Flucht und Vertreibung

1. Begriffsgeschichte

Das Begriffspaar „F. und V.“ setzte sich in der politischen Sprache der BRD in den 1950er Jahren durch, um die am Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte gewaltsame Entfernung deutscher Staatsbürger aus den Reichsgebieten östlich von Oder und Neiße sowie Angehöriger deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen aus mehreren Staaten des mittleren und östlichen Europa zu bezeichnen. In den betreffenden Gebieten hatten 1939 etwa 18 Mio. Deutsche gelebt. Die eine Hälfte wurde infolge einer neuen Grenzziehung aus den ethnisch überwiegend homogenen preußischen Ostprovinzen (Hinterpommern, Ostbrandenburg, Ostpreußen und Schlesien) sowie der Freien Stadt Danzig vertrieben, die andere Hälfte aus einer Reihe seit Langem gemischt besiedelter Regionen.

Der Doppelbegriff F. und V. meint zum einen die Evakuierung bzw. F. aufgrund der Kriegsereignisse seit 1943/44, die folgende sogenannte „wilde Vertreibung“ im Frühjahr und Sommer 1945 und schließlich die systematische Zwangsaussiedlung auf der machtpolitischen Basis von Beschlüssen der Potsdamer Konferenz (Potsdamer Protokoll) der Siegermächte (2.8.1945). Da die zunächst Evakuierten oder Geflohenen anschließend oftmals daran gehindert wurden, in ihre Heimat zurückzukehren, oder nach erfolgter Rückkehr der Zwangsaussiedlung zum Opfer fielen, spiegelt der Doppelbegriff einen wichtigen Teil der historischen Realität.

Umgangssprachlich wurden sämtliche Betroffene zunächst überwiegend als „Flüchtling“ tituliert. Während in SBZ bzw. DDR qua diktatorialer Sprachlenkung die euphemistische, die UdSSR und ihre Verbündeten schonende Bezeichnung „Umsiedler“ durchgesetzt wurde, etablierten sich im Westen Deutschlands die Begriffe „Vertreibung“ bzw. „Vertriebene“. Dies korrespondierte sowohl mit dem Drängen der amerikanischen Besatzungsmacht, die damit die Endgültigkeit des Vorgangs betonen wollte, als auch mit der Selbstbezeichnung der Betroffenen (z. B. Zentralverband der vertriebenen Deutschen). Das 1953 ausgefertigte „Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge“ wurde dementsprechend als „Bundesvertriebenengesetz“ abgekürzt. Es verengte den Flüchtlingsbegriff nun ganz auf die aus der SBZ/DDR Geflohenen.

Der Terminus V. hatte eine potentiell geschichtspolitische Komponente, die sich gegen die „Vertreiberstaaten“ und nunmehrigen Kontrahenten im Kalten Krieg zwischen westlicher Welt und kommunistischem „Ostblock“ richtete. Doch er entsprach auch einer bereits älteren sprachlichen Übung zur Benennung von erzwungener Migration, etwa in Bezug auf die 1918/19 aus dem Elsass vertriebenen „Altreichsdeutschen“ und deutsch gesinnten Elsässer oder die aus den Provinzen Posen und Westpreußen Verdrängten. Heute werden F. und V. der Deutschen um 1945 mehr und mehr als Teil einer Universalgeschichte von „Zwangsmigration“ verhandelt. Doch ist der in der Forschung verbreitete Begriff, der ökonomische oder ökologische Zwänge mit umfasst, inhaltlich sehr weit. Für die mit unmittelbarer Gewalt verbundenen Ereignisse von F. und V. hat daher auch der Begriff „Gewaltmigration“ Anwendung gefunden. Seit den Balkankriegen der 1990er Jahre ist im Blick auf ähnliche Vorgänge international mehr und mehr von „ethnischen Säuberungen“ die Rede.

2. Gewaltmigration als universalhistorisches Phänomen

V.en sind fast so alt wie die Menschheit selbst. Sie waren früh ultima ratio, wenn Herrschende eine Bevölkerungsgruppe als Bedrohung für ihre Macht empfanden – wie etwa Nebukadnezar II. die Oberschicht des jüdischen Volkes nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 586 v. Chr. („babylonische Gefangenschaft“). Kennzeichnend für die „Säuberungen“ im Altertum war ihre oft ökonomische Motivation (Rekrutierungspotential für neue Sklaven).

In Mittelalter und früher Neuzeit dominieren religionspolitische Beweggründe, wie etwa bei der Verfolgung von Juden (Judentum) in zahlreichen Ländern Europas. Eine der größten Opfergruppen der ebenfalls in diesem Kontext stehenden frühneuzeitlichen Konfessionsmigration waren die bis zu 300 000 protestantischen Hugenotten, die v. a. nach dem Edikt von Fontainebleau 1685 aus dem überwiegend katholischen Frankreich flohen, oder die Glaubensflüchtlinge aus Österreich. Umgekehrt gab es aber auch Fluchtbewegungen von Katholiken aus dem protestantischen Skandinavien oder aus England. Eine entscheidende Wegmarke bedeutete der Augsburger Religionsfrieden von 1555. Er erkannte die auf religiöse Intoleranz zurückgehenden V.en erstmals als politisches Prinzip an. „Cuius regio eius religio“ – der Landesherr bestimmte nach zeitgenössischem Rechtsverständnis fortan über die Konfession seiner Landeskinder. Gleichzeitig wurde ihnen aber zumindest prinzipiell das beneficium emigrandi, das Recht auf Auswanderung mit Hab und Gut, zugestanden, sofern sie ihre Konfession nicht wechseln wollten.

Die religionspolitische Prägung der Säuberungsprozesse ging in der frühen Neuzeit allmählich verloren und wich einer überwiegend ethnischen Grundierung (Ethnische Konflikte). So wurden in Spanien bereits im 16. und frühen 17. Jh. (zwangs-)getaufte jüdische Conversos und maurisch-muslimische Moriscos auf der geistigen Basis von Statuten vertrieben, die von der protorassistischen Idee der Blutsreinheit (limpieza de sangre) ausgingen. Dennoch markiert der Siegeszug des modernen Nationalismus nach der Französischen Revolution von 1789 eine tiefe Zäsur in der Geschichte der Gewaltmigration, spätestens als die wirkungsmächtige Ideologie des ethnisch homogenen Nationalstaats Ende des 19. Jh. mehr und mehr eine darwinistisch-biopolitische Aufladung (Sozialdarwinismus) erfuhr. Der moderne Staat erwies sich in seinem Drang nach Vereinheitlichung, Ordnung und Durchgriff vielfach als unfähig, größere Minderheiten innerhalb seiner Grenzen zu tolerieren. Anders als früher die Konfession ließ sich die Ethnie aber nicht wechseln. Immer häufiger wurde nun auf die vollständige Vernichtung unerwünschter Bevölkerungsgruppen – und nicht „bloß“ auf ihre V. – abgezielt. Kaum ein anderes Ereignis zeigte dies deutlicher als die in Völkermord übergehende V. der Armenier durch das Osmanische Reich 1915/16, nachdem dieses eine schwere militärische Niederlage gegen die russische Armee erlitten hatte. Die Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg war janusköpfig. Einerseits verschrieb sich der „Kleine Versailler Vertrag“ 1919 dem Schutz nationaler und religiöser Minderheiten, andererseits standen auch die demokratischen Siegermächte England und Frankreich beim Vertragswerk von Lausanne Pate, das 1923 einen griechisch-türkischen Nachfolgekrieg mit dem ersten international sanktionierten Abkommen über einen großen wechselseitigen Bevölkerungsaustausch muslimischer bzw. orthodoxer Minderheiten beendete.

3. Ursachen von Flucht und Vertreibung

F. und V. der Deutschen hatten kurz-, mittel- und langfristige Ursachen. In den historischen Tiefenschichten war v. a. das im Zeitalter des Nationalismus komplizierter werdende Verhältnis zwischen Deutschen und ihren östlichen Nachbarn wirkungsmächtig. Der epochenspezifische Drang staatenloser, meist slawischer Völker nach größerer nationaler Autonomie bis hin zur Selbstständigkeit stieß sich im Verlauf des 19. Jh. immer härter mit den Interessen der Regierungen Preußens (bzw. ab 1871 des Deutschen Reichs) und der Donaumonarchie.

Die Pariser Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg belasteten die Beziehungen zwischen den Völkern weiter. Den Verlierern wurde das vom US-Präsidenten Woodrow Wilson 1918 proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker gerade an einigen neuralgischen Punkten wie in den böhmischen Ländern („Sudetenland“) oder weiten Teilen Westpreußens versagt. Während der Großteil Westpreußens u. a. gemischt besiedelte Gebiete an den wieder erstehenden polnischen Staat fielen und dadurch künftig ein konfliktträchtiger „Korridor“ die Provinz Ostpreußen und das zur Freien Stadt erklärte Danzig vom restlichen Reich trennte, kamen die deutschsprachigen Teile der böhmischen Länder zur neu gegründeten Tschechoslowakei.

Diese, aber auch andere neue Staaten im östlichen Europa begriffen sich trotz ihrer teils großen Minderheiten als Nationalstaaten. Ihre Minderheitenpolitik war zwar unterschiedlich, doch generell vertiefte v. a. eine die Titularnationen begünstigende Sprach- und Schulpolitik die Nationalitätenkonflikte weiter. Das nationalsozialistische Deutschland instrumentalisierte die bestehenden Gegensätze in den Jahren 1938/39 – unter Mitwirkung deutscher Volksgruppen – zur Zerstörung der Tschechoslowakei und zur Vorbereitung des Angriffs auf Polen als Basis für den geplanten Lebensraumkrieg im Osten. In vielen der während des Zweiten Weltkrieges vom „Großdeutschen Reich“ besetzten Länder – v. a. in Polen, Jugoslawien und der UdSSR – begingen sogenannte Einsatzgruppen und z. T. auch Truppen der Wehrmacht millionenfach schwerste Verbrechen. Auch Angehörige deutscher Minderheiten waren daran beteiligt oder wurden zumindest darin verstrickt. Angesichts dieser jüngsten Erfahrungen mit den Deutschen kumulierten seit langem bestehende Vorbehalte bei den Politikern der ostmitteleuropäischen Exilregierungen in London und den Kräften im Untergrund derart, dass die V. der Deutschen eines der zentralen Ziele der von ihnen angestrebten Nachkriegsordnung wurde.

Die V. der Deutschen aus den alten preußischen Staatsgebieten östlich von Oder und Neiße hatte aber darüber hinaus einen speziellen Hintergrund: Josef Wissarionowitsch Stalin wollte im Zuge seiner imperialistischen Politik die gemischt besiedelten Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik, die ihm zeitweilig schon ein Pakt mit Adolf Hitler 1939 eingebracht hatte, endgültig der ukrainischen bzw. weißrussischen Sowjetrepublik einverleiben. Der seitens der UdSSR betriebenen Verschiebung Polens nach Westen zu Lasten der deutschen Ostgebiete stimmten die demokratischen Siegermächte prinzipiell zu; hinsichtlich des geforderten Umfangs (im Osten Polens verloren etwa zwei Mio. Menschen ihre Heimat, im Osten Deutschlands um die neun Mio.) allerdings nicht ohne Vorbehalte. Der Ende des 19. Jh. ausgeprägte polnische „Westgedanke“ lieferte der Grenzverschiebung historisch fragwürdige Argumente, die auch auf der Potsdamer Konferenz vorgebracht wurden: Bei den seit sieben Jh. von Deutschen besiedelten Landschaften handele sich um nur oberflächlich germanisierte, tatsächlich aber urpolnische Gebiete. Zu keinem Zeitpunkt erwog man ernsthaft, nur die Grenze, nicht aber die ganz überwiegend deutsche Bevölkerung dieser Gebiete zu verschieben. Auch die Westmächte waren von der Erfahrung der Instrumentalisierung der Minderheiten durch A. Hitler und von einer – den Tatsachen nicht entsprechenden – positiven Erinnerung an den Vertrag von Lausanne 1923 geprägt und von der befriedenden Wirkung ethnischer Entflechtung überzeugt. Die auf mehreren Kriegskonferenzen u. a. in Teheran und Jalta vorbereitete Lösung wurde schließlich im Potsdamer Protokoll festgeschrieben: „Überführung“ der deutschen Bevölkerung aus „Polen“ (womit faktisch auch die nur unter polnische Verwaltung gestellten deutschen Ostgebiete gemeint waren), aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn in die deutschen Besatzungszonen. Darüber hinaus versuchten die vertreibenden Staaten mittels einer Reihe eigener Dekrete und Gesetze dem Geschehen ein formal-rechtliches Aussehen zu geben. Sie regelten zwar meist nicht die Zwangsaussiedlung selbst, aber doch die kollektive Enteignung und den Entzug der Staatsangehörigkeit von Bürgern deutscher Sprache, wobei sie faktisch von einer Kollektivschuld ausgingen. Dazu zählten in Polen u. a. die von der „Provisorischen Regierung“ am 2.3.1945 erlassenen Dekrete zur Konfiskation deutschen Eigentums; in Jugoslawien die am 21.11.1944 ergangenen Beschlüsse des AVNOJ und 1945/46 in der Tschechoslowakei ein halbes Dutzend vom Staatspräsidenten Edvard Benesch unterzeichnete Dekrete.

4. Phasen und Formen, Abläufe und regionale Spezifika

In den Kontext von F. und V. gehören bereits die vom Dritten Reich 1939/40 mit der UdSSR und mehreren Staaten im östlichen Europa geschlossenen Verträge zur sogenannten „Umsiedlung“ etwa einer Mio. „Volksdeutscher“ aus mehreren weit verstreuten Gebieten (Estland, Lettland, Ostgalizien, Narew-Region und Wolhynien, Litauen, Bessarabien, Bukowina, Dobrudscha). Ein Großteil wurde zur Germanisierung im sogenannten Warthegau u. a. „eingegliederten Ostgebieten“ angesiedelt, aus denen gleichzeitig über eine Mio. Polen und Juden vertrieben wurden, und 1944/45 zusammen mit den alteingesessenen Deutschen und 1943 hinzugekommenen Schwarzmeerdeutschen in den Sog von F. und V. hineingezogen. Das Gros der weiter östlich siedelnden Russlanddeutschen war davon bereits im August 1941 erfasst worden, als J. W. Stalin nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges die v. a. an der Wolga siedelnde Volksgruppe kollektiv in Haft nahm und nach Sibirien und Kasachstan deportieren ließ.

Aus einigen Siedlungsgebieten in Südosteuropa erfolgte im Herbst 1944 eine Evakuierung vor der Roten Armee (Nordsiebenbürgen, Slowakei sowie westlicher gelegene Teile Jugoslawiens). Im Nordosten gelang dies im größten Teil Ostpreußens infolge fanatischer Durchhaltevisionen nationalsozialistischer Amtsträger nicht mehr. Während die F. hier oft erst spät oder zu spät begann und für eine Mio. Zivilisten nach der Einkesselung Ostpreußens Ende Januar 1945 bestenfalls die „Rettung über See“ blieb, konnten aus Pommern oder Schlesien mehr Menschen – wenn auch bei weitem nicht alle – einzeln, im Treck oder mit den letzten Zügen nach Westen fliehen. Bei Kriegsende im Mai 1945 befanden sich noch bis zu viereinhalb Mio. Deutsche in den Gebieten östlich von Oder und Neiße. Dort und in den böhmischen Ländern, wo über drei Mio. Deutsche beheimatet waren, setzten nun die „wilden Vertreibungen“ ein. Den dafür verantwortlichen polnischen und tschechischen Politikern ging es darum, angesichts der nicht ganz klaren Haltung der Westmächte noch vor der Potsdamer Konferenz möglichst vollendete Tatsachen zu schaffen. Diese V.en waren also nicht Ausdruck spontanen Volkszorns nach den erlittenen Kriegsleiden, sondern Teil eines nüchternen Kalküls. Insgesamt wurden auf diese Weise etwa eine halbe Mio. Menschen aus den Oder-Neiße-Gebieten, eine dreiviertel Mio. aus den böhmischen Ländern vertrieben. Die Siegermächte hatten im Potsdamer Protokoll eine Unterbrechung der V.en gefordert, solange bis sie sich auf eine „gerechte Verteilung“ der Vertriebenen innerhalb ihrer Besatzungszonen geeinigt hätten. Nach dem Ende dieses mehrmonatigen Moratoriums begann die systematische Zwangsaussiedlung oft in großen Eisenbahntransporten auf Vieh- oder Güterwaggons. Im Sudetenland war ab Januar 1946 fast die ganze Bevölkerung – außer den abwesenden Soldaten – von dieser Form des sogenannten Abschubs (tschechisch Odsun) betroffen. Für die Oder/Neiße-Gebiete erlangte ein polnisch-britisches Abkommen vom 14.2.1946 zur Aussiedlung von Deutschen aus Danzig, Pommern und Niederschlesien („Aktion Swallow“) bes. Bedeutung. Insgesamt wurden bis 1949 etwa dreieinhalb Mio. Deutsche aus dem polnischen Machtbereich ausgesiedelt. Für den nördlichen Teil Ostpreußens, der in Potsdam unter sowjetische Verwaltung gestellt worden war, erließ der Ministerrat der UdSSR am 11.10.1947 einen Beschluss, auf dessen Basis bis 1948 knapp 100 000 Deutsche in die SBZ verbracht wurden.

Aus Ungarn wurden zwischen 1946 und 1948 nur etwas mehr als 200 000 der eine halbe Mio. Menschen umfassenden deutschen Volksgruppe ausgesiedelt. Einer Total-V. stand nicht zuletzt die Tatsache im Weg, dass die oft sehr gut integrierten Ungarndeutschen trotz der – späten – Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht im März 1944 keineswegs von allen in der Gesellschaft als Fremdkörper betrachtet wurden. In Rumänien kamen Überlegungen zur V. der Deutschen auch deshalb nicht zum Zuge, weil die gemeinsame Erfahrung der Magyarisierung unter ungarischer Herrschaft bis 1918 nachwirkte. Der größte Teil der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, wenngleich vom kommunistischen Staat massiv unterdrückt, konnte im Land bleiben. Dagegen praktizierte das kommunistische Jugoslawien, gestützt auf den Vorwurf mangelnder Staatstreue, eine Politik der „ethnischen Säuberung“ gegen die Deutschen. Als Instrumente dienten dabei brutale Internierung, zeitweilige Fluchtbeihilfe und schließlich Atomisierung. Grund für den jugoslawischen Sonderweg war das Scheitern diplomatischer Bemühungen, die Siegermächte auch offiziell zur Aufnahme von Donauschwaben in den deutschen Besatzungszonen zu bewegen. Internierungslager mit unmenschlichen Zuständen und hohen Todesraten gab es aber auch im polnischen Machtbereich und in der Tschechoslowakei. Ebenfalls so gut wie alle V.s-Gebiete, aber v. a. auch Siebenbürgen und das Banat, waren von der Deportation zur Zwangsarbeit in die UdSSR betroffen. Viele der bis zu einer halben Mio. Opfer dieser Politik überlebten die Arbeitslager (Lager) nicht.

Das Schlusskapitel von F. und V. erstreckte sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Insgesamt betraf die Spätaussiedlung nochmals einige Mio. Deutsche, die sich vom Banat über Oberschlesien bis in die russischen Deportationsgebiete einer Politik der Entnationalisierung unterworfen sahen und in Etappen, teils erst nach 1989, in die BRD kamen.

5. Opferzahlen und das Problem der strafrechtlichen Ahndung

Das Potsdamer Protokoll hatte proklamiert, den Bevölkerungstransfer „geordnet und human“ durchzuführen. Die folgende Zwangsaussiedlung war zwar tatsächlich von einem weniger hohen Maß an Brutalität gekennzeichnet als die vorherigen Phasen, während derer Massenvergewaltigungen, Totschlag und Mord an der Tagesordnung waren. Doch blieb auch sie aufgrund vielfach unmenschlicher Transportbedingungen und gewalttätiger Übergriffe von einem humanen Ablauf weit entfernt. Wie viele Menschen, meist Frauen, Kinder und Ältere, im Zusammenhang mit F. und V. starben, ist aus sachlichen und methodischen Gründen bis heute umstritten; ebenso die Frage, ob auch die oft erst nach Jahren an den Spätfolgen erlittener Gesundheitsschäden verstorbenen Menschen mitzuzählen sind. Die letzte offizielle Untersuchung durch das Bundesarchiv ermittelte 1974 (ohne die Opfer in der UdSSR) 600 000 Tote in unmittelbarer Folge von Verbrechen. Daneben gibt es aber eine noch größere Dunkelziffer von Fällen, die bis heute ungeklärt sind. Die Opferzahlen sind auch deswegen ein so schwieriges Kapitel, weil eine strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen im Kontext von F. und V. und damit auch eine genaue Aufklärung konkreter Einzelfälle so gut wie ganz ausgeblieben ist. Die Täter, überwiegend Soldaten oder Milizionäre der die V. durchführenden Staaten, waren in der Konstellation des Kalten Krieges jahrzehntelang vor dem Zugriff westlicher Staatsanwaltschaften geschützt. Doch war auch in der BRD – zunächst eher aus Rücksicht auf die Mitverantwortung der Westmächte für die V.en, dann im Kontext der sogenannten Entspannungspolitik Richtung Ostblock – das Interesse an einer Strafverfolgung gering.

6. Wirtschaftlich-soziale, politische und kulturelle Integration

Der Zustrom von acht Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen in den Westen Deutschlands, von ca. vier Mio. in die SBZ (darüber hinaus von einigen Hunderttausend nach Österreich) stellte die Aufnahmegebiete vor gewaltige Herausforderungen zunächst v. a. hinsichtlich Ernährung und Unterbringung (vorwiegend in Lagern und Baracken). Die SBZ mit einem (Ende 1947) Anteil der „Umsiedler“ an der Gesamtbevölkerung von 24,3 % hatte die höchste Last zu tragen. In der amerikanischen Zone lag die Quote bei 17,7 %, in der britischen bei 14,5 % und in der französischen bei nur 1 %. Konflikte zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen blieben nicht aus, auch weil oft Katholiken in fast rein protestantisch geprägte Regionen oder Protestanten in katholische Gegenden gekommen waren. Die Religionsgeographie Deutschlands veränderte sich jetzt so stark wie seit der Zeit von Reformation und Gegenreformation nicht mehr.

Staatliche und kirchliche Hilfsmaßnahmen, aber auch Initiativen der Selbsthilfe linderten die größte materielle und seelische Not. Der folgende soziale und wirtschaftliche Integrationsprozess wurde stark dadurch begünstigt, dass der Tod von Mio. Soldaten eine Lücke in die Bevölkerungspyramide gerissen hatte. Sobald der Wiederaufbau in Gang kam, im Westen in Form eines „Wirtschaftswunders“, gelang vielen Vertriebenen die berufliche Eingliederung. In der BRD half zudem das 1952 beschlossene Lastenausgleichsgesetz, das die Vertriebenen zumindest für einen kleinen Teil ihres Verlusts entschädigte und v. a. auch den Wohnungsbau ankurbelte. Angesichts der Größe der Herausforderung kann die Integration als gelungen gelten. Doch blieben die Vertriebenen hinsichtlich ihres (Immobilien-)Vermögens und ihrer sozialen Stellung noch lange messbar hinter den Alteingesessenen zurück. Zu den Gründen dafür zählte auch der weitgehend reibungslose Ablauf der politischen Integration. Diese war dadurch gekennzeichnet, dass sich die Vertriebenen mit einer nicht ihrem Bevölkerungsanteil entsprechenden Repräsentanz in den Parlamenten und kommunalen Vertretungskörperschaften zufrieden gaben. Dass sie es nicht vermochten, ihre Interessen nachdrücklicher zu vertreten, war in der BRD allerdings nur die Kehrseite einer generellen Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie und ihres funktionierenden Parteiensystems. Angesichts der guten ökonomischen Entwicklung gelang es v. a. den Unionsparteien (CDU, CSU) und der SPD (SPD) schon seit Ende der 1950er Jahre zunehmend, den 1950 gegründeten BHE als wichtigstes politisches Sammellager der neuen Bürger überflüssig zu machen und dessen Wähler zu absorbieren. Das in den ersten Nachkriegsjahren über die Vertriebenen verhängte Koalitionsverbot hatte ihnen einen nicht wieder einholbaren Startnachteil auf der politischen Bühne eingetragen. Hinzu kam, dass bis zur Gründung des BdV 1957 auf nationaler Ebene zwei Organisationen um die Vertretung dieser ausgesprochen heterogenen Bevölkerungsgruppe konkurrierten.

Politisch richtungweisend war der Gewaltverzicht, den die Landsmannschaften am 5.8.1950 in einer bis heute unterschiedlich diskutierten Charta der Heimatvertriebenen in Stuttgart feierlich erklärten. An eine friedliche Wiedergewinnung der verlorenen Heimat glaubten aber, auch an der Spitze der führenden Parteien, bald immer weniger. Die vom BdV dennoch aufrecht erhaltenen Forderungen nach Änderung der faktisch bestehenden Ostgrenzen und die damit verbundenen Hoffnungen auf eine Rückkehr stießen sich im Ablauf der Jahre immer heftiger an den sich wandelnden gesellschaftlichen, aber auch – nach dem Mauerbau 1961 und dem Beginn der internationalen Détente – außenpolitischen Realitäten. In den Medien und in den Kirchen, v. a. im protestantischen Milieu, wuchs die Bereitschaft zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und zum Verzicht auf das von der betreffenden Landsmannschaft nach wie vor geltend gemachte „Recht auf die Heimat“ im Sudetenland. Anfang der 1970er Jahre kulminierten diese Entwicklungen in den Ostverträgen einer neuen sozialliberalen Bundesregierung mit den Regierungen in Moskau, Warschau und Prag. Nach dem Ende der deutschen Teilung wurden die neuen Grenzen vom Parlament des vereinigten Deutschlands in einem Vertrag mit Polen definitiv besiegelt.

Der Rahmen für die Bewahrung der kulturellen Traditionen war von vornherein eng gesteckt, nachdem die Besatzungsmächte dafür gesorgt hatten, dass die alten Dorf- und Stadtgemeinschaften in der neuen Heimat möglichst zerstreut angesiedelt wurden. Die Bewahrung der Dialekte als wesentlicher Teil der Identität der ostdeutschen Landschaften war auch deshalb faktisch unmöglich. Gestützt auf den Kulturparagraphen des Bundesvertriebenengesetzes bildete sich in den folgenden Jahrzehnten ein kleines Netz an Einrichtungen, die sich – oft mit regionaler Ausrichtung – der Pflege des ostdeutschen Kulturerbes in seinen unterschiedlichsten Facetten widmeten. Hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Resonanz dieser Arbeit fiel aber seit den 1960er Jahren mehr und mehr „das Kurzzeitgedächtnis unserer Nation hinsichtlich dessen“ auf, „was sie im alten Osten besessen hatte“ (Conrads 1994: 703). Auch wenn sich durch die Demokratisierungsprozesse (Demokratisierung) in Mittel- und Osteuropa auf internationaler Ebene seit 1989 manches entspannte, blieb das Thema F. und V. v. a. wegen seiner Bezüge zur Bewältigung des Nationalsozialismus für die deutsche Gesellschaft eine Herausforderung, wie die Konflikte um die 2009 spät gegründete Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung dokumentieren.

7. Internationale Entwicklungen nach 1945

Nicht nur Deutsche waren am Ende des Zweiten Weltkriegs von F. und V. betroffen. „Ethnische Säuberungen“ waren damals auch andernorts – und bleiben es bis heute – ein Thema der internationalen Politik. Aus den von Polen an die UdSSR übergehenden Gebieten wurden auf der Basis eines bilateralen „Evakuierungs“-Abkommens zwei Mio. Polen (zwangs-)ausgesiedelt, umgekehrt über eine halbe Mio. Ukrainer, die bis dahin westlich der neuen polnisch-sowjetischen Grenze gelebt hatten. Hinzu kamen über 400 000 Finnen aus dem von der UdSSR eroberten Ostkarelien, 250 000 Italiener aus Istrien und angrenzenden Gebieten Jugoslawiens sowie weitere Hunderttausende, die von einem Bevölkerungsaustausch zwischen Ungarn und seinen Nachbarn im Norden und Süden (Slowakei und Serbien) betroffen waren.

Gleichzeitig wurde im Zuge der Entkolonialisierung die Politik ethnischer Entflechtung bei der Errichtung demokratischer Nationalstaaten auf den indischen Subkontinent und in den Nahen Osten exportiert. Das Ergebnis waren ca. 12 Mio. geflohene oder vertriebene indische Hindus, Muslime und Sikhs (1947–50) sowie 800 000 palästinensische Araber (1948/49). Die „ethnischen Säuberungen“ im Zeitalter des Zweiten Weltkriegs hatten mit etwa 30 Mio. Opfern in der Dimension bis dahin nicht ihresgleichen. Beendet waren sie damit keineswegs. Zu einem ihrer zentralen Schauplätze wurde in den folgenden Jahrzehnten das von zahlreichen ethnischen Konflikten durchzogene postkoloniale Afrika mit dem Biafra-Krieg in Nigeria Ende der 1960er Jahre und dem als Völkermord zu bewertenden Ausrottungsfeldzug der Hutus gegen die Tutsi in Ruanda mit ca. einer Mio. Toten innerhalb weniger Monate (1994). Zusammen mit den ethnischen V.en während der Kriege im zerfallenen Jugoslawien und v. a. dem Massaker serbischer Milizen an bosnischen Muslimen in Srebrenica im Juli 1995 haben diese Ereignisse auch der völkerrechtlichen Diskussion einen neuen Schub gegeben.

Bereits unter dem Eindruck der Shoa und der ethnischen Gewaltpolitik in der Zeit des Zweiten Weltkriegs hatte die UNO am 9.12.1948 eine „Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Genozids“ beschlossen. Danach setzt Genozid nicht die Intention der Vernichtung aller einzelnen Angehörigen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe voraus; es genügt bereits die Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Entgegen dieser weiten Definition wird heute in der Forschung aber überwiegend der Unterschied zwischen dem – in Deutschland durch den Holocaust geprägten – Begriff des Genozids und den der „ethnischen Säuberungen“ betont, bei dem es um die Entfernung einer Bevölkerungsgruppe aus einem bestimmten Gebiet geht, nicht aber um die Absicht der möglichst totalen physischen Vernichtung jedes einzelnen Mitglieds dieser Gruppe.

Durchgesetzt hat sich demgegenüber – zumindest deklamatorisch – die Vorstellung von einem „Recht auf Heimat“. Dieses wurde, nachdem die Genfer Flüchtlingskonvention dazu keine weiterführende Aussage gemacht hatte, von Juristen vor dem Erfahrungshintergrund v. a. der V. der Deutschen aus einer Reihe völkerrechtlicher Prinzipien und Normen entwickelt. Für die deutschen Vertriebenen aufgrund der internationalen Konstellation und des Alterns der „Erlebnisgeneration“ nicht durchsetzbar, ist das Rückkehrrecht am Ende des Bosnien-Krieges im Vertrag von Dayton 1995 erstmals verankert worden. Im folgenden Jahrzehnt kehrte auf dieser Basis zumindest die Hälfte der ca. zwei Mio. Vertriebenen in die Heimat zurück. Gleichwohl erreichte die Zahl der von F. und V. Betroffenen weltweit Mitte der 2010er Jahre v. a. infolge von (Bürger-)Kriegen in Syrien und im Irak neue Höchststände.