Kindeswohl

  1. I. Soziologie
  2. II. Rechtswissenschaft
  3. III. Implikationen für die pädagogische Theorie und Praxis
  4. IV. Sozialethische Perspektiven

I. Soziologie

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K. gilt als ein unbestimmter Rechtsbegriff, dem in der deutschen Tradition zentrale Bedeutung zukommt, das Verhältnis von Rechten und Pflichten im Dreieck Kinder-Eltern-Staat sowohl grundsätzlich wie im Einzelfall zu bestimmen. Was jedoch für das Wohl von Kindern gehalten wird, ist weder natürlich vorgegeben noch objektiv zu bestimmen, sondern wurde und wird durch sozial und historisch geprägte Konzepte von Kindheit, Elternschaft und gesellschaftlicher Verantwortung für das Aufwachsen konstruiert. Prägende Konstruktionselemente heutiger Vorstellungen über Kindheit und K. sind v. a. aus drei Quellen gespeist:

Zum einen aus der bürgerlichen Idee, im Kind einen werdenden Menschen mit nutzbaren Entwicklungs- und Erfolgsoptionen zu sehen. Gegen die Vormacht ständischer, durch Geburt vermittelter Adelsprivilegien, muss die Vorstellung durchgesetzt werden, gesellschaftlicher Status und Macht würden v. a. durch Anstrengung und Leistung erworben. Entscheidend für den individuellen wie gesellschaftlichen Erfolg dieser Leistungsidee wird die Konstruktion und Durchsetzung einer Lebensphase, in der Ausstattung und Potential hierfür erworben werden können: Kindheit als Lern- und (Aus-)Bildungszeit. Kinder werden zum Hoffnungsträger für gesellschaftlichen Aufstieg, seit der deutschen Romantik gepaart mit einer verklärten Sicht auf noch nicht durch gesellschaftliche Realitäten verdorbene Kinder und der Idee einer Erziehung des Gemüts. Das Wohl von Kindern liegt in dieser Perspektive v. a. und zuerst in ihrer (Aus-)Bildung; Vorstellungen und Konzepte hierfür schwanken bis heute zwischen Ermöglichung subjektiver Selbstbildungsanstrengungen von Kindern und einer den Leistungsanforderungen entsprechenden Ausbildung, vom Kindergarten (Kindertagesstätte) über Schule und Berufsausbildung (Berufliche Bildung) bis zur Hochschule.

Zum anderen prägt die Konfrontation mit den materiellen, sozialen und kulturellen Wirkungen gesellschaftlicher Veränderungen seit dem ausgehenden 18. Jh. (nicht nur) in Deutschland. Industrielle Revolution (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und Soziale Frage sind Chiffren für die Wahrnehmungen und Deutungen dieser tiefgreifenden Umwälzungen mit ihren auch erheblichen zerstörerischen Auswirkungen für die gesellschaftliche Reproduktion. Kindheit wird als eine bes. vulnerable Altersphase und Kinder werden als bes. auf Schutz angewiesene Bevölkerungsgruppe wahrgenommen, allerdings (noch) nicht universell, sondern deutlich sozial konnotiert. Arme Kinder werden in einem doppelten Sinn zur zentralen Zielgruppe einer Vielzahl sozialpolitischer Programme und Reflexionen: Zum einen als Kinder in Armut und angewiesen auf gesellschaftliche Kompensation; zum anderen als von ihren Eltern nicht gut versorgte und geschützte Kinder, angewiesen auf Schutz vor diesen vernachlässigenden Eltern, die „guten Kinder schlechter Eltern“ (Richter 2011). Vom Kinder-Arbeitsschutz ab Mitte des 19. Jh. über den Schutz unehelicher Kinder, der Vormundschaft und Fürsorgeerziehung bis zu aktuellen Debatten um frühe Hilfen und eine Verantwortungsgemeinschaft für den Kinderschutz reicht dieser wirkmächtige Strang öffentlicher Sorge für Kinder. Weniger positive Vorstellungen über K. als der negativ bestimmte Begriff der K.-Gefährdungen werden in dieser Perspektive zum zentralen Ausgangspunkt, die Grenze zwischen privater, elterlicher Verantwortung und öffentlicher, v. a. staatlicher Zuständigkeit zu bestimmen.

In neueren wissenschaftlichen Arbeiten zu Kindheit und K. werden die skizzierten ideen- und sozialgeschichtlichen Prozesse gesellschaftlicher Entwicklungen prominent thematisiert, z. B. in den gegensätzlichen historischen Rekonstruktionen von Kindheit durch Philippe Ariès (1960) und Lloyd de Mause (1977). Im 20. Jh. sind sozialwissenschaftliche Konzepte v. a. durch die Vorstellung einer Entwicklungstatsache geprägt: Kinder werden als heranwachsende Menschen begriffen, die in gesellschaftliche Verhältnisse, also bestimmende Wert- und Normenvorstellungen, soziale Verhältnisse und kulturelle Prägungen eingeführt werden müssen. Entwicklungskonzepte betonen dabei in unterschiedlichen Akzenten biologische und psychische Reifungsprozesse, die sozialisierenden Einflüsse (Sozialisation) gesellschaftlicher Verhältnisse oder Erziehung als intentionale Beeinflussung kindlicher Entwicklung. Kontroversen um das Verständnis und Konflikte um Begriff und Ausgestaltung dieser Reifungs-, Sozialisations- und Erziehungsprozesse entzünden sich v. a. an der Absicherung oder Öffnung gesellschaftlicher Ordnungen für Besitz, Macht, Kultur, Geschlechter und Generationen. K.-Vorstellungen sind in dieser Tradition primär ausgerichtet an patriarchalen Erwartungen guter Kindheit mit dem Ergebnis „leiblicher, seelischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit“ wie es noch bis 1990 im § 1 des einschlägigen JWG hieß.

Ein deutlicher Perspektivenwechsel im Verständnis und in der Konstruktion von Kindheit und damit auch K. setzt sich ab den 1980er Jahren im Gefolge der new childhood studies durch. Nach dem werdenden und dem armen Kind rückt jetzt das kompetente Kind in den Mittelpunkt empirischer Forschungen und konzeptioneller Debatten. Kinder werden als soziale Akteure thematisiert, die aktiv ihre Gegenwart begreifen und gestalten (agency). Bedingungen und Prozesse kindlicher Existenz werden in einem multidimensional angelegten Konzept kindlichen Wohlbefindens (child well-being) erforscht und formuliert. K. erscheint in dieser Perspektive v. a. als Wahrnehmung und Anerkennung der Anstrengungen und Potentiale selbstbestimmter kindlicher Aneignung von Selbst und Welt; ergänzt um einen kritischen Blick auf die Bedingungen, Ressourcen oder Capabilities, die Kindern hierfür zur Verfügung stehen.

Was jenseits aller Konstruktionen eines a) werdenden, bildungsbedürftigen Kindes, b) eines Gefahren ausgesetzten, schutzbedürftigen Kindes oder c) eines kompetenten, sich selbstbestimmt die Welt aneignenden Kindes bleibt, ist die Konfrontation mit den naturgegebenen Bedingungen menschlicher Existenz: Kinder sind für ihr Überleben von Geburt an auf Sorge und Schutz, für ihre Entwicklung auf Förderung und in ihrer Kompetenz auf Respekt angewiesen. In welchen Vorstellungen generationaler, sozialer oder kultureller Ordnung diese Sorgetatsache auch verstanden und gestaltet wird, sie löst sich auch in noch so kritischer Rekonstruktion nicht auf. Die Idee vom K. als dem Wohl aller Kinder bleibt damit auch jenseits patriarchaler Entwürfe eine Herausforderung, Bedingungen kindlicher Existenz zwischen den Dimensionen Autonomie, Entwicklung und Schutz zu begreifen.

Vorstellungen über K. oder das Wohl von Kindern bleiben kontrovers, erkennbar z. B. in den Dauerdebatten um Schulpolitik oder in den Forderungen nach Kinderrechten im GG, werden in ihnen doch wie unter einem Brennglas Vorstellungen über unterschiedliche materielle und soziale Bedingungen für das Aufwachsen ebenso wie konkurrierende Erwartungen an die Zukunft einer Gesellschaft verhandelt.

II. Rechtswissenschaft

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Das K. dient im Recht als Entscheidungsmaßstab oder Abwägungsgrundsatz, wenn eine Entscheidung Belange Minderjähriger berührt. Als „K.-Gefährdung“ bezeichnet es die Grenze zulässigen Handelns gegenüber Minderjährigen. Das K. ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der auf das allgemeine Ziel verweist, den Bedürfnissen und Wünschen von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden. Angesichts vielfältiger Lebensweisen, Erziehungsvorstellungen und Sozialisationsbedingungen (Sozialisation) ist die Konkretisierung des K.-Begriffs eine ständige Herausforderung für Rechtswissenschaft und -praxis.

1. Gesetzliche Verweise auf das Kindeswohl

Der Begriff K. wurde zuerst im Familienrecht verwendet, etwa im BGB von 1900, wo die „K.-Gefährdung“ als Voraussetzung für Eingriffe in die elterliche Erziehung geregelt war (§ 1666 Abs. 1 BGB v. 1900). Von dort gelangte der Begriff in das Recht der Jugendwohlfahrt (heute Kinder- und Jugendhilferecht), das bei den Voraussetzungen für die Fürsorgeerziehung auf das BGB verwies. Heute lassen sich zwei Funktionen des K.s in Gesetzestexten unterscheiden: Wie in den historisch ersten Quellen dient auch heute die Gefährdung des K.s als Voraussetzung und Grenze staatlicher Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht. Sie markiert damit einerseits die Grenze zulässigen Handelns von Eltern und anderen Erziehungsberechtigten gegenüber (ihren) Kindern. Gleichzeitig schützt es die private Erziehung vor unverhältnismäßigen staatlichen Interventionen, indem es das staatliche „Wächteramt“ über die elterliche Erziehung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) auf die Abwehr von Gefahren für das Kind beschränkt. Die private Erziehung hat damit grundsätzlich Vorrang vor staatlichen Erziehungsambitionen. Eltern haben das Recht, Erziehungsziele und -methoden frei zu wählen, solange sie das K. nicht gefährden (Elternrecht).

Daneben dient das K. in vielfältiger Weise als Maßstab und Abwägungsgesichtspunkt bei Entscheidungen, die Belange von Kindern berühren. Insb. sind familiengerichtliche Entscheidungen in kindschaftsrechtlichen Verfahren an das K. als primären Entscheidungsmaßstab gebunden (vgl. § 1797a BGB). Einen allgemeinen K.-Vorrang (englisch: best interests of the child) enthält auch die UN-KRK von 1989.

2. Interpretation des Kindeswohlbegriffs

Der K.-Begriff ist unbestimmt und bedarf der Auslegung anhand abstrakter Kriterien und der Umstände des Einzelfalls. Grundsätzlich wird eine Situation dem K. gerecht, wenn die Bedürfnisse des Kindes angemessen befriedigt werden. Dabei ist die Situation des Kindes umfassend in den Blick zu nehmen.

2.1 Kindeswohlkriterien im Familienrecht

In Elternkonflikten um das Sorge- oder Umgangsrecht konkretisiert die Rechtsprechung das K. anhand abstrakter Kriterien. Entscheidend sind v. a. sichere und kontinuierliche soziale Bindungen des Kindes („Bindungskontinuität“) sowie die generelle Kompetenz der Eltern, angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen („Erziehungseignung“) und den jeweils anderen Elternteil als wichtige Bezugsperson des Kindes zu akzeptieren („Bindungstoleranz“). Außerdem muss das betroffene Kind in aller Regel angehört werden. Seine Bedürfnisse, Wünsche und Meinungen („Kindeswille“) sind bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Gesetzliche Regelungen wie das Recht auf gewaltfreie Erziehung, das Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen und anderen engen Bezugspersonen sowie die Pflicht der Eltern, die wachsende Selbstbestimmung des Kindes zu berücksichtigen, können ebenfalls als Konkretisierungen des K.s verstanden werden.

2.2 Kindeswohlkriterien nach der Kinderrechtskonvention

Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes vertritt in seinen allgemeinen Bemerkungen zur UN-KRK eine Auslegung des K.-Begriffs, die sich an den Kinderrechten orientiert. Auch danach sind die individuellen Lebensumstände des Kindes und seines familiären Umfelds umfassend zu würdigen und insb. die Meinung des Kindes einzubeziehen. Für das K. maßgeblich sind weiterhin die sozialen Bindungen des Kindes, sein Anspruch auf Fürsorge, Schutz und Sicherheit sowie seine Rechte auf Gesundheit und Bildung.

2.3 Die Kindeswohlgefährdung

Die „K.-Gefährdung“ bezeichnet einen Zustand, in dem das Kind mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen Schaden in einem wichtigen Lebensbereich erlitten hat oder in absehbarer Zeit zu erleiden droht. Eine K.-Gefährdung besteht v. a. dann, wenn das Kind physische oder psychische Gewalt erlebt oder in wichtigen Bedürfnissen vernachlässigt wird. Bei Anhaltspunkten für eine K.-Gefährdung müssen die Träger der Jugendhilfe die Situation prüfen und ggf. Maßnahmen zum Schutz des Kindes in die Wege leiten. Die Entscheidung über Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht obliegt dem Familiengericht.

3. Das Kindeswohl in der pluralistischen Gesellschaft

K.-Entscheidungen haben den Zweck, Kinder vor Gefahren für ihre Integrität und Persönlichkeitsentwicklung zu schützen sowie Konflikte zwischen Eltern fair zu schlichten. Hingegen darf es sich der Staat nicht zur Aufgabe machen, die Lebensbedingungen von Kindern gegen den Willen ihrer Eltern zu optimieren. Unterschiedliche familiäre Lebensweisen, Erziehungsziele und Erziehungsmethoden müssen aus diesem Grund als Ausprägungen privater Freiheit so lange akzeptiert werden, wie sie das Wohl des Kindes nicht manifest gefährden. Personen, die mit Kindern arbeiten oder Entscheidungen über Kindesbelange treffen (müssen), stehen daher vor der Aufgabe, ihr eigenes Vorverständnis über „gute Kindheit“ und „gute Erziehung“ kontinuierlich zu reflektieren.

III. Implikationen für die pädagogische Theorie und Praxis

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Die Orientierung an den besten Interessen des Kindes (K.) ist nicht nur bei Kinder betreffenden juristischen Entscheidungen erforderlich. Auch in pädagogischen Arbeitsfeldern stellt das K. die wesentliche Leitlinie dar für das Handeln und Unterlassen der dort tätigen Berufsgruppen. Die Beachtung des K.-Vorrangs gemäß Art. 3 Abs. 1 UN-KRK gehört zu den herausragenden Qualitätsmerkmalen aller Berufsgruppen, die Verantwortung für Kinder tragen.

Juristisch handelt es sich beim K. um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der sich einer allgemeinen Definition entzieht und daher der Interpretation im Einzelfall bedarf. In sozialwissenschaftlicher Hinsicht sollten die folgenden Elemente Bestandteil einer näheren Begriffsbestimmung sein:

a) Orientierung an den in der UN-KRK niedergelegten Grundrechten;

b) Berücksichtigung der Grundbedürfnisse von Kindern;

c) Gebot der Abwägung;

d) Prozessorientierung.

Darauf aufbauend kann ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes pädagogisches Handeln als dasjenige bezeichnet werden, „welches die an den Grundrechten und Grundbedürfnissen von Kindern orientierte, für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative wählt“ (Maywald 2016: 24).

1. Optimierungsgebot und Schutz vor Gefahren

Die Verwirklichung des K.s durch pädagogische Fachkräfte kann und muss auf zweierlei Weise erfolgen, nämlich durch die positive Förderung des Kindes sowie durch den Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl (K.-Gefährdung). Die Förderung des Kindes „als Optimierungsgebot mit dem Ziel bestmöglicher Realisierung“ (Schmahl 2013: 69) umfasst v. a. die Umsetzung des Rechts des Kindes auf Bildung mit dem Ziel, „die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen“ (Art. 29 Abs. 1 UN-KRK). Aber auch die Verwirklichung der Rechte des Kindes „auf Ruhe und Freizeit […], auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben“ (Art. 31 Abs. 1 UN-KRK) sowie die Umsetzung weiterer Förderrechte gehören dazu.

Der Schutz des Kindes vor Gefährdungen ist Pflichtaufgabe aller pädagogischen Berufsgruppen. Gemäß einer Entscheidung des BGH wird der Begriff der Gefährdung definiert als „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (BGH FamRZ 1956: 350). Den pädagogischen Fachleuten bleibt es überlassen, die in dieser Definition enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe („erhebliche Schädigung“, „ziemliche Sicherheit“) für die Praxis handhabbar zu machen. Während manche Formen der Gefährdung (wie z. B. eine Vernachlässigung) unschwer zu erkennen sind, geht es in anderen Fällen (z. B. wenn ein Kind unter dem Streit der Eltern leidet) um schwierige Einzelfallabwägungen, die nicht frei sein können von subjektiven Urteilen und gesellschaftlichen Wertsetzungen.

2. Kindeswohl und Kindeswille

Ein an den Rechten des Kindes orientiertes Verständnis des K.s schließt die Berücksichtigung des Kindeswillens ein. Bezugspunkt dafür ist das in Art. 12 UN-KRK niedergelegte Recht des Kindes auf Beteiligung an allen es betreffenden Entscheidungen. Dieses Recht ist nicht an eine Altersgrenze gebunden, muss jedoch alters- und reifeangemessen umgesetzt werden. Bes. Herausforderungen ergeben sich im Falle junger, der Sprache nicht mächtiger Kinder sowie bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen, z. B. aufgrund von Krankheit, Behinderung, Migrations- oder Gewalterfahrung. Hier sind empathische und kommunikative Fähigkeiten der pädagogischen Fachkräfte notwendig, um die mimischen, gestischen und körpersprachlichen Signale dieser Kinder wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und angemessen bei den sie betreffenden Entscheidungen zu berücksichtigen.

Die Berücksichtigung des Kindeswillens als Teilaspekt des K.s bedeutet nicht, dass die Entscheidung durch den kindlichen Willen allein bestimmt wird. Nicht eine das Kind in vielen Fällen überfordernde Selbstbestimmung ist Ziel seiner Beteiligung. Vielmehr soll sichergestellt werden, dass die Sichtweise des Kindes in Entscheidungsprozessen angemessen berücksichtigt wird. Die Verpflichtung der verantwortlichen Erwachsenen, das Kind bei der Ausübung seiner anerkannten Rechte zu leiten, bleibt davon unberührt. Im Falle einer notwendigen Abwägung zwischen K. und konfligierendem Kindeswillen sind die wachsenden Fähigkeiten des Kindes zu berücksichtigen. Bei ausreichender Einsichtsfähigkeit kann die nachdrückliche Meinungsäußerung eines Kindes, wenn sie „wiederholt vorgetragen wird, für das Kind eine besondere emotionale Bedeutung hat und deren Nichtbeachtung die Selbstachtung des Kindes untergraben würde“ (Wiesemann/Peters 2013: 29) im Einzelfall eine ausschlaggebende Funktion erhalten.

3. Der Kinderrechtsansatz in der pädagogischen Arbeit

Den Kinderrechtsansatz in pädagogischen Arbeitsfeldern zu verwirklichen bedeutet, sämtliche Aspekte mit Bezug zu Kindern – u. a. Leitbild und Konzept, Gestaltung des Alltags, pädagogische Angebote, Umgang mit Konflikten und Beschwerden, Zusammenarbeit mit den Eltern – am Wohl und den Rechten der Kinder zu orientieren. Wie jeder Menschenrechtsansatz beruht der Kinderrechtsansatz auf Prinzipien, die sich aus dem Charakter von Menschenrechten ergeben.

Pädagogische Fachkräfte, die sich dem K. und den damit zusammenhängenden Kinderrechten verpflichtet fühlen, sollten Menschen- und Kinderrechtsbildung auf drei Ebenen angehen: Erstens müssen die Fachkräfte Vorbild in punkto Kinderrechte sein. Denn Kinder werden die Rechte anderer nur unter der Voraussetzung achten, dass sie selbst mit ihren Rechten wahrgenommen und respektvoll behandelt werden. Zweitens geht es darum, Kindern ihre Rechte altersgerecht zu vermitteln. Drittens müssen die Kinder selbst rechtebasierte und demokratische Verhaltensweisen einüben können. Hierzu bedarf es einer Verankerung der Kinderrechte in den Leitbildern und Konzepten der pädagogischen Einrichtungen sowie der Förderung einer demokratischen Einrichtungskultur.

Prinzipien des Kinderrechtsansatzes
Universalität Alle Kinder sind hinsichtlich ihrer Rechte gleich.
Unteilbarkeit Alle Rechte sind gleich wichtig und untrennbar miteinander verbunden.
Kinder als Rechtsträger Kinder sind Träger eigener Rechte.
Erwachsene als Verantwortungsträger Erwachsene sind Pflichtenträger und tragen die Verantwortung für die Umsetzung der Kinderrechte.

Tab. 1: Prinzipien des Kinderrechtsansatzes

IV. Sozialethische Perspektiven

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Die Auseinandersetzung mit dem K. ist eng mit den jeweils vertretenen Kindheitsbildern verbunden. Wie die Theologie der Kindheit ist auch die K.-Thematik in der christlichen Sozialethik unterrepräsentiert, gleichwohl finden sich in der eigenen Tradition Anknüpfungspunkte, etwa die Debatte zu Person- und Gemeinwohl.

Die sozialethische Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem K. ergibt sich v. a. aus der anthropologischen Situation unterschiedlicher Erfahrungshorizonte von Kindern und Erwachsenen. Aus dieser Differenz resultieren Abhängigkeit und Asymmetrie, die – sollen sie nicht zu Machtmissbrauch, Unterdrückung, Marginalisierung, Missachtung und Misshandlung führen – einer eigenen Reflexion bedürfen.

Eine sozialethische Auseinandersetzung mit dem K. gebietet sich aber auch angesichts der ethischen Problemanzeigen: Errungenschaften wie die Ächtung der Kinderarbeit, die allgemeine Schulpflicht und der Kampf gegen Säuglingssterblichkeit sind noch nicht weltweit umgesetzt, da zeigen sich bereits neu wahrgenommene Herausforderungen: u. a. Kindersoldaten, -armut, -pornographie, -kriminalität, Missbrauch, Bildungsfragen. Kinder sind auf der einen Seite wehrlose Opfer, auf der anderen Seite entbrennt eine Diskussion um ihre Bürgerrechte. In den schrumpfenden westlichen Gesellschaften werden sie zu einem immer kostbareren Gut, Sinnstifter für Eltern, Humankapital und Leistungsträger einer künftigen Gesellschaft.

Der K.-Begriff ist in zahlreichen Debatten zu einem Schlagwort geworden, mit dem sich scheinbar widersprüchliche Interessen begründen lassen. V. a. im öffentlichen Diskurs, im medialen und politischen Bereich, erfreut sich der Begriff großer Beliebtheit. Das erhöht die Gefahr eines interessengeleiteten und ideologischen Gebrauchs. Offenkundig fehlen klare Standards für die Füllung und Verwendung des K.s und ein Kern nicht relativierbarer Normen zum Schutz der kindlichen Würde und Subjekthaftigkeit.

1. Problematik

Die ethische Problematik des K.s liegt in seinem Charakter als unbestimmter Rechtsbegriff und in seiner geschichtlichen Entwicklung. Gerade aufgrund der Unbestimmtheit ist der K.-Begriff anfällig für Missbrauch, denn es lassen sich mit ihm unterschiedliche Aspekte betonen – zentral zeigt sich dies am spannungsvollen Verhältnis der Normen von Schutz und Beteiligung. Ein Verstärker dieser Anfälligkeit ist die Tradition des K.s selbst. Das Konzept entwickelt sich zunächst aus dem Gedanken des advokatorischen Kinderschutzes: Es „zielt weniger auf – inzwischen zwar gesetzlich regulierte – Formen der Beteiligung und Mitsprache derjenigen, deren Wohl in ihrem Alltag zu gewährleisten und zu sichern ist“ (Andresen 2017: 102). K. ist vielmehr eine Kategorie zur richterlichen Entscheidung in Extrem- und Einzelfallsituationen und keine des Alltags von Kindern, in dem diese, empirischen Studien zufolge, überwiegend ein hohes Wohlbefinden angeben (vgl. u. a. World Vision Kinderstudien). Zugleich erweist sich aber K. „in einer rechtsstaatlichen Ordnung und einem letztlich bürgerlich geprägten Generationenverhältnis […] wie im Falle Deutschlands […], als eine Art Leitmotiv der Gestaltung von Kindheit“ (Andresen 2017: 102). Auch christlich geprägte Kindheitsbilder wirken darin nach. Der Kirchenhistoriker Hubertus Lutterbach verweist auf die christliche Tradition des Kinderschutzes, in der jedoch Beteiligung bis heute ein Desiderat darstellt. Die Pastoraltheologin Annemie Dillen thematisiert die Zusammenhänge von christlichen Traditionen, Familien- und Rollenbildern und der größeren Akzeptanz körperlicher Strafen in religiösen Kreisen und folgert: „It is important to rethink elements of the Christian tradition. […] The relevance of childhood as such […] needs further reflection in relation to concrete challenges, such as the contemporary ethical and legal debates on physical discipline“ (Dillen 2008: 25). Nicht zuletzt die Missbrauchs- und Misshandlungsfälle, auch in kirchlichen Einrichtungen, untermauern diese Forderung. Sie zeigen, dass eine theologisch-ethische Grundlegung des K.s Hand in Hand gehen muss mit einer Aufarbeitung idealisierter Bilder von Kindheit oder Familie, die eine Thematisierung eben auch bestehender Machtverhältnisse und Asymmetrien verhindern. Aber auch theoretische Positionen bedürfen der kritischen Reflexion. Nicht zuletzt die seit den 1980er Jahren einflussreiche Orientierung der christlichen Sozialethik an der Diskursethik und der damit einhergehenden Position eines autonomen und selbstursprünglichen Subjekts lässt Abhängigkeit und Verletzbarkeit nur schwer in den Blick geraten und steht der Wahrnehmung von Kindern als eigenständigen Subjekten, die an der Findung ihres Wohls zu beteiligen sind, im Weg.

2. Potenzial

Was einen Teil der Schwierigkeiten des K.s ausmacht – Unbestimmtheit und das spannungsvolle Aufeinandertreffen unterschiedlicher Normen –, kann auch als Potenzial verstanden werden. Denn K. ist – weil unabdingbar an Kindheitsbilder geknüpft – keine feststehende Größe, sondern zeit- und kontextabhängig. Der K.-Begriff kann diese unterschiedlichen Vorstellungen integrieren und ist daher an unterschiedliche Kontexte anschlussfähig, auf Zukunft hin offen und Vermittler disparater Positionen.

Zudem lassen sich im Zusammenspiel mit den Kinderrechten (UN-KRK, die als einzige das K. als positive Prüfnorm kennt) und Erkenntnissen der Kindheitsforschung Kriterien zur Feststellung des K.s ausweisen, die zeigen, dass auch ein unbestimmter K.-Begriff nicht beliebig ist. Entwickelt man daraus Kriterien, sind K.-Entscheidungen im Dialog zu treffen, an dem die Kinder (altersgemäß) zu beteiligen sind. Die (unterschiedlichen) Kindheitsvorstellungen Erwachsener müssen berücksichtigt werden und normativ-rechtlich gesicherte Wohlansprüche einfließen. Ein solches Modell bestimmt die Form zur Findung des K.s und nicht den Inhalt und kann helfen, die Verwendung des Begriffs in gesellschaftlichen und politischen Debatten zu analysieren und zu bewerten. Ein solches dynamisches Konzept ist theologisch anschlussfähig und lässt sich sogar aus der christlichen Tradition heraus begründen. Nicht nur die schöpfungstheologische Perspektive, die den Eigenwert der Kindheit und den eigenen Beitrag des Kindes betont, sondern auch der Gedanke der unabdingbaren Gleichheit aller Menschen – auch der Kinder – vor Gott motiviert dazu, die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen durch Förderung von mehr Beteiligung abzubauen. K. besteht demnach, neben materialethischen Aspekten, in der dynamischen Vermittlung zwischen Schutz und Beteiligung durch aktive Förderung.