Vorgang weist voraus auf F. Schlegels Konzept poetischer Individualität, die wegen der prinzipiellen Unabschließbarkeit der Individualisierung niemals als Ganzheit zu fassen ist. Vielmehr bleibt die Individualisierung immer fragmentarisch, und das I. fungiert als Einheit des Fragments. Ähnlich wie W. von Humboldt zeigt sich F. Schlegel konzeptionell und terminologisch von G. W. Leibniz’ Monadenlehre beeinflusst, der er seinen Grundgedanken eines Prozesses unendlicher Selbstbestimmung entnimmt. Die Expressivität der modernen Individualität im Sinne Schlegels und Humboldts wird damit auf einen metaphysischen Grund schöpferischer Aktivität zurückgeführt.

Die Kontingenz, die das expressive Selbstverständnis des I.s bedingt und prägt, beruht auf der Gesamtheit der kommunikativen Voraussetzungen, die Hannah Arendt den Konstitutionsbedingungen des I.s als „personale Einzigartigkeit“ (Arendt 1981: 169) zurechnet. Unhintergehbar eingebunden in ein soziales „Bezugsgewebe“, resultiert das I. in seiner Integrität aus einer biographischen Interpretation mit eigener narrativer Struktur nach Art komplexer, aus dem pluralen Zusammenwirken umgebender Personen resultierender „Lebensgeschichten“ (Arendt 1981: 173 f.). Arendts Theorie narrativer Expression schreibt der menschlichen Individualität eine Hyperstruktur zu, in der sich plurale Perspektiven ausdrückende Geschichten zu einem in narrativem Austausch befindlichen Sinnzusammenhang zusammenfügen. Entspr. greift nach M. Frank ein Verständnis von Individualität als eines vom Allgemeinen abgegrenzten Besonderen zu kurz und ist durch eine von Friedrich Schleiermacher inspirierte „hermeneutische Konzeption von Individualität“ (Frank 1986: 121) zu ersetzen. Individualität sei demnach „als eine Eigenschaft nicht von physischen Einzeldingen, sondern von selbstbewußten Wesen“ zu begreifen, insofern „sie ihre Welt im Lichte von Deutungen erschließen“ (Frank 1986: 121 f.).

Neuere Ansätze führen in je eigener Weise aus unterschiedlichen Fachperspektiven die hier skizzierten Untersuchungsaspekte weiter. Während Volker Gerhardt (2000) ideengeschichtlich zeigen will, wie Individualität, systematisch an die Stelle des Atoms gerückt, als archaisches Element das Welt- und Selbstverhältnis des Menschen umfassend bestimmt, entwickelt Markus Schroer eine Typologie negativer, positiver und ambivalenter Individualisierung ausgehend von Positionen der klassischen Soziologie. Für Larry Siedentop mündet die „Erfindung des Individuums“ (Siedentop 2015), die sich wesentlich der christlichen Spätantike und dem Mittelalter verdanke und uns seit dem 16. Jh. Gesellschaft als Zusammenschluss von I.en begreifen lasse, im Zuge der Globalisierung in universalistische Projektionen von Individualität und Individualismus.