Leben

  1. I. Philosophisch
  2. II. Rechtlich
  3. III. Theologisch

I. Philosophisch

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1. Begriffliche Struktur

Der Ausdruck „x lebt“ erscheint zunächst verbal als Tätigkeitsausdruck; es ergibt sich ein ausschließender Gegensatz zu „x lebt nicht“. Gleichwohl handelt es sich bei „leben“ nur uneigentlich um eine Tätigkeit, denn lebende Gegenstände werden von nicht-lebenden unterschieden, indem explikativ auf andere Tätigkeiten wie „atmen“, „sich bewegen“, „sich fortpflanzen“ etc. Bezug genommen wird, die zumindest teilweise sinnlich charakterisierbar sind. Der Verbalausdruck „leben“ bezeichnet also ein Vermögen zweiter Ordnung.

Im Sinne determinierender Prädikation erscheinen die Übergänge der Satzformen „x lebt“ zu „x ist lebendig“ zu „x ist ein Lebendiges“ im Wesentlichen bedeutungsgleich: Es werden dadurch zwei Gegenstandssorten unterschieden (nicht zwei Formen des Gegenstandseins; s. u.), indem Gegenständen Eigenschaften, Fähigkeiten oder Fertigkeiten zu- oder abgesprochen werden. Das Prädikat „lebendig“ ähnelt anderen derselben Form, die etwas an einem gegebenen Gegenstand bestimmen – wie z. B. „farbig“ oder „schwer“ (unabhängig von der Differenz in der Stellenzahl). Diese – für lebensweltliche wie lebenswissenschaftliche Verwendung übliche – Redeform verdeckt aber den „intensiv-verbalen“ Aspekt von „x lebt“ wie den „Anmutungscharakter“ von „x wirkt lebendig“ (dazu im Detail König 1937, 1978 und Gutmann 2017).

Fasst man nämlich die prädikative Form intensiv-verbal auf, dann besteht das mit „x lebt“ Ausgesprochene in dem Vollzug des Tätigseins selber, womit zwei Formen des Gegenstandseins unterschieden würden, was Aristoteles durch das „τὸ δὲ ζῆν τοῖϚ ζῶσι τὸ εἶναί ἐστιν“ ausdrückt (an. 415 b 13). Das Lebendigsein bestimmte danach die Art und Weise des Seins von Lebendigem, sodass etwa ein totes Lebewesen nur noch dem Namen nach ein solches wäre. Damit handelt es sich nicht – wie dies die determinierende Prädikation nahelegt – um Körper, denen u. a. die Eigenschaft zukomme, belebt zu sein (Kosman 2013, Thompson 2012).

Das zweite Moment, der Anmutungscharakter, kommt hingegen durch die „modifizierende“ Prädikation zum Tragen, wenn etwa von einer Melodie oder einer Landschaft festgestellt wird, sie „wirke lebendig“. Ersichtlich ist das Lebendig-Wirken nicht mit dem Lebendig-Sein zu identifizieren, sondern bezeichnet die Form seines Wirkens. Es handelt sich auch nicht um bloß (sondern eigentlich) metaphorische Rede. In dieser – für gegenständliche, z. B. lebenswissenschaftliche, Bestimmungen nicht üblichen – Redeform sind auch Steigerungen möglich, wie das „lebendiger-wirken von A gegenüber B“ anzeigt; zudem ist deren Adressierung notwendig – denn sie wirken „auf jemanden lebendig“. Diese Redeform kann u. a. im Sinne ästhetischer Wirkung ausgedeutet werden, ist aber der logischen Struktur nach allgemeiner auf die Beurteilung der Form von Wirkungen bezogen (König 1978, Gutmann 2017).

Beispiele für die auf die Form des Vollzuges von „L.“ abzielende Bestimmung wären etwa Friedrich Schleiermachers Rede von lebendiger Religion oder Karl Marx’ Rede von lebendiger Arbeit. Es handelt sich danach nicht um bloß metaphorische, sondern ursprünglich angemessene Rede für gemeinschaftskonstituierte und -konstituierende Tätigkeitsverhältnisse.

Schließlich sei noch auf die Besonderheit der nominalisierten Form „L.“ hingewiesen, die grammatisch den Anschein des Vorliegens eines Gegenstandes erzeugt – was z. B. vitalistischen Argumenten zugrunde liegt, aber auch immer dann relevant wird, wenn „dem L.“ Werte zugesprochen werden sollen. Als Alternative zur Reifizierung kann unter „L.“ die begriffliche Bestimmung abgeschlossener Vollzüge verstanden werden. Als „L.s-Formen“ können Einheiten unterschiedlicher logischer Struktur figurieren: Neben wesentlich deskriptiv verstandenen lebenswissenschaftlichen Darstellungen (etwa Homo sapiens gegenüber Lumbricus terrestris) treten normativ verstandene durch natural history judgements artikulierte lifeforms (Thompson 2012), z. B. durch Verrechtlichung oder andere normative Strukturen entstandene Praxisformen menschlicher Vergesellschaftung (Jaeggi 2014), aber auch exemplarisch gemeinte individuelle Biographien oder ganze historische Einheiten (etwa Plutarchs Projekt der Doppelbiographien).

2. Philosophische Aspekte

„L.“ ist seit jeher ein Gegenstand philosophisch begrifflicher Bemühungen; diese sind regelmäßig durch Entgegensetzungen charakterisiert, wie etwa von L. und Geist, L. und Form oder L. und Technik. Dabei lassen sich tendenziell zwei Grundpositionen unterscheiden, die schon bei Platon und Aristoteles exemplarisch wirksam werden. Während im „Timaios“ die Tätigkeit des δημιουργόϚ dem ζῷον -Sein des Kosmos nicht widerspricht, werden φύσιϚ und τέχνη bei Aristoteles zu Bezugsbegriffen, welche zumindest partielle Ausschließungen ermöglichen, die einerseits die Unterscheidung von Gegenstandsorten (belebten und unbelebten) wie andererseits von Seinsweisen von Gegenständen erlauben (solche, die ihre Zwecke in sich, und solche, die sie außer sich haben). In dieser Form prävaliert die determinierende Bestimmung, was sich u. a. in den Eigenschaften zeigt, die dem Lebendigen zukommen – im eigentlichen Sinne des ζῷον, bei welchen zum Ernähren und Wachsen die Bewegung und die Wahrnehmung tritt. Der Mensch ist als ζῷον λόγον ἔχον zudem mit der eigentlichen Form der Verstandestätigkeit (Vernunft – Verstand) begabt, was ihn zugleich zum Standard der Beschreibung auch der „niederen“ Formen werden lässt. Diese L.s-Formen lassen sich als ontische Gliederung verstehen, was einerseits zu Abgrenzungsproblemen führt, wie scala rerum-Konzepte zeigen, andererseits zur Frage nach dem Status des Typus (also „die Pflanze“, „das Tier“, „der Mensch“). Zugleich wird das Verhältnis von τέχνη zu φύσιϚ epistemisch prekär, wenn aus technischen Verhältnissen auf natürliche geschlossen werden soll. L. erscheint damit zum einen als Potenzen-Potenz (also die Möglichkeit anderer Tätigkeiten), deren Wirklichkeit die jeweilige Tätigkeit selber ist. Zum anderen wird der lebendige Körper unmittelbar zum σῶμα ὀργανίκόν. Neben das Verhältnis von γένοϚ und εἶδοϚ tritt das von εἶδοϚ und ὕλη, sodass sich der Formbegriff verdoppelt.

Begrifflich treten „organismus-orientierte“ und „lebensorientierte“ Ansätze tendenziell auseinander. Im ersten Fall erscheinen Artefakte – und hier insb. Maschinen verschiedenen Typus – als Bezugsgegenstand für die Beschreibung und Strukturierung lebendiger Körper, wie dies exemplarisch bei René Descartes oder Gottfried Wilhelm Leibniz geschieht.

Im zweiten Fall liegt das Augenmerk auf dem hervorbringenden Aspekt, der gerade die Andersartigkeit lebendiger Körper betont (etwa Johann Wolfgang von Goethe, Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Helmuth Plessner).

Immanuel Kant macht durch regulatives Verständnis der (inneren) Zweckmäßigkeit im Rahmen der reflektierenden Urteilskraft auf den besonderen Status lebendiger Körper aufmerksam, der auch durch ein nur askriptiv gedeutetes „als ob“ der bloß physikalisch-kausalen Betrachtung nicht aufgehoben wird. Dabei kommt Lebendigsein durch (Selbst-)Organisiertheit zum Ausdruck, wobei – im Gegensatz zur nur bewegenden Kraft der Maschinen – lebendige Kraft wirke. Für G. W. F. Hegel bezeichnet „L.“ Formen praktischer Aneignung, zu denen auch die Reflexion gehört; die Zweckbestimmung ist daher nicht nur regulativ zu verstehen. Wie bei Aristoteles ist der lebendige Körper unmittelbar σῶμα ὀργανίκόν. Dies führt G. W. F. Hegel einerseits zu einer funktionalistischen Bestimmung des Lebendigen im Rahmen naturphilosophischer Reflexion, die sich an Erhaltungsüberlegungen orientiert, andererseits zur Darstellung von (rechtlichen) Vergesellschaftungsformen der (bürgerlichen) Gesellschaft. Die Verbindung ergibt sich einerseits begrifflich, mit Blick auf das Resultat der Entfaltung der absoluten Formen der Reflexion, wie andererseits generisch mit Blick auf die Potenzen der Hervorbringung.

Ernst Cassirer entwickelt mit der „Philosophie der Symbolischen Formen“ (3 Bde., 1923–29) den generischen Aspekt der Rede von L. weiter; dieses hat zwar nach wie vor einen Bezugspunkt zum biotischen (im Funktionskreis von Jakob von Uexküll, der um einen „vierten“, den des symbolischen erweitert wird), es ist aber erst die generische Struktur der symbolischen Formen selber, sowie des Systems derselben, die menschliches L. im Ganzen ausmachen. Dabei ist das resultative Moment in den jeweils gewordenen Symbolisierungen (Symbol), das Performative in den jeweiligen Symbolprozessen zu sehen. Auch hier „zeigt sich“ Lebendigsein nur indirekt an den Formen der Betätigungen. H. Plessner schließt an die drei Typen lebendiger Körper an, die sich durch die Form der Grenzbildung unterscheiden (Pflanzen als Dividuen, ohne Zentralorgan, Tiere als konzentrisch, Menschen als exzentrisch positional), wobei sich eine kategoriale Grundlegung auch der L.s-Wissenschaften aus den besonderen konstitutiven Merkmalen oder Modalen ergeben soll. Im Rahmen der phänomenologischen Denkrichtung (Phänomenologie) bildet bei Edmund Husserl der Leib den „Einlageort“ der konstitutiven Leistungen, der bei Maurice Merleau-Ponty zum Zentrum einer Ontologie der Leiblichkeit wird. Martin Heidegger schließlich führt die pragmatistische Daseinsanalytik zu einer Abkehr vom lebensphilosophischen Denken, was in eine grundsätzliche Kritik von lebenswissenschaftlich instruierter Reflexion einmündet (s. „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ [2010]). Dem steht die von Georg Misch und Josef König im Gefolge Wilhelm Dilthey entwickelte Hermeneutik mit einem umfassenden L.s-Begriff entgegen.

Die Besonderheit menschlichen L.s lässt sich begrifflich verdeutlichen, wenn unter βίοϚ die Formen individuierter Einheiten von L.s-Vollzügen innerhalb von Gemeinwesen verstanden werden (Arendt 1996). Menschliches L. ist danach nicht in einfacher Differenz zu tierlichem oder pflanzlichem zu bestimmen, sondern nur in der Form seiner Individualisierung.

3. Lebenswissenschaftliche Aspekte

Für die Entwicklung der neuzeitlichen Naturgeschichtsschreibung und schließlich der Biologie und L.s-Wissenschaften war zunächst die Auseinandersetzung zwischen Mechanizismus und Vitalismus leitend, wobei der Vitalismus in der Form von Organismen einen relevanten Faktor ihrer Konstitution sah, während der Mechanizismus genau dies negiert. Für die modernen L.s-Wissenschaften ist der Vitalismus bedeutungslos – die Versuche Hans Drieschs, diesem ein wissenschaftliches Fundament zu verleihen, können als gescheitert angesehen werden.

Die Leitthese des Mechanizismus besteht hingegen in der Reduktion organismischer Systeme auf physiko-chemische Gesetzmäßigkeiten, was die Auseinandersetzung um Emergenz, Supervenienz und Komplexität bis heute bestimmt, und u. a. regelmäßig zur Frage nach der Selbstständigkeit der Biologie als Wissenschaft führt.

Die Abtrennung der formtheoretischen von vitalistischen Konzepten führte, soweit der Bezugspunkt das einzelne Lebendigseiende blieb, zur Entwicklung funktions- und konstruktionsmorphologischer Theorien, insb. in der Paläontologie, strukturalistischer und epigenetischer andererseits im Felde der Entwicklungsbiologie und Genetik. In Ökologie und Populationsgenetik hingegen werden überindividuelle Aspekte relevant, die wesentlich auf Reproduktionsmechanismen abzielen – hierzu gehört auch die Soziobiologie in ihren verschiedenen Spielarten.

L.s-Wissenschaften verfügen zwar nicht über einen eigenständigen L.s-Begriff, bedürfen aber im Rahmen der Gegenstandsbestimmung gleichwohl eines Vorbegriffes. „L.“ erscheint innerhalb der L.s-Wissenschaften als Reflexionsterminus, welcher die für die je untersuchten L.s-Formen relevanten Leistungen bezeichnet – die Unterscheidung etwa von Pflanze und Tier werden damit relativ (Janich/Weingarten 1999). Dies geschieht i. d. R. durch Angabe von Kriterien, zu welchen üblicherweise Metabolismus, Propulsion, Wachstum, Reproduktion, Entwicklung, Evolution, Sensibilität und Irritabilität gezählt werden, deren Zusammenstellung und Erstreckung sich je nach L.s-Form und nach dem Stadium innerhalb des L.s-Zyklus derselben unterscheiden.

Lebewesen bilden den Gegenstand der L.s-Wissenschaft in der Form funktionaler Strukturierung, in welcher L. nichts weiter ist als Leistung eben dieser funktionalen Einheiten (Organismen oder Systeme). Diese Sichtweise wird bes. deutlich in systemtheoretischen (Systemtheorie) und aktuellen systembiologischen Ansätzen, bei welchen sowohl supra- wie superorganismische Strukturen rein funktional und systemisch betrachtet werden. Mit dem Übergang in die synthetische Biologie geht – zumindest dem Anspruch nach – die Relevanz der evolutionären Herkunft von Organismen verloren. Zugleich geht die für Aristoteles wesentliche Selbsthervorbringung lebendiger Gegenstände nun in deren technische Reproduzierbarkeit auf. Allerdings liegt diesem Übergang regelmäßig die systematische Identifikation von Beschreibungsgegenstand (Lebewesen) und Beschreibungsmittel (Artefakte wie etwa „neuronale Netze“) zugrunde, was die Entfaltung des engineering paradigm in den L.s-Wissenschaften bedeutet.

Dass selbst bei vollständiger Reduktion der Beschreibungsmittel auf physiko-chemische Zusammenhänge die Abhängigkeit der funktionalen Strukturierung vom Vorbegriff des Lebendigen explikativ erhalten bleibt, zeigt schließlich exemplarisch die Rede von der Entstehung „des“ L.s. Diese bezeichnet nur in dem Sinne ein lebenswissenschaftliches Problem, als damit etwa die Individualentwicklung innerhalb eines L.s-Zyklus gemeint ist oder die evolutionäre Transformation reproduktiver Einheiten (z. B. Populationen). In beiden Fällen wird bzgl. schon existierenden L.s gesprochen; die Entstehung menschlichen L.s kann man also im ersten Fall als Übergang von der Haplo- in die Diplophase bezeichnen, im zweiten als jenen von z. B. Australopithecus zu Homo oder Homo erectus zu Homo sapiens.

Der Übergang schließlich von einem Zustand, in dem gilt „es gibt kein L.“ zu einem solchen, in welchem gilt, „es gibt L.“, wäre damit kein (im engeren Sinne) lebenswissenschaftliches Problem mehr, denn als Gegenstand präbiotischer Modellierung bleibt das Explanandum (belebte Systeme) auf den Vorbegriff bezogen – das gilt unabhängig von der Frage, ob und in welcher Form vor der „DNA Welt“ z. B. RNA-Welten, Hypercycle, Proteinoide etc. entstanden.

II. Rechtlich

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1. Grundsätzliches

L. – und als Komplementärbegriff: Tod – ist in kulturhistorischer Perspektive ein vielfachen Deutungskonzepten unterworfener Terminus. Weil er aber zentrale soziale Funktionen zu erfüllen hat, bedarf es einer verlässlichen Konkretisierung. Ausgangspunkt hierfür ist v. a. der rechtsnormative Begriff des L.s. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nennt ihn wie zahlreiche ausländische Verfassungstexte als Schutzgut einer Grundrechtsgewährleistung. Das darin garantierte Recht auf L. ist zugleich zwingendes Völkerrecht. Die unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung enthält ebenfalls in zahlreichen Teilgebieten Bestimmungen, die explizit oder implizit an das L. bzw. den lebenden Menschen anknüpfen: von den Tötungstatbeständen des StGB über das ESchG und das TPG bis zu den Regeln des Bestattungsrechts. Alle Interpretationen des einfachen Rechts müssen aber kompatibel sein mit dem verfassungsrechtlichen Begriff des L.s, der deshalb die rechtsnormative Schlüsselkategorie darstellt. Ihre Deutung hat dabei v. a. die Zeitdimension des L.s als eines Prozesses in den Blick zu nehmen. Dies macht es erforderlich, einen Anfangs- und einen Endpunkt auf einer Skala zu bestimmen. Dies gilt jedenfalls unter der Prämisse der Disjunktivität von „L.“ und „Tod“: Die beiden Begriffe bezeichnen Zustände, die einander ausschließen. Zwar wird dies in der Literatur unter Hinweis darauf in Frage gestellt, dass unter den Bedingungen der Intensivmedizin sich ein Prozess des Sterbens identifizieren lasse, der ein drittes Stadium darstelle. Doch ist der (deutschen) Rechtsordnung ein solcher Zwischenstatus fremd.

Die Konkretisierung des normativen Tatbestandselements „L.“ nimmt sinnvollerweise ihren Ausgangspunkt bei solchen Begriffselementen, für die sich in einer philosophiegeschichtlichen Perspektive ebenso wie in der aktuellen Debatte ein relativ breiter Konsens erkennen lässt. Insoweit wird man festhalten können, dass der L.s-Begriff auf biologische Prozesse Bezug nimmt, sich also auf den Menschen als einen lebendigen Organismus bezieht und damit auf ein komplexes System integrierter, sich selbst organisierender und miteinander sowie mit der Umwelt interagierender biochemischer Vorgänge. Darüber hinaus ist eine ausreichende Kohärenz zwischen L.s-Verständnis und L.s-Kriterien im Sinnes eines L.s-Konzeptes zu fordern. Dies setzt voraus, dass die Erfüllung bestimmter L.s-Kriterien einen hinreichenden Nachweis erbringt für das Vorliegen von Merkmalen, die ein bestimmtes L.s-Verständnis ausmachen. Während insoweit relative Einigkeit besteht, ist ein weiteres Begriffselement umstritten, das der Symmetrie. Es besagt, dass jede kohärente Definition von L. und Tod der Symmetrie zwischen Anfang und Ende des L.s genügen müsse: Ob eine Entität noch nicht am L. sei oder nicht mehr am L. sei, sei anhand derselben Kriterien festzustellen.

2. Lebensanfang

Medizinethisch wie rechtlich hochumstritten ist die Frage nach dem Status des „Schon-am-Leben-Seins“. Die Dauerkontroversen um Abtreibung (Schwangerschaftsabbruch) und reprogenetische Techniken (Insemination) illustrieren dies überdeutlich. Und die juristischen Schöpfungsgeschichten bzw. rechtswissenschaftlichen Evolutionstheorien kennen zahlreiche Varianten und Anknüpfungspunkte für die Bestimmung der normativen Zäsur, die den Eintritt der Schutzwirkung des L.s-Grundrechts bewirken soll. Bei aller Unterschiedlichkeit aber herrscht weitgehend Einigkeit darin, dass das grundrechtlich geschützte L. interpretatorisch rückgebunden wird an bestimmte Entwicklungsstadien der menschlichen Ontogenese. In der z. T. heftig geführten Auseinandersetzung konkurrieren dabei diesseits der Geburt Kriterien wie die extrauterine L.s-Fähigkeit, das Hirn-L., die Individuation, die Nidation und die Fertilisation, wobei insoweit noch ein Stadium zwischen der Imprägnation und der Konjugation unterschieden werden kann.

Jedenfalls ist mit der Konjugation eine Entität zur Entstehung gelangt, welche alle Merkmale eines Individuums im biologischen Sinne erfüllt. Die Zygote ist eine funktionelle, sich selbst organisierende Einheit. Diese Position entspr. (noch) der herrschenden Position in der deutschen Verfassungsrechtslehre. Sie wird grundsätzlich auch bestätigt durch die einfachgesetzlichen Regelungen des ESchG, das im Jahre 1990 verabschiedet worden ist, um die reprogenetischen Gefahren für das L. und die Würde des Menschen abzuwehren. Als schützenswert gilt nach § 8 Abs. 1 ESchG der Embryo, worunter „bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an“ qualifiziert wird, ferner „jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzung zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag“ (§ 8 Abs. 1 EschG). Damit wird in gewisser Weise eine normative Äquivalenz von in vivo- und in vitro-Embryonen sowie von „natürlich“ bzw. „experimentell“ erzeugten Entitäten hergestellt. Doch mittlerweile hat die Dynamik des biowissenschaftlichen Fortschritts dazu geführt, dass das „Substrat“ des L.s-Schutzes sich aufzulösen droht. Inzwischen können körpereigene pluripotente Stammzellen dadurch hergestellt werden, dass Körperzellen durch die Behandlung mit bestimmten Biomolekülen in ein entwicklungsbiologisches Stadium umprogrammiert werden, das demjenigen embryonaler Stammzellen sehr ähnlich ist (induzierte pluripotente Stammzellen; iPS). Mit der Methode der sogenannten tetraploiden Komplementierung gelang es im Tierversuch bereits 2009, aus solchen iPS-Zellen einen entwicklungsfähigen Embryo heranreifen zu lassen. Darüber hinaus ist es bereits gelungen, aus iPS-Zellen Keimbahnzellen zu entwickeln und diese nach Verpflanzung in die Keimdrüsen von Tieren zu voll funktionsfähigen Keimzellen reifen zu lassen. Im Tierversuch konnten aus derartigen von iPS-Zellen abstammenden artifiziell erzeugten Samen- und Eizellen durch Befruchtung lebensfähige Individuen erzeugt werden. Sollte diese Technik demnächst auch beim Menschen zu Fortpflanzungszwecken eingesetzt werden können, sieht sich der Verfassungsexeget vor eine ganz fundamentale Schwierigkeit gestellt bei der Frage, wie diese Entwicklungsprozesse normativ einzuordnen sind. Möglicherweise durchläuft eine ausdifferenzierte somatische Zelle bei der Reprogrammierung in einem pluripotenten Entwicklungszustand auch das Entwicklungsstadium der Totipotenz. Damit aber wäre ein wesentliches Bauelement der bisherigen verfassungsrechtlichen L.s-Schutzdogmatik prinzipiell in Frage gestellt. Wenn man die nach der Konzeption des ESchG ja grundsätzlich schutzwürdige Totipotenz als Phase des Reprogrammierungsprozesses nicht identifizieren und abgrenzen kann, so ließe sich ein entsprechender Schutz wohl nur dadurch erreichen, dass die iPS-Zellen als solche und damit auch in ihrem pluripotenten Stadium als „L.“ i. S. d. Verfassungsrechts eingestuft würden. Ob, wie manche meinen, die Unterscheidung zwischen transienter Totipotenz – eine Eigenschaft von Zellen, die sich im Falle einer Nidation als Individuen ausdifferenzieren können – und totipotenter Transienz – gemeint ist hier ein kontinuierlicher Transdifferenzierungsprozess, der außerhalb eines konkreten Fortpflanzungszusammenhangs ein Durchgangsstadium erfasst – hier einen Ausweg bietet, erscheint indes fraglich. Die biotechnische Entwicklung entzieht sich in ihrer Komplexität und Rasanz der überkommenen Textexegese grundrechtlicher Schutzbereiche immer stärker. Damit aber wird zugleich das Schutzgut „L.“ in seiner definitorischen Erfassung immer diffuser.

3. Lebensende

Auch die Bestimmung jener Scheidelinie, die unter der Annahme der Disjunktivität von „L.“ und „Tod“, das den Zustand des Noch-L.s von demjenigen des Nicht-mehr-L.s markiert, wirft seit den späten 1950er Jahren international vieldiskutierte Fragen auf. Im Jahre 1959 beschrieben zwei französische Ärzte (Pierre Mollaret und Maurice Goulon) einen neuen medizinischen Zustand von Patienten, deren Gehirn nach einem längeren Atemstillstand durch Sauerstoffmangel zwar irreversibel zerstört war, deren Organismus jedoch durch künstliche Beatmung für eine gewisse Zeit am L. gehalten werden konnte. Diesen Zustand bezeichneten die beiden als coma dépassé. Mit den Fortschritten der sich entwickelnden Transplantationsmedizin stellte sich spätestens mit der ersten Herztransplantation 1967 dann verschärft und zugespitzt das Problem, ob die Spender sogenannter lebendfrischer Organe eigentlich tot seien. Seitdem wird die sogenannte Hirntodkonzeption kontrovers diskutiert. Ein erheblicher Teil der deutschen Verfassungsrechtslehre steht der Annahme, der irreversible Ausfall aller Hirnfunktionen sei ein hinreichendes Kriterium für die Annahme des Todes des betreffenden Menschen, kritisch-ablehnend gegenüber. Diese kritisch-ablehnende Position verdient Zustimmung: Die intensivmedizinische Intervention bei Patienten, bei denen eine Hirntoddiagnose gestellt worden ist, bewirkt, dass in manchen Fällen eine „koordinierte Tätigkeit verschiedener Systeme statt(findet), alle ausgerichtet auf das Funktionieren des Körpers als eines Ganzen“ (so ausdrücklich auch das amerikanische President’s Council of Bioethics [2008: 57]). Der Tod eines menschlichen Organismus ist erst dann eingetreten, wenn die inneren L.s-Funktionen insgesamt und ihre Interaktion mit der Umwelt irreversibel erloschen sind. Die zahlreich erhaltenen – auch systemischen – Funktionen bei „hirntoten“ Patienten demonstrieren aber deutlich, dass dieser Zustand noch nicht erreicht ist. Eine in der internationalen Diskussion durchaus verbreitete anderweitige Begründung für die Hirntodkonzeption stellt auf eine „mentalistische“ Begründung ab: Mit dem unumkehrbaren Verlust der Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Denk- und Entscheidungsfähigkeit werde ein Zustand erreicht, der das Ende des menschlichen L.s bezeichne. Eine derartige Argumentation jedoch ist mit dem inklusiven Menschenbild der grundgesetzlichen Ordnung und deren elementarer Garantie der Menschenwürde und des Menschen-L.s nicht zu vereinbaren. Das Ende des menschlichen L.s und damit der Tod ist deshalb erst dann eingetreten, wenn die Herz-Kreislauf-Funktionen irreversibel erloschen sind.

4. Abwehr- und Schutzfunktion des Lebensgrundrechts

Liegt nach Maßgabe der vorstehend skizzierten Kriterien menschliches L. vor, dann entfaltet das Grundrecht auf L. auf mehreren Ebenen normative Wirkung. Zunächst zeigt es sich in seiner abwehrrechtlichen Funktion: Im Einzelnen sind durch das L.s-Grundrecht hoheitliche Eingriffe in den Gegenstand seines Schutzes, das L., gegenüber nicht rechtfertigungsfähigen Verkürzungen abzuwehren. In der Normallage des rechtsstaatlichen Systems können staatliche Tötungshandlungen allenfalls exzeptionelle Konstellationen (z. B. Geiselnahmen) betreffen. Seine praktisch wichtigste Bedeutung entfaltet das L.s-Grundrecht aber in seiner Schutzpflichtendimension. Gefahren drohen dem Schutzgut „L.“ in freiheitlichen Verfassungsstaaten ganz überwiegend nicht durch den Staat, sondern durch private Dritte. Hieraus folgt – wie das BVerfG in seiner bahnbrechenden Entscheidung aus dem Jahre 1975 zur Neuregelung des Abtreibungsrechts formuliert hat – die Pflicht, „sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen Anderer zu bewahren“ (BVerfGE 39, 1, 42). Daneben wird der Grundrechtsschutz für das L. auch durch entsprechende Ausgestaltung von Organisation und Verfahren gewährleistet.

III. Theologisch

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Wenn die Theologie über das L. nachdenkt, muss sie die biologischen und philosophischen Erkenntnisse angemessen in ihre Überlegungen integrieren. Zugleich wird sie aus dem Glauben an Gott, den Schöpfer und Erlöser, vertiefende Einsichten gewinnen. Die Bibel dient ihr dabei als tragende Inspirationsquelle und wichtiger Orientierungsrahmen, ohne material zu genügen.

Mit der Biologie übereinstimmend, bezeichnet die Theologie mit L. das, was allen Lebewesen gemeinsam ist. Diese Tatsache begründet schon in der Bibel eine fundamentale Gemeinschaft aller Lebewesen, der gegenüber ihre Unterschiede zweitrangig sind. Mit der (aristotelisch geprägten) Philosophie fasst auch die Theologie L. als die Fähigkeit auf, als Subjekt aus sich selbst heraus die eigene Entwicklung zu steuern, sich zur Um- und Mitwelt zu verhalten und eigene Ziele zu verfolgen. Über Biologie und Philosophie hinaus deutet die Theologie L. als Beziehung zu und Abhängigkeit von Gott. Gott stiftet in seinem schöpferischen Tun permanent eine Beziehung zwischen sich und seinem Geschöpf (creatio continua). Dabei entlässt er das Geschöpf aus Liebe in die Freiheit, so dass es sich selbst entfalten kann. Zugleich bleibt das Geschöpf von Gott abhängig. Das ist aber aus der Sicht des Glaubens kein Verlust, sondern ein Gewinn, weil das Verdanktsein und Geschenktsein dem L. einen unschätzbaren (wenn auch nicht absoluten) Wert gibt. Dieser steigert sich noch, wenn die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit des L.s in den Blick kommt: Weil das L. auf dieser Erde nicht unendlich weitergeht, gewinnt jeder Augenblick einzigartigen Wert. Seine Begrenztheit und Zerbrechlichkeit macht das L. kostbar. Es ist eine Leih-Gabe.

Die Bibel sieht L. als ein Wirken Gottes im Irdischen. Die zweite Schöpfungserzählung (Gen 2) beschreibt, wie Gott Mensch und Tier aus Erde formt und ihnen den L.s-Atem (næfæš ḥajjāh; Gen 2,7) einhaucht. Das „L.“ und die „Seele“, die nicht dinghaft-ontisch, sondern relational als Befähigung zur Gottesbeziehung zu verstehen sind, haben ihren Sitz im Blut (Lev 17,11.14; Dtn 12,23). Dass das Blut beim Schlachten eines Tieres nicht angeeignet werden darf (Gen 9,4 und noch Apg 15,29), zeigt die hohe Wertschätzung der Bibel für jedes Lebewesen. Pflanzen hingegen sieht die Bibel anders als die griechische Philosophie nicht als Lebewesen, wenngleich sie (z. B. in Gen 1) von den L.s-Räumen unterschieden werden.

Gott ist Geber (Ijob 3,20) und Quelle (Ps 36,10) des L.s. Er ist aber auch derjenige, der es seinen Geschöpfen wieder nimmt: Entzieht er ihnen den Atem, vergehen sie (Ps 104,29). Der Tod ist in dieser Perspektive ein Teil des L.s: Aus Erde sind die Lebewesen geschaffen, zur Erde kehren sie zurück (Gen 3,19; vgl. auch Ps 90,10). Was irdisch ist, kann nicht ewig bestehen. Das muss aber keine schlechte Nachricht sein. Die gesamte spirituelle Tradition der christlichen Ars moriendi ist nichts anderes als das kreative Bemühen, sich mit der eigenen Endlichkeit anzufreunden und das Befreiende des Todes zu begreifen. Wenn Franz von Assisi in seinem Sonnengesang den Tod als Schwester anspricht oder wenn der mittelalterliche Totentanz das Sterben als einen beschwingten Tanz beschreibt, wird damit versucht, ihm im Angesicht Gottes den Schrecken zu nehmen.

L. ist in theologischer Perspektive immer auch Gemeinschaft mit anderen Lebewesen. Soziale Lebewesen wie der Mensch brauchen Kommunikation, Fürsorge, Geborgenheit, Zärtlichkeit. Wer aus der Gemeinschaft ausgegrenzt wird oder aus anderen Gründen vereinsamt, für den wird das L. schon vorzeitig zum Tod (Ps 88,9.19). Zugleich bedeutet L. aber auch immer Konkurrenz(-kampf) um die knappen Ressourcen der Erde. L. lebt von anderem L. – ob ein Lebewesen will oder nicht, es muss sich von anderen Lebewesen ernähren (Menschen, Tiere und fleischfressende Pflanzen) und/oder ihnen L.s-Raum, Nährstoffe und Licht streitig machen (Pflanzen). Der Glaube deutet dieses „Fressen und Gefressen-Werden“ allerdings in einem anderen Licht: Als Möglichkeit zum Nähren und Genährt-Werden. Der ethische Kernsatz Jesu lautet: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten“ (Mk 8,35; vgl. Joh 12,25). Diese Glaubensperspektive einer gegenseitigen Fürsorge und Hingabe kann die naturphilosophische Perspektive der Konkurrenz und des Tötens nicht ersetzen, wohl aber ergänzen. L. wird zum offenen Raum der Liebe.

Aus dem Gesagten ergeben sich eine Reihe ethischer Tugenden: Dankbarkeit als Wertschätzung des geschenkten L.s; Demut als Freiwerden in den Begrenztheiten des L.s; Ehrfurcht als Zurücktreten vor dem Geheimnis des (eigenen und fremden) L.s; Gerechtigkeit als Willen zum Ausgleich in der L.s-Gemeinschaft; Maßhaltung als Einklang mit den Bedürfnissen aller Lebewesen; Genussfähigkeit als Geschmack am L.; Gelassenheit als Freisein von der Bindung an das eigene L.; Hingabe als Bereitschaft, sich und sein L. zu verschenken.

Der Begriff des L.s ist ein Begriff, der alle Lebewesen verbindet, nicht unterscheidet. Biblisch wird dies am deutlichsten in der Sintfluterzählung, gemäß der der Mensch mit allen Lebewesen in einem Boot sitzt (Gen 6–8), und im von Gott angebotenen Bund, den er „mit allem, was lebt auf der Erde“, schließt (Gen 9). Auf diesem Hintergrund ist die Rede von der Heiligkeit des L.s, die sich allein auf das menschliche L. bezieht, ein Traditionsbruch. Zuerst verwendet im US-amerikanischen Protestantismus des 19. Jh., wird sie im 20. Jh. zum Schlagwort der überkonfessionellen Pro-Life-Bewegung, die sich dem Kampf gegen Abtreibung (Schwangerschaftsabbruch) und Euthanasie verschrieben hat. Auch in die päpstliche Verkündigung sickert sie ein (Johannes XXIII., Enzyklika „Mater et Magistra“ [1961]: Nr. 194; Glaubenskongregation, Instruktion „Donum Vitae“ [1987]: Nr. 5). In der Enzyklika „Evangelium Vitae“ von Johannes Paul II. 1995 wird „Heiligkeit des L.s“ zum alles überragenden roten Faden („Evangelium Vitae“: Nrn. 2; 12; 22; 39; 40; 53; 57; 61; 62; 81; 87; 89) und zum „Argument“, mit dem die absolute Unantastbarkeit des menschlichen L.s in all seinen Phasen eingeschärft wird.

Im Gegensatz dazu haben biblische, kirchliche und moraltheologische Tradition nie eine absolute, ausnahms- und bedingungslos gültige Schutzwürdigkeit des menschlichen L.s behauptet. Aus dem L.s-Begriff folgt vielmehr eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Schweitzer 1999) in dem Sinne, dass jedes Lebewesen eine unverrechenbare Würde besitzt und nicht darin aufgeht, einen Nutzen für andere darzustellen. Damit verdient es eine faire Berücksichtigung seiner Bedürfnisse und Güter im Rahmen jeder Güterabwägung.

Die biblischen Schöpfungserzählungen (Gen 1–9) beschreiben die Erde als ein L.s-Haus, das möglichst vielen verschiedenen Lebewesen den ihnen zugedachten L.s-Raum geben soll (Gen 1). Konkurrierende Lebewesen können sogar denselben L.s-Raum nutzen, wenn sie unterschiedliche Aktivitätsrhythmen haben (Ps 104,22–23). Jedes Lebewesen ist einzigartig und wertvoll. Deswegen sollen alle Tierarten in der Arche des Noach ihren Platz haben (Gen 6). Noch ohne ein modernes Verständnis für die ökosystemischen Funktionen der Biodiversität wissen die biblischen Schriften um deren ästhetischen und symbiotischen Wert: Der Mensch kann nicht ohne die anderen Geschöpfe leben. Er sitzt mit ihnen im selben Boot. Aus diesem Grund kann am Ende der Tora, die eine Vielzahl tierethischer und ökologischer Weisungen enthält, der Aufruf stehen: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen“ (Dtn 30,19).

Die Wertigkeit des L.s als Gabe Gottes wird im christlichen Kontext noch gesteigert, wenn von der Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus gesprochen wird (Joh 1,14). Das hebräische Wort „Fleisch“ (bāśār) bezeichnet alle Geschöpfe in ihrer Körperlichkeit. Präzise müsste man also von der Inkarnation als Geschöpfwerdung Gottes sprechen, nicht als Menschwerdung. In ihr wird jedem Geschöpf Erlöstsein zugesprochen, ganz nach dem scholastischen Axiom „alles, was von Gott angenommen ist, ist auch erlöst“. Ochs und Esel an der Krippe sind die volkstümlichen Symbole dieses Glaubenssatzes: Gott wird solidarisch mit seinen Geschöpfen – vom ersten bis zum letzten Moment des irdischen L.s.

Insb. die Paulusbriefe und das Johannesevangelium entfalten die christologische und trinitätstheologische Tiefe des L.s-Begriffs. Für das Johannesevangelium ist Jesus nicht nur Mittler des neuen L.s, der gekommen ist, „damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10; vgl. Joh 1,4), nein, er selbst ist dieses L. Zwei der sieben „Ich-bin-Worte“ lauten: „Ich bin […] das Leben“ (Joh 11,25; 14,6). Paulus versteht das gesamte irdische L. als ein Mitleben und Mitsterben mit Christus, dem nach dem Tod die Auferstehung mit ihm in das neue L. bei Gott folgen soll (Röm 6). Es ist der Geist, der dieses L. schenkt und vermittelt (Röm 8,10–11). Schon jetzt wird es wirksam als ein L. im Tod (2 Kor 6,9–10). Das neue L. in Christus bedeutet keine Rettung vor dem Tod, sondern im Tod und durch ihn hindurch.

Dabei ist es für Paulus nur folgerichtig, dass das neue L. allen Geschöpfen verheißen ist: „Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,20–21). Diese Glaubensüberzeugung ging unter neoplatonischem Einfluss schon bald zugunsten der Ansicht verloren, nur der Besitz einer Vernunftseele berechtige zum Eintritt in die himmlische Sphäre. Erst Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika „Laudato si“ (2015) die paulinische Überzeugung von der Auferweckung allen „Fleisches“ wiedergewonnen: „Das ewige Leben wird ein miteinander erlebtes Staunen sein, wo jedes Geschöpf in leuchtender Verklärung seinen Platz einnehmen und etwas haben wird, um es den endgültig befreiten Armen zu bringen“ („Laudato si“: Nr. 243).

Im altorientalischen Symbol des L.s-Baums findet die gläubige Sicht des L.s auch jenseits der jüdisch-christlichen Tradition (Gen 2; Offb 22) ihre tiefste religiöse Verdichtung. Der L.s-Baum ist eine Gabe der Gottheit – die Gabe, das L. zu entfalten und weiter zu schenken; und er ist eine Aufgabe für den Menschen – die Aufgabe, die göttliche Schöpfungsordnung zu achten und zu verwirklichen, nach der alle Geschöpfe die Ressourcen geschwisterlich miteinander teilen sollen. Zudem ist der L.s-Baum nach christlicher Tradition der Baum des Kreuzes Jesu, der alles L. auf der Erde in seinem Tod erlöst hat und in die neue Wirklichkeit Gottes führt.