Wählerinitiativen

1. Definitionen und Bezeichnungen

Der Begriff der W. umfasst im weitesten Sinne alle Arten von Gruppen von nicht parteipolitisch engagierten Bürgern, die versuchen, Einfluss auf die politische Willensbildung zu nehmen, im engeren Sinne solche Gruppierungen, „die sich außerhalb der politischen Parteien um Mandate in kommunalen Vertretungskörperschaften bewerben“ (Becker/Rüther 1976: 280). Alternativ zum Begriff der W. hat sich im politischen Sprachgebrauch jener der kommunalen Wählergemeinschaften, der „FW“ eingebürgert. Mit den Parteien haben W./FW einerseits gemein, dass sie Interessen bündeln, sich mit Kandidaten an Wahlen beteiligen und die Übernahme exekutiver politischer Verantwortung anstreben; im Unterschied zu Parteien konzentrieren sie ihre Aktivitäten bisher vorrangig auf die kommunale Ebene. Von Bürgerinitiativen unterscheidet sie, dass sie in den bestehenden kommunalen Institutionen operieren und ihre politischen Anliegen nicht zeitlich und/oder thematisch begrenzt sind.

2. Organisationsformen und Selbstverständnis

Anknüpfend an lokale Wählergruppen in der Weimarer Republik, entstanden die W./FW nach dem Zweiten Weltkrieg als bewusste personelle und programmatische Anti-Parteien-Alternative, orientiert an und begrenzt auf eine „überparteiliche“, sachlich-verwaltungsbezogene Kommunalpolitik. Die Kritik und Ablehnung des Parteienstaats ist sowohl unter den Mitgliedern als auch unter den Mandatsträgern – laut Selbstauskunft seit Anfang der 2000er Jahren mit mehr als 280 000 Mitgliedern die drittgrößte politische Bewegung in der BRD – unverändert weit verbreitet. Politisch und soziologisch ist das Engagement der W./FW von Vielfalt charakterisiert, organisatorisch von Doppelgleisigkeit bzw. vom lockeren und/oder unverbundenen Nebeneinander von lokaler und überregionaler Ebene. Zur Gründung von Landesverbänden der FW kam es zunächst 1956 in Baden-Württemberg und Hessen, in Bayern erst 1977. Als Dachorganisation besteht seit 1965 der Bundesverband Freie Wähler Deutschland, dem 2019 14 der 16 Bundesländer angehören. Um als juristische Person Problemen bei der Kandidatur bei überregionalen Wahlen zu entgehen, fungiert seit 2009 als weitere Dachorganisation der FW die allein zu diesem Zweck gegründete Freie Wähler Bundesvereinigung. Deren Bundesorganisation wird maßgeblich aus Bayern bestimmt, v. a. von den zwei Vorsitzenden Armin Greim (1994–2010) und Hubert Aiwanger (seit 2010). Kern der politischen Aktivitäten bleibt zwar die vom Anspruch her parteiübergreifende Kommunalpolitik. Allerdings haben sich insb. die FW durch ihre Kandidaturen bei Bundes-, Landtags- und EU-Wahlen in Organisationsform, Handlungsmustern und Zielsetzung dem Parteien-Status angeglichen.

3. Entwicklung, Einfluss, Bewertung

Die Einflussmöglichkeiten der W./FW auf die Kommunalpolitik weisen deutliche Unterschiede auf. In den Altbundesländern schneiden sie v. a. in Baden-Württemberg und Bayern gut ab, gefolgt von Hessen und Niedersachsen; unter den neuen Bundesländern in Thüringen und Sachsen. Für die unterschiedliche lokale Repräsentation sind regionalhistorische und politisch-kulturelle Gründe und weitere Bestimmungsgrößen ursächlich. Zunächst haben politisch-institutionelle Rahmenbedingungen Auswirkungen auf das Abschneiden von W./FW, insb. das kommunale Wahlsystem, welches wenn es keine Sperrklauseln kennt zudem Listenübertragung und Stimmenhäufung (Panaschieren, Kumulieren) zulässt. Sodann hängen politische Ausrichtung, Stärke und Einfluss der W./FW ab von der Größe und sozialstrukturellen Zusammensetzung der Gemeinden, ferner vom Grad der organisatorischen Präsenz der politischen Parteien auf dem Lande. In kleinen Gemeinden traten und treten W./FW als „ausgewogenes Dorfpotpourri aller Sozialaktiven“ (Wehling 1986: 92) auf, während sie in mittleren und größeren Städten in der Vergangenheit zumeist in Konkurrenz zu den „bürgerlichen“ Parteien CDU, CSU und FDP stehen, zumal als mittelständische Interessenvertretung von Selbständigen. Zu diesem traditionellen Typus trat seit den 1970/80er Jahren ein neuer hinzu, entstanden im Kontext der sogenannten „partizipatorischen Revolution“ und getragen von den Neuen Sozialen Bewegungen (Soziale Bewegungen). Tatsächlich unterliegen die W./FW wie Bürgerinitiativen und andere Formen (einstmals) unkonventioneller politischer Beteiligung wechselnden Partizipationskonjunkturen (Partizipation). Bedeutung und Einflussmöglichkeiten hängen ferner ab von dem Maß an Akzeptanz bzw. Verdrossenheit, das die Bürger den etablierten Parteien entgegenbringen. Zudem kommt es, gerade als Reflex auf Globalisierung und Europäisierung, zur Aufwertung lokaler/regionaler Räume und Probleme. Dies führt zu verstärkter Lokalisierung der Politik und zur Vervielfältigung von deren Themenhaushalt.

Auch hierauf ist die steigende Attraktivität der W./FW in der jüngeren Vergangenheit zurückzuführen. In Bayern erreichten sie 2002 landesweit 15,6 %, dabei – je nach Ortsgröße – zwischen 58 % (Gemeinden unter 2 000 Einwohner) und 8 % (über 100 000 Einwohner). In NRW erzielten W./FW 2004 landesweit 6,5 %, in Thüringen 2004 landesweit 20,3 % und je nach Ortsgröße zwischen 62 % und 12 %, in Sachsen 2004 landesweit 18,5 % und je nach Ortsgröße zwischen 55 % und 13 %. Bei den Kommunalwahlen des Jahres 2014 erzielten die W./FW in Baden-Württemberg landesweit 31,4 %, in Sachsen 24 %, in Bayern auf Gemeindeebene ca. 40 %, in den kreisfreien Städten knapp 20 % der Stimmen und stellen dort eine Vielzahl von Mandats- und Amtsträgern (in Bayern z. B. 12 der 71 Landräte). In Bayern traten die FW seit 2008 auch erfolgreich bei Landtagswahlen (mit 2008: 10,2 % und 2018: 11,6 % der Stimmen) an; sie sind dort seit 2018 als Koalitionspartner der CSU auch Regierungspartei. Außerhalb Bayerns blieben Erfolge der W. bei überregionalen Wahlen bislang allerdings kurzzeitige Episoden.

Die Bewertung der zweifelsohne wichtigen und einflussreichen Rolle der W./FW bei der politischen Willensbildung fällt widersprüchlich aus. Zum einen sind sie als politisches Forum mit integrierender und legitimierender Wirkung insb. auf dem Lande ein bedeutsamer kommunalpolitischer Akteur. Zum anderen treten sie aber mitunter auch wie eine Honoratiorenpartei des alten Mittelstandes auf und pflegen dann die kommunale Selbstverwaltung in einer historisierenden, Interessengegensätze negierenden Weise zu begreifen, in Distanz zu einem pluralen Demokratiebegriff (Pluralismus) über ein verkürztes Repräsentationsverständnis divergierender Interessen zu verfügen und einem wenig veränderten Anti-Parteien-Affekt Ausdruck zu schaffen. Allerdings unterscheiden sich insb. die FW als Folge ihrer Kandidatur bei den überregionalen Wahlen gerade in ihren erfolgreichen Handlungsmustern kaum mehr von ihrer Parteienkonkurrenz.