Europarecht

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1. Begriff

Unter E. im weiteren Sinne versteht man das Recht der europäischen internationalen Organisationen. Hervorzuheben ist insoweit der Europarat, in dessen Rahmen neben weiteren Abkommen die EMRK entstanden ist. Weitere Organisationen sind die EFTA, die OECD und die OSZE. Als spezielles Rechtsgebiet hat sich wegen seiner großen praktischen Bedeutung, aber auch wegen seiner Besonderheiten (Supranationalität) als E. „im engeren Sinne“ das Recht der EG, jetzt das Recht der EU herausgebildet. Dieses knüpft in manchen Bereichen an andere europäische internationale Organisationen an, insb. an die EFTA durch den Vertrag über den EWR und den Europarat (vgl. Art. 220 AEUV), wobei die EMRK für das EU-Recht selbst bedeutsam ist.

2. Recht der EU

2.1 Einteilung und Begriffe

Das Unionsrecht wird hinsichtlich des Ranges in Primär-, Sekundär- und Tertiärrecht eingeteilt. Diese Einteilung ist praktisch bedeutsam, weil das Primärrecht Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit von Sekundär- und Tertiärrecht, das Sekundärrecht Prüfungsmaßstab für Tertiärrecht ist. Insoweit besteht eine Prüfungspflicht für unionale, aber auch für nationale Behörden und Gerichte (Gerichtsbarkeit). Für die verbindliche Entscheidung über die Vereinbarkeit mit höherrangigem Unionsrecht ist allein der EuGH zuständig, weshalb ggf. von nationalen Gerichten dessen Vorabentscheidung eingeholt werden muss (vgl. Art. 267 Abs. 1 b AEUV; EuGH Rs. 314/85 – Foto-Frost). Hinsichtlich des Regelungsgegenstandes wird zwischen institutionellem und materiellem Recht unterschieden.

2.2 Primärrecht

Das Primärrecht besteht aus unterschiedlichen Rechtsquellen, ist in seinem Rang und seinem Charakter aber einheitlich. Seit dem Vertrag von Lissabon gehören dazu der EUV und der AEUV einschließlich der Protokolle und Anhänge dazu (Art. 51 EUV; anders Erklärungen, die zur Auslegung der Verträge herangezogen werden können) sowie die durch Art. 6 Abs. 1 EUV mit gleichem Rang einbezogene EuGRC. Die Verträge beruhen auf völkerrechtlichen Verträgen zwischen den Mitgliedstaaten und können im ordentlichen Verfahren nur durch solche geändert werden (Art. 48 Abs. 4 EUV). Auch Änderungen im vereinfachten Verfahren können nicht gegen den Willen der Mitgliedstaaten und ihrer Parlamente erfolgen (vgl. Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV). Ferner gehören zum Primärrecht die allg.en Rechtsgrundätze, denen diese Qualität zukommt, insb. die neben der EuGRC fortbestehenden Unionsgrundrechte und rechtsstaatlichen Prinzipien (Art. 6 Abs. 3 EUV). Als verbindliche Auslegungen der Verträge haben auch die vom EuGH entwickelten Strukturprinzipien und daraus hergeleitete Folgerungen (Vorrang des Unionsrechts, unmittelbare Anwendbarkeit von Bestimmungen des Primärrechts und von RL, Begründung subjektiver Rechte, Schadensersatz bei Verstößen der Mitgliedstaaten gegen Unionsrecht) den primärrechtlichen Rang.

2.3 Sekundärrecht

2.3.1 Begriff

Sekundärrecht ist das von den Organen der EU nach Maßgabe der Verträge erlassene Recht (vgl. Art. 288 Abs. 1 AEUV). Es heißt so, weil es wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV) jeweils einer Rechtsgrundlage im Primärrecht bedarf, weshalb es auch als abgeleitetes Recht bezeichnet wird. Die im E. insoweit vorgesehenen Typen der Rechtsakte sind in Art. 288 Abs. 2–5 AEUV aufgeführt. Die konkreten Kompetenzgrundlagen dafür sind in den jeweiligen materiellen Bestimmungen der Politikbereiche aufzusuchen. Die Kompetenztypen und die ihnen zugeordneten Materien sind in Art. 2–6 AEUV geregelt.

2.3.2 Verordnung

Gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV hat die VO allg.e Geltung, ist in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Sie regelt eine unbestimmte Vielzahl von Sachverhalten generell und abstrakt und erfüllt damit die materiellen Bedingungen eines Gesetzes, weshalb sie im VVE (Europäische Verfassung), soweit sie vom Unionsgesetzgeber &pfv;Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union erlassen wird, zutreffend „Europäisches Gesetz“ genannt wurde, was leider der Vertrag von Lissabon im Zusammenhang mit der intendierten Streichung aller „staatsähnlichen“ Elemente nicht übernahm. Wegen ihrer unmittelbaren Geltung in den Mitgliedstaaten hat sie Durchgriffswirkung und bedarf nicht einer Bestätigung durch nationale Organe, die sogar unzulässig ist (EuGH Rs. 272/83 – Kommission/Italien). Diese haben die VO anzuwenden und wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts entgegenstehendes nationales Recht außer Anwendung zu lassen. Zulässig sind allein punktuelle Normwiederholungen im Rahmen eines zusammenhängenden Gesetzeswerks mit ausdrücklichem Verweis auf das vorrangige Unionsrecht (Beispiel: Verweise im LFGB auf die EU-BasisVO 178/2002). Soweit in der VO nationale Durchführungsakte vorgesehen oder solche zur effektiven Durchsetzung (z. B. durch Bewehrung mit Bußgeld- oder Straftatbeständen) der Regelungen erforderlich sind, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, diese zu erlassen (s. u. 4.2). Sie dürfen dabei aber keine Maßnahmen ergreifen, die eine Änderung der Tragweite einer VO oder eine Ergänzung ihrer Vorschriften zum Gegenstand haben.

2.3.3 Richtlinie

Die RL unterscheidet sich von der VO dadurch, dass sie der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedarf. Diese müssen die durch die RL vorgegebenen Ziele, ggf. deren bereits sehr präzisen Inhalt (Beispiel: RL 2000/84 über die Sommerzeit), in nationale Rechtsnormen umsetzen (gestufte Verbindlichkeit). Um die Verbindlichkeit als Rechtsnorm deutlicher zu machen, sah der VVE die Bezeichnung „Europäisches Rahmengesetz“ vor, die im Vertrag von Lissabon nicht übernommen wurde. Die in Art. 288 Abs. 3 AEUV vorgesehene „Wahl der Form und der Mittel“ hat der EuGH zur Sicherstellung der praktischen Wirksamkeit dahingehend eingeschränkt, dass er für den Umsetzungsakt die Qualität einer verbindlichen Rechtsnorm fordert (Publizität, Außenwirkung zur Durchsetzung von durch RL begründeten Rechten von Individuen, Rechtssicherheit). Die bloße Verwaltungspraxis und auch Verwaltungsvorschriften genügen nicht (EuGH Rs. C-361/88 und Rs. C-59/89 – Kommission/Deutschland). Für die ordnungsgemäße Umsetzung ist der nach dem nationalen Verfassungsrecht zuständige Gesetzgeber verantwortlich. Eigenmächtige, in der RL nicht vorgesehene Abweichungen wie der Erlass von Übergangsvorschriften sind unzulässig (EuGH Rs. C-396/92 – Bund Naturschutz u.a./Freistaat Bayern hinsichtlich UVP-RL bzw. UVPG). Soweit allg.e Umsetzungsprobleme bestehen (z. B. tatsächliche Unmöglichkeit der Einhaltung festgesetzter Grenzwerte), kann dem allein durch Änderungen der RL durch den Unionsgesetzgeber Rechnung getragen werden. Soweit das nationale Recht durch RL determiniert ist, muss es richtlinienkonform ausgelegt werden (EuGH Rs. 79/83 – Harz/Tradax). Bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist dürfen keine Vorschriften erlassen werden, die die Erreichung des mit der RL verfolgten Ziels gefährden (Vorwirkungen, Frustrationsverbot; EuGH Rs. C-212/04 – Adeneler).

Der Nachteil der RL gegenüber der VO ist ihre Umsetzungsbedürftigkeit, die wegen fehlender, verzögerter oder unzureichender Umsetzung durch die Mitgliedstaaten zu Defiziten der Einheitlichkeit des Unionsrechts geführt hat. Soweit dies rechtlich möglich ist und politisch durchsetzbar erscheint, gibt die Europäische Kommission als Initiativorgan der Rechtsetzung der VO den Vorzug, was vom Unionsgesetzgeber Europäisches Parlament und Rat in jüngster Zeit auch häufig bestätigt wird. Dem allg.en Ansatz des effet utile entspr. hat der EuGH zudem RL unmittelbare Wirkung zuerkannt, wenn sie hinreichend bestimmt (self-executing) sind, die Umsetzungsfrist abgelaufen ist und dadurch keine Verpflichtung eines Individuums gegenüber dem Staat oder eine unmittelbare Verpflichtung gegenüber einem anderen Individuum (sog.e horizontale Wirkung) herbeigeführt wird (EuGH Rs. 8/81 – Becker; Rs. C-91/92 – Faccini Dori). Die unterbliebene Umsetzung von RL war auch der Ausgangspunkt der Rechtsprechung des EuGH zum im Unionsrecht wurzelnden Schadensersatzanspruch (Schadensersatz) gegenüber Mitgliedstaaten wegen Verstößen gegen das Unionsrecht (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich).

2.3.4 Beschluss

Der aus dem VVE übernommene Begriff „Beschluss“ (Art. 288 Abs. 4 AEUV) fasst sehr unterschiedliche Handlungsformen des vorherigen Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts zusammen, nämlich die bisherige „Entscheidung“ sowie die Beschlüsse im Bereich der GASP. Hinzu kommen Beschlüsse, die bislang als flexibles Instrument genutzt wurden und jetzt primärrechtlich verankert wurden. Gemeinsam ist allen Beschlüssen die Verbindlichkeit in allen ihren Teilen (Art. 288 Abs. 4 S. 1 AEUV). Der bisherigen Entscheidung entsprechen Beschlüsse, die an bestimmte Adressaten gerichtet und nur für diese verbindlich sind (Art. 288 Abs. 4 S. 2 AEUV). Dies sind i. d. R. von der Kommission erlassene Verwaltungsakte (Europäisches Verwaltungsrecht) gegenüber Individuen (z. B. Sanktionen wegen Verstößen gegen das Kartellrecht) oder gegenüber Mitgliedstaaten (z. B. Beanstandung unionsrechtswidrig gewährter nationaler Beihilfen). Sie haben unmittelbare Wirkung. Adressatenlose Beschlüsse erfassen die bereits bisher als „Beschluss“ ergangenen adressatenlosen Rechtshandlungen mit normativem Charakter v. a. im Bereich der GASP (jetzt Art. 25 b bzw. Art. 26 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 EUV).

2.3.5 Empfehlungen und Stellungnahmen

Diese sind gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV nicht verbindlich. Sie bedürfen wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) einer Kompetenzgrundlage in den Verträgen, haben politische Wirkungen und sind bei der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften zu berücksichtigen (EuGH Rs. C-322/88 – Grimaldi).

2.3.6 Rechtsetzung von Sekundärrecht

Die Gesetzgebungsinitiative kommt grundsätzlich, d. h. abgesehen von wenigen Ausnahmefällen, generell der Kommission zu (Art. 17 Abs. 1 S. 1 EUV). Ausdrücklich so bezeichneter „Gesetzgeber“ der EU sind aber das Europäisches Parlament (Art. 14 Abs. 1 S. 1 EUV) und der Rat (Art. 16 Abs. 1 S. 1 EUV). Gesetzgebungsverfahren sind Verfahren, in denen Europäisches Parlament und der Rat beteiligt sind und die mit „Gesetzgebungsakten“ enden (Art. 289 Abs. 3 AEUV). Im Regelfall, dem „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ (Art. 289 Abs. 1, Art. 294 AEUV), das im Wesentlichen dem im Vertrag von Maastricht (1992) eingeführten Verfahren der Mitentscheidung entspricht, wirken diese gleichberechtigt zusammen. Das Verfahren sieht grundsätzlich zwei, bei Erforderlichkeit eines Vermittlungsverfahrens drei Lesungen vor. Der Rat beschließt dabei mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 Abs. 4 EUV), d. h. 55 % der Mitglieder (Mehrheit der Mitgliedstaaten), wobei diese 65 % der Bevölkerung der EU ausmachen müssen (sog.er demographischer Faktor). Das Europäische Parlament beschließt mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Dies entspr. der von Art. 10 Abs. 2 EUV geforderten doppelten demokratischen Legitimation der EU. Das Zusammenwirken von Kommission, Europäischem Parlament und Rat mit der wechselseitigen Überprüfung der Vorschläge, Standpunkte und Abänderungen führt zu einer eingehenden Diskussion, die in einer Union der Staaten und der Bürger erforderlich ist, um letztlich zu einem für alle Beteiligten akzeptablen Kompromiss zu gelangen (Beispiel: Entstehung der Dienstleistungs-RL 2006/123/EG). Um dies zu erreichen, kann eine Abstimmung zwischen diesen Organen im informellen „Trilog“-Verfahren erfolgen. Dieses wird wegen fehlender Öffentlichkeit kritisiert, trägt aber zur Effektivität bei und ersetzt nicht das in den Verträgen vorgesehene Verfahren, das nicht nur im Parlament, sondern jetzt auch im Rat öffentlich ist (Art. 16 Abs. 8 EUV). Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren kommt dann zum Tragen, wenn es in der relevanten Kompetenzvorschrift angeordnet wird (z. B. Art. 114 AEUV für Maßnahmen zur Herstellung des Europäischen Binnenmarktes, soweit nicht spezielle Vorschriften einschlägig sind, z. B. Art. 53 Abs. 1 i. V. m. Art. 62 AEUV für die Dienstleistungs-RL 2006/123/EG). Bes. Gesetzgebungsverfahren sind das Zustimmungsverfahren (meist einstimmiger Beschluss des Rates mit Zustimmung des Europäischen Parlaments, z. B. Art. 19 Abs. 1 AEUV für Antidiskriminierungsmaßnahmen; Art. 86 Abs. 1, Abs. 4 AEUV für Europäische Staatsanwaltschaft) und das Verfahren der bloßen (allerdings für die Rechtmäßigkeit der Norm erforderlichen) Anhörung des Europäischen Parlaments (z. B. Art. 81 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV: Familienrecht; Art. 113 AEUV: Rechtsangleichung im Steuerrecht; Art. 115 AEUV für die gemäß Art. 114 Abs. 2 nicht von Art. 114 AEUV erfassten Bereiche zur Herstellung des Binnenmarkts; bestimmte Bereiche der EWWU, Art. 126 Abs. 4 UAbs. 2 und 3, Art. 127 Abs. 6 AEUV sowie des Umweltrechts, Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV). Soweit dies ausdrücklich angeordnet wird, sind auch die beratenden Einrichtungen EWSA und AdR zu beteiligen (z. B. Art. 114 Abs. 1 AEUV: EWSA; Art. 192 Abs. 1 AEUV: EWSA und AdR).

Welcher Rechtsaktstyp gewählt werden kann, ergibt sich aus der jeweiligen Kompetenznorm. Soweit diese „Maßnahmen“ (so z. B. Art. 114 Abs. 1 AEUV) oder „Vorkehrungen“ (so z. B. Art. 19 Abs. 1 AEUV) vorsieht, eröffnet dies jede der in Art. 288 AEUV genannten Handlungsformen. Sind allein RL genannt (so z. B. Art. 115 AEUV), kommen nur diese in Frage. Da der in Art. 5 Abs. 4 EUV normierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch dahingehend verstanden wird, dass wegen der geringeren Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten „unter sonst gleichen Gegebenheiten“ der RL der Vorzug zu geben sei, dieser Grundsatz gemäß Art. 296 Abs. 1 AEUV zu beachten ist und sich die in Art. 296 Abs. 2 AEUV enthaltene Begründungspflicht auch auf die Wahl der Handlungsform erstreckt, muss der Vorzug des Typs VO begründet werden. Hierfür kann die Sicherstellung der Einheitlichkeit des Unionsrechts angeführt werden, zumal dann, wenn weder verfassungsrechtliche Gründe noch die Einfügung in die jeweilige nationale Rechtsordnung eine RL erfordern bzw. empfehlen. Daher ist der Typ VO erforderlich, wenn mit dem Rechtsakt zugl. Einrichtungen der Union errichtet werden (so z. B. die EFSA durch die sog.e Basis-VO 178/2002 für Lebensmittelrecht), bes. sinnvoll, wenn es um die Regelung einer neuen Materie geht (so bei der sog.en Novel-Food-VO 258/97), und gerechtfertigt, wenn und soweit die Materie eine Rechtsvereinheitlichung und nicht nur eine Rechtsangleichung nahelegt. Dies ist z. B. bei Grundanforderungen an die Lebensmittelsicherheit der Fall. Deshalb wurden die bereits für die Akzeptanz der gegenseitigen Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten und geprüften Produkten, ohne den freien Warenverkehr behindernde zusätzliche Qualitätsanforderungen zu verlangen und Doppelkontrollen vorzunehmen, erforderlichen RL über Zusatzstoffe (RL 94/35, RL 94/36, RL 95/2/EG) und die Lebensmittelüberwachung (z. B. RL 89/397/EWG) sowie die Etikettierung von Lebensmitteln (RL 2000/13/EG) nach und nach durch VO ersetzt (VO 1333/2008 über Lebensmittelzusatzstoffe; VO 882/2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts; mit Wirkung vom 14.12.2019 aufgehoben und abgelöst durch VO 2017/625; Lebensmittelinformations-VO 1169/2011 – LMIV).

2.4 Tertiärrecht

Als Tertiärrecht wird auf Ermächtigungen im Sekundärrecht gestütztes Recht bezeichnet. Gemäß Art. 290 Abs. 1 AEUV kann in Gesetzgebungsakten, d. h. in einem Gesetzgebungsverfahren und damit von Europäischem Parlament und Rat erlassenem Sekundärrecht (Art. 289 Abs. 3 AEUV), der Kommission (nach EuGH C-270/12 – ESMA auch Agenturen der EU-Eigenverwaltung) die Befugnis erteilt werden, „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung“ (deswegen handelt es sich gleichwohl um Gesetze im materiellen Sinn) zur Ergänzung oder Änderung bestimmter „nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsakts“ zu erlassen (ausdrücklich als solche zu bezeichnende „delegierte Rechtsakte“, Art. 290 Abs. 3 AEUV). Die „wesentlichen“ Aspekte eines Bereichs sind dabei dem Gesetzgebungsakt vorbehalten, der Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festlegen muss (vgl. die Regelung in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG). Durch die Festlegung von Bedingungen wie der Widerrufsmöglichkeit im Gesetzgebungsakt behalten Europäisches Parlament und Rat die Kontrolle (Art. 290 Abs. 2 AEUV). Beispiel: Art. 51 LMIV – VO 1169/2011. Gemäß Art. 291 AEUV können die Kommission (ausnahmsweise auch der Rat) ermächtigt werden, ausdrücklich als solche zu bezeichnende „Durchführungsrechtsakte“ zu erlassen. Die Wahrnehmung dieser Durchführungsbefugnisse durch die Kommission obliegt den Mitgliedstaaten gemäß der sog.en Komitologie-VO Nr. 182/2011 über von diesen besetzte Ausschüsse. Dieses Ausschussverfahren spielt im Lebensmittelrecht durch die Beteiligung des Ständigen Ausschusses für die Lebensmittelkette und die Tiergesundheit (jetzt für Pflanzen, Tiere, Lebensmittel und Futtermittel, Art. 58 Basis-VO 178/2002) eine große Rolle.

2.5 Von der EU geschlossene völkerrechtliche Verträge

Die EU hat, wie bereits zuvor die EG, Völkerrechtsfähigkeit (Art. 47 EUV) und kann, soweit ihr entspr.e Kompetenzen übertragen wurden, völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten schließen. Diese Verträge sind gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV für die Organe der EU und für die Mitgliedstaaten verbindlich. Sie bilden einen „integrierenden Bestandteil“ der Unionsrechtsordnung (EuGH Rs. 181/73 – Haegemann). Sie haben wegen der Bindung der Unionsorgane Vorrang vor dem durch diese erlassenen Sekundärrecht (vgl. Art. 288 AEUV), müssen aber wegen der Überprüfungsmöglichkeit durch den EuGH (Art. 218 Abs. 11 AEUV) mit dem Primärrecht vereinbar sein. Soweit Bestimmungen dieser Verträge unmittelbare Wirkung haben, können sie vor dem EuGH durchsetzbare Rechte für Individuen begründen (vgl. z. B. EuGH Rs. C-365/03 – Simutenkov). Gleiches gilt für Beschlüsse von durch solche Verträge geschaffenen Ausschüssen, z. B. dem Assoziationsrat EWG-Türkei (EuGH Rs. C-192/89 – Sevince). Bes. bedeutsam sind von der EU geschlossene Handelsabkommen, da die EU für die Gemeinsame Handelspolitik gemäß Art. 207 AEUV die ausschließliche Kompetenz hat (Art. 3 Abs. 1 e AEUV). Soweit die in solchen Verträgen geregelten Materien nicht von dieser Kompetenz erfasst sind, ist ein sog.es gemischtes Abkommen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den Drittstaaten andererseits erforderlich. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn das Abkommen Bestimmungen über die Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten oder Portfolioinvestitionen enthält (EuGH Gutachten 2/15 – Singapur-Abkommen). Daher sind das CETA-Abkommen mit Kanada und das (sehr umstrittene und wohl wegen Widerständen auf beiden Seiten gescheiterte) TTIP-Abkommen mit den USA gemischte Abkommen.

2.6 Die Relevanz der EMRK für das EU-Europarecht

Gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV „tritt“ die EU der EMRK bei. Damit wurde nicht nur die angesichts des Gutachtens 2/94 des EuGH (EMRK-Beitritt I) erforderliche Rechtsgrundlage geschaffen, sondern die EU zum Beitritt verpflichtet. Die dafür erforderliche Änderung der EMRK, der nur Mitglieder des Europarats und damit Staaten beitreten konnten, erfolgte durch die Einfügung von Art. 59 Abs. 2 EMRK. Der Beitritt wird aber durch das gemäß Art. 218 Abs. 11 AEUV erstattete Gutachten 2/13 des EuGH (EMRK-Beitritt II) blockiert, das den zwischen der EU und den Mitgliedstaaten des Europarats und damit der EMRK ausgehandelten Beitrittsvertrag für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärte. Eigentlicher Grund für die negative Bewertung des EuGH dürfte die von ihm nicht gewollte Kontrolle durch den EGMR sein. Denn nach dem Beitritt wäre die EMRK nicht nur wie bislang Rechtserkenntnisquelle für die Entwicklung der allg.en Rechtsgrundsätze durch den EuGH (Art. 6 Abs. 3 EUV), sondern Rechtsquelle, die die Organe der EU und damit auch den EuGH bindet. Bereits bislang hat die EMRK für das EU-Recht aber darüber hinaus Bedeutung. Denn soweit die EuGRC Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird, es sei denn, das EU-Recht gewährt einen weiter gehenden Schutz (Art. 52 Abs. 3 EuGRC). Ferner sind die Mitgliedstaaten der EU als Vertragsparteien der EMRK an diese auch beim Vollzug des Unionsrechts gebunden, was der Kontrolle durch den EGMR unterliegt (vgl. EGMR Nr. 45036/98 – Bosphorus/Irland. Aber Vermutung der Einhaltung der EMRK, „solange“ der Grundrechtsschutz durch EU-Recht und EuGH-Rspr. äquivalent ist).

3. Institutionelles Recht

3.1 Begriff

Unter institutionellem Recht versteht man die Normen, die die Organstruktur und damit den institutionellen Aufbau der EU und ihrer Organe (Europäisches Parlament; Europäischer Rat; Rat der EU; Europäische Kommission; EuGH) und deren Funktionsweise regeln. Dazu gehören auch die Bestimmungen über das Rechtsetzungsverfahren beim Erlass von Sekundär- und Tertiärrecht.

3.2 Funktion der Organe im System der EU

Gemäß Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV handelt jedes Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind. Damit wird sowohl auf das für das vertikale Verhältnis der EU zu ihren Mitgliedstaaten grundlegende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als auch auf die im horizontalen Verhältnis zu beachtende Organkompetenz Bezug genommen. Dies dient der Herstellung eines institutionellen Gleichgewichts als der Rechtsnatur der Union angepasstem Äquivalent zur Gewaltenteilung eines demokratischen Rechtsstaats. Verstöße dagegen können in Verfahren vor dem EuGH gerügt werden (vgl. EuGH Rs. 138/79 – Roquette Frères/Rat: unterbliebene Anhörung des Europäischen Parlaments). Die Organe sind zu loyaler Zusammenarbeit verpflichtet (Art. 13 Abs. 2 S. 2 EUV), um den Zweck des institutionellen Rahmens der Union, ihren in Art. 2 EUV festgelegten Werten Geltung zu verschaffen, ihre in Art. 3 EUV aufgeführten Ziele zu verfolgen, ihren Interessen, denen der Bürger wie der Staaten, zu dienen sowie die Kohärenz (vgl. Art. 7 AEUV), Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Maßnahmen sicherzustellen (Art. 13 Abs. 1 EUV). Dabei sind entgegengesetzte Interessen, z. B. Umwelt und Landwirtschaft bzw. Industrie, auszugleichen und v. a. widersprüchliche Maßnahmen wie die Förderung von Industrieanlagen in einem Naturschutzgebiet oder die Förderung des Tabakanbaus bei gleichzeitiger Bekämpfung des Rauchens zu vermeiden. Da das Europäische Parlament durch die Direktwahl und der Rat durch die Vertretung der Mitgliedstaaten in ihm politisch besetzte Einrichtungen sind, dürfen insb. sie eigene politische Interessen und Wertungen verfolgen. Sie und insb. der Rat, der wie der Europäische Rat eine „Doppelnatur“ (Herdegen 2017: §7 Rdnr. 4) als Unionsorgan mit rechtlich und politisch in den Mitgliedstaaten rückgebundenen Vertretern (vgl. Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV) hat, müssen aber v. a. als Unionsgesetzgeber ggf. zu Kompromissen im Interesse des Wohls der Union bereit sein. Dazu kann die allein dem Unionsinteresse verpflichtete Kommission (Art. 17 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 UAbs. 3 EUV) als Initiativ- und Vermittlungsorgan beitragen. Zur Verbesserung der Zusammenarbeit wurden Interorganvereinbarungen getroffen, die jetzt in Art. 295 AEUV ausdrücklich vorgesehen sind, auch intern bindenden Charakter haben können, von den Regelungen der Verträge aber nicht abweichen dürfen.

3.3 Sitz der Organe und sonstigen Einrichtungen der EU

Nachdem man sich lange Zeit lediglich über „vorläufige Arbeitsorte“ der Organe einigen konnte, wurde 1992 durch einen Beschluss und 1997 bestätigt durch ein Protokoll zum Vertrag von Amsterdam (jetzt Protokoll Nr. 6 zum Vertrag von Lissabon, ABl.EU 2016 Nr. C 202/265) Brüssel als Sitz der Organe Rat (mit Tagungen auch in Luxemburg) und Kommission, ferner des EWSA und des AdR bestimmt. Sitz des Europäischen Parlaments ist Straßburg, seine Ausschüsse und z. T. auch das Plenum tagen in Brüssel, sein Sekretariat ist in Luxemburg. An dieser politisch kritisierten Aufteilung wird sich nichts ändern, da Frankreich auf einer primärrechtlichen (vgl. Art. 51 EUV) Sicherung des Sitzes sowie der dort stattfindenden zwölf Plenartagungen einschließlich der Haushaltstagung bestand. Der EuGH und der EuRH haben den Sitz in Luxemburg, ebenso die EIB. Sitz der EZB ist Frankfurt. Europol hat seinen Sitz in Den Haag. Der Sitz weiterer Einrichtungen und Dienststellen der EU wurde durch den Beschluss der Regierungen der Mitgliedstaaten von 1993 (ABl.EG 1993 Nr. C 323/1) bzw. den Beschluss der Staats- und Regierungschefs von 2003 (ABl.EG 2004 Nr. L 29/15) sowie für später begründete Einrichtungen durch oder aufgrund Beschlüssen des Europäischen Rates festgelegt. So ist z. B. Alicante Sitz des EUIPO (früher HABM), Parma Sitz der EFSA, Wien Sitz der Agentur für Grundrechte. Welche Bedeutung die Mitgliedstaaten der Zuteilung von EU-Einrichtungen zumessen, zeigen nicht nur die primärrechtliche Fixierung von Straßburg, sondern auch die Klärung von Streitigkeiten durch den EuGH (Rs. 108/83 – Luxemburg/Europäisches Parlament) und dass die Verlagerung der EMA und der EBA nach dem Brexit von London nach Amsterdam bzw. Paris nach Stimmengleichheit jeweils durch Losentscheid (gegen Mailand bzw. Dublin) erfolgte und Italien die Entscheidung überprüfen lassen will.

3.4 Sprachenregelung der EU

Der organisatorische, personelle und finanzielle Aufwand der Vielsprachigkeit von 28 Mitgliedstaaten ist erheblich. In einem Europa, dessen kulturelle Vielfalt durch die Einheit nicht beseitigt werden soll (Leitspruch der EU gemäß Art. I-8 VVE: „In Vielfalt geeint“) und das die prinzipielle Gleichheit auch der kleinen Mitgliedstaaten anerkennt (vgl. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV), stehen den Vorschlägen, sich auf eine gemeinsame Sprache zu einigen, nicht nur politische und rechtliche (z. B. Verständlichkeit von Rechtsakten für alle Unionsbürger), sondern auch soziale und kulturelle Einwände entgegen. Die Möglichkeit, sich mit den Unionsorganen in seiner eigenen Sprache in Verbindung zu setzen (Art. 24 Abs. 4 AEUV, Art. 41 Abs. 4 EuGRC), ist ein nicht zu unterschätzender Integrationsfaktor. Während beim EGKS-Vertrag allein Französisch die authentische, d. h. verbindliche Sprache war, sind dies für das Primärrecht gemäß Art. 55 EUV Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch (= Gälisch), Italienisch, Kroatisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Ungarisch und Tschechisch. Diese Sprachen sind gleichermaßen verbindlich. Sich dabei zeigende Textdivergenzen sind durch Auslegung zu klären, wobei Sinn und Zweck der auszulegenden Norm entscheidend ist (teleologische Auslegung; vgl. dazu EuGH Rs. 100/84 – Kommission/Vereinigtes Königreich). Diese authentischen Sprachen sind zugl. grundsätzlich, d. h. mit Ausnahmen für die EZB und das EUIPO (Patentrecht) Amtssprachen und Arbeitssprachen. In der Praxis wurde zunächst das Französische, jetzt das Englische bevorzugt (nach einer Dienstanweisung soll das Deutsche einbezogen sein). Beim EuGH ist Französisch die interne Sprache, während die Verfahrenssprache vom Kläger gewählt werden kann. Welche Sensibilität der Sprachenfrage entgegengebracht wird, zeigen die Hindernisse bei der Einrichtung eines Europäischen Patents, das wegen der in Art. 118 Abs. 2 AEUV vorgeschriebenen Einstimmigkeit nur im Wege der verstärkten Zusammenarbeit (Art. 20 EUV, Art. 326–334 AEUV) ohne Italien und Spanien zustande kam (vgl. dazu EuGH Rs. C-146/13 – Spanien/Europäisches Parlament und Rs. C-147/13 – Spanien/Rat).

4. Materielles Recht

4.1 Begriff

Unter materiellem E. versteht man Normen, die die sachlichen Zielsetzungen der Union und die ihr für deren Realisierung übertragenen Kompetenzen, somit die sog.en Politiken der EU betreffen. Wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV) sind diese erschöpfend (vgl. Art. 4 Abs. 1 EUV) in den Verträgen aufgeführt (Art. 26–197 AEUV: Die internen Politiken und Maßnahmen der Union. Ferner Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete, Art. 198–204 AEUV, Auswärtiges Handeln, Art. 205–222 AEUV und Art. 21–22 EUV sowie GASP, Art. 23–46 EUV). Allerdings eröffnet der vom EuGH weit ausgelegte Art. 114 AEUV (vgl. dazu EuGH Rs. C-270/12 – Vereinigtes Königreich/Europäisches Parlament und Rat – ESMA-VO) für die Realisierung des Binnenmarkts erhebliche (allerdings nicht unbegrenzte, vgl. EuGH Rs. C-376/98 – Deutschland/Europäisches Parlament und Rat – Tabakwerbeverbot) Gestaltungsspielräume. Die Vertragsergänzungskompetenz (jetzt Art. 352 AEUV: „Flexibilitätsklausel“) hat wegen des Einstimmigkeitsprinzips und verfassungsrechtlicher Rückkoppelungen (vgl. § 8 IntVG) an Bedeutung verloren. Wegen der zunehmenden Durchdringung der nationalen Rechtsordnungen durch unionsrechtliche Vorgaben des Primär- und des Sekundärrechts gibt es trotz des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung kaum noch gänzlich „unionsrechtsfeste“ Bereiche. Denn selbst wenn eine Materie (z. B. Polizeirecht) an sich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieben ist, entbindet das diese nicht von der Beachtung der Grundfreiheiten (vgl. z. B. EuGH Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich: Pflicht zur Unterbindung von Agrarblockaden, die von privater Seite ausgehen).

4.2 Binnenmarkt

Kernstück der EU ist nach wie vor der Europäische Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist (Art. 26 Abs. 2 AEUV). Zur Verwirklichung des dem Binnenmarkt vorausgehenden Gemeinsamen Marktes trug zunächst die durch die Rspr. des EuGH bewirkte gegenseitige Anerkennung (grundlegend EuGH Rs. 8/74 – Dassonville; Rs. 120/78 – Cassis de Dijon; Rs. C-340/89 – Vlassopoulou) bei, da diese den Grundfreiheiten auch ohne sekundärrechtliche Verwirklichung unmittelbare Wirkung als subjektiven Rechten zusprach (grundlegend EuGH Rs. 2/74 – Reyners). Um fortbestehende Unsicherheiten hinsichtlich der möglichen Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Beschränkungsmaßnahmen zu beseitigen und dies nicht allein dem EuGH zu überlassen, war gleichwohl die Beseitigung von Hemmnissen mittels Harmonisierung durch RL und VO erforderlich. Dazu leistete die Verwirklichung des Binnenmarktprogramms des Weißbuchs von 1985, die im Wesentlichen innerhalb der Zielvorgabe bis 1992 erfolgte, einen wesentlichen Beitrag. Durch RL wie der über Berufsqualifikationen (RL 2005/36) wurde auch das Konzept der gegenseitigen Anerkennung präzisiert und mit dem Konzept der Harmonisierung verbunden (vgl. Art. 53 AEUV). Dadurch und z. B. durch die Dienstleistungs-RL (RL 2006/123) wurde die bes. schwierige Verwirklichung der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit vorangetrieben. Gleichwohl bleibt die Realisierung des Binnenmarktes und seines Funktionierens (zutreffend die Ergänzung in Art. 26 Abs. 1 AEUV) eine ständige Aufgabe. Dies bestätigt die Vielzahl von RL und zunehmend VO, die jedes Jahr erlassen werden, und die Anzahl von Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstößen gegen die Bestimmungen des Binnenmarktes. Über den aktuellen Stand des Binnenmarktes informieren die Binnenmarkt-Anzeiger der Kommission. Wesentlich zur Kontrolle mitgliedstaatlicher Beschränkungsmaßnahmen trägt auch die RL über das Informationsverfahren (RL 83/189; geändert durch RL 98/48. aktuell RL 2015/1535) bei, das die Mitgliedstaaten verpflichtet, diese der Kommission zu notifizieren. Andernfalls droht wegen des Vorrangs des Unionsrechts, dass die betreffenden mitgliedstaatlichen Vorschriften im Kollisionsfall nicht anwendbar sind (vgl. EuGH Rs. C-194/94 – CIA Security International/Signalson).

4.3 Unionsbürgerschaft

Durch die mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte Unionsbürgerschaft (Art. 9 EUV, Art. 20 AEUV) erhielten die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die zugl. Unionsbürger sind (Art. 20 Abs. 1 S. 2 und 3 AEUV), von der wirtschaftlichen Betätigung unabhängige (daher „Grundfreiheit ohne Markt“ [Wollenschläger 2017]) bes. Rechte, insb. das Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) mit dem daran anknüpfenden Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV). Ferner haben sie das Wahlrecht (Art. 22 AEUV) bei Europawahlen und Kommunalwahlen im jeweiligen Aufenthaltsstaat. Aus ihr können auch Berechtigungen für Staatsangehörige gegenüber ihrem Staat erwachsen, z. B. im Einkommensteuerrecht (EuGH Rs. C-520/04 – Turpeinen) und in der Bildungspolitik (EuGH verb. Rs. C-11/06 und 12/06 – Morgan [Ausbildungsförderung bei Studium im Ausland]). Die Tragweite, die der EuGH diesem „grundlegenden Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten“ (so EuGH Rs. C-184/99 – Grzelczyk) zumaß, führte und führt nach wie vor zu Problemen, denen der EuGH teilweise durch Einschränkungen seiner Rspr. hinsichtlich des Anspruchs auf Sozialleistungen begegnet (vgl. EuGH Rs. C-333/13 – Dano). Andererseits ist der „Kernbereich“ des grundlegenden Status bes. geschützt (vgl. EuGH Rs. C-34/09 – Zambrano; zu Grenzen aber EuGH Rs. C-434/09 – McCarthy).

4.4 Europäische Innen- und Rechtspolitik

Die Verflechtung der Mitgliedstaaten durch Folgen des Gemeinsamen Marktes bzw. Binnenmarktes hat dazu geführt, dass die Beziehungen zwischen ihnen insoweit nicht mehr als außenpolitisch geprägt, sondern als eigenes Gebiet &pfv;Europäische Innen- und Rechtspolitik zu sehen sind.

4.5 EU-Außenpolitik

Soweit die Völkerrechtssubjektivität der EU (Art. 47 EUV) von Drittstaaten und Internationalen Organisationen anerkannt wird (was weitgehend erfolgt ist) und ihr die Verträge entspr.e Kompetenzen verleihen, kann die EU eine eigene Außenpolitik betreiben. Die EU unterhält Beziehungen zu Internationalen Organisationen (Art. 220 AEUV) als Beobachter (so bei den Vereinten Nationen) oder als Mitglied (z. B. FAO, WTO). Soweit die Gemeinsame Handelspolitik reicht, fällt diese in die ausschließliche Kompetenz der EU und gehört zu den Materien, in denen sich das gemeinsame Auftreten im Weltmaßstab als bes. wichtig erweist. Die GASP hat dagegen nach wie vor eine Sonderstellung, die in Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ausdrücklich betont und in ihrem intergouvernemental geprägten Charakter verdeutlicht wird (Gewicht des Europäischen Rates und des Rates im Verhältnis zu Kommission und Europäischem Parlament; Grundsatz der Einstimmigkeit; Ausschluss von Gesetzgebungsakten; Unzuständigkeit des EuGH mit Ausnahme von Abgrenzungsfragen zu sonstigen Politiken und zum Rechtsschutz von Individuen).

4.6 Wettbewerbspolitik

Das Wirtschaftssystem der EU beruht auf einem Binnenmarkt als einem System, „das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“ (Protokoll Nr. 27, ABl.EU 2016 Nr. L 202/309), und strebt eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ an (Art. 3 Abs. 3 EUV). Dies verlangt einerseits die Berücksichtigung sozialer Aspekte bei der Ausgestaltung der wirtschaftlichen Rechte (insb. Personenverkehrsfreiheit, vgl. dazu VO 492/2011), andererseits eine effektive Kontrolle und Bekämpfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen, die durch die Bevorzugung heimischer Unternehmen den Wettbewerb innerhalb der EU zu verfälschen drohen. Dazu hat die EU und in ihr als Vollzugsorgan die Kommission Kompetenzen im Kartellrecht (Kartellverbot, Art. 101 AEUV; Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 102 AEUV; Fusionskontrolle, VO 139/2004) und im Beihilfenrecht (Art. 107–109 AEUV) mit entspr.en Sanktionsbefugnissen gegenüber Unternehmen (Bußgelder, Kartell-VO 1/2003) und gegenüber Mitgliedstaaten. Besonderheiten bestehen hinsichtlich öffentlichen Unternehmen (Art. 106 AEUV), wobei das Spannungsverhältnis zwischen Wettbewerbspolitik und öffentlichen Leistungen der Daseinsvorsorge („Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“) aufgelöst werden muss (vgl. Art. 14 AEUV). Ein weiteres wichtiges Gebiet ist das Vergaberecht (Allgemeine Vergabe-RL 2004/18; Sektoren-RL 2004/17).

4.7 Sozialpolitik

Obwohl „die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen“ der Völker der Mitgliedstaaten ein „wesentliches Ziel“ der EU ist und sozialpolitische Zielsetzungen im AEUV weiter differenziert werden, konnte sich die Sozialpolitik auf Unionsebene wegen der begrenzten Kompetenzen der EU stärker nur im Zusammenhang mit anderen Bereichen wie den Personenverkehrsfreiheiten (vgl. VO 1612/68, jetzt VO 492/2011) entfalten. Grund dafür sind unterschiedliche Traditionen, Konzeptionen und ökonomische Möglichkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten, die auch jetzt einer „Sozialunion“ Grenzen setzen. Die Einbeziehung der 1989 von elf Staats- und Regierungschefs (ohne das Vereinigte Königreich) der damals zwölf Mitgliedstaaten der EU angenommenen „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ sowie der ESC in Art. 151 Abs. 1 AEUV zeigt das Bestreben, die Gleichrangigkeit der sozialen mit der wirtschaftlichen Dimension deutlich zu machen. Dies ist bei der Auslegung von Rechtsakten zu berücksichtigen (EuGH Rs. C-322/88 – Grimaldi). Die allg.e sozialpolitische Tätigkeit der EU (Art. 153 AEUV) kann im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten nur unterstützend und ergänzend sein und schließt Harmonisierungsmaßnahmen ausdrücklich aus. Dies darf auch nicht durch Maßnahmen der sog.en offenen Koordinierung, dem vom Europäischen Rat 2000 beschlossenen Verfahren der mittelfristigen Abstimmung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten, überspielt werden. Durch Sekundärrecht gesichert wurden aber die durch das Gebrauchmachen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit der Selbständigen erworbenen Sozialversicherungsansprüche (VO 1408/71, VO 1390/81, jetzt VO 883/2004). Ferner wurden Mindestvorschriften für den technischen Arbeitsschutz und den sozialen Arbeitsschutz erlassen. Erhebliche Bedeutung hatten und haben das Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV und die dazu ergangene Rspr. des EuGH für das Arbeitsrecht, insb. für die Gleichbehandlung von Männern und Frauen (RL 76/207, jetzt Gleichbehandlungs-RL 2006/54). Weitere Antidiskriminierungsmaßnahmen wurden auf Art. 19 AEUV gestützt.

4.8 Gemeinsame Agrarpolitik

Die GAP war ein „Eckpfeiler des europäischen Einigungswerks“ (Grünbuch der EG-Kommission 1985), entwickelte sich zur teuersten Politik der EU überhaupt und beansprucht nach wie vor 40 % des EU-Haushalts (Europäische Agrarpolitik). Probleme, die sich u. a. aus dem Wechsel vom Agrarimportgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur zu einem eindrucksvollen Selbstversorgungsgrad, sondern zur Überversorgung mit Absatzschwierigkeiten („Butterberge“ und WTO-widrige Exportsubventionen) ergaben, ferner der sachgerechten Allokation der Mittel, erforderten Reformen, deren Durchführung sich als schwierig erwies. Der „GAP-Gesundheitscheck“ 2008 zielte u. a. darauf ab, den Schwerpunkt von Direktzahlungen an Landwirte auf Investitionen in die Entwicklung des ländlichen Raumes zu verlagern und das Prinzip der Entkoppelung von Beihilfe und Produktion abzumildern. 2013 wurden vier Grund-VO (VO 1305–1308/2013) mit der Befugnis zu delegierter Rechtsetzung (Art. 290 AEUV) erlassen, um den Herausforderungen an die GAP bis 2020 gerecht zu werden. Die Reformen erfolgen nach wie vor im Zusammenhang mit den stark agrarisch geprägten Staaten der EU-Osterweiterung und den Anforderungen des Welthandelsrechts (WTO). Bedeutsam ist auch die gemeinsame Fischereipolitik im EU-Meer der 200-Seemeilen-Wirtschaftszone.

4.9 Umweltpolitik

Weil Umweltvorschriften der Mitgliedstaaten die Wettbewerbsituation beeinflussen und damit ein Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Markt bzw. Binnenmarkt bestand, wurden bereits vor der 1987 erfolgten Einführung einer eigenen Kompetenzgrundlage durch die EEA Rechtsakte der EWG erlassen. Die Art. 191–193 AEUV sind jetzt eine gesicherte Basis für eine spezifische Umweltpolitik der EU. Deren Ziele sind die Umwelt zu erhalten, zu schützen und ihre Qualität zu verbessern, zum Schutze der menschlichen Gesundheit beizutragen und eine umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen zu gewährleisten, ferner die Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Umweltprobleme (z. B. Klimaschutz, zuletzt Pariser Abkommen). Grundsätze sind das Vorsorgeprinzip, das Prinzip der Bekämpfung am Ursprung, das Verursacherprinzip und das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development; Nachhaltigkeit). Durch die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV wird die Umweltpolitik zum Bestandteil aller Unionspolitiken. Harmonisierungsmaßnahmen zur Herstellung des Binnenmarktes gehen im Bereich Umweltschutz „von einem hohen Schutzniveau“ aus (Art. 114 Abs. 3 AEUV). Vorgaben des EU-Umweltrechts haben sowohl auf das materielle Recht als auch auf das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten erhebliche Auswirkungen.

4.10 Wirtschafts- und Währungspolitik

Während die Wirtschaftspolitik nach wie vor in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleibt, die diese allerdings nach unionsrechtlichen Vorgaben koordinieren müssen (Art. 120 AEUV), wurde die Währungspolitik für die Mitgliedstaaten der Eurozone auf die EU und dort auf die EZB übertragen. In dieser Aufteilung wird ein Grundproblem der EWWU gesehen.

5. Bezüge zum Recht der Mitgliedstaaten

5.1 Anwendungsvorrang des Unionsrechts

Das EU-Recht hat im Fall einer Kollision mit dem Recht der Mitgliedstaaten Vorrang vor diesem mit der Folge, dass das nationale Recht insoweit nicht angewendet werden darf. Dies beruht, nachdem die ausdrückliche Anordnung im VVE (Art. I-6 VVE) nach dessen Scheitern nicht in den Vertrag von Lissabon übernommen wurde, nach wie vor auf dem grundlegenden Urteil des EuGH im Fall Costa/ENEL (Rs. 6/64). Die Erklärung Nr. 17 zum Vertrag von Lissabon (ABl. EU 2016 Nr. C 202/344) stellt dies klar. Der EuGH begründet den Vorrang letztlich damit, dass andernfalls die Funktionsfähigkeit der EU gefährdet wäre. Der Anwendungsvorrang wird von den (Verfassungs-)Gerichten der Mitgliedstaaten, abgesehen von verfassungsrechtlichen Restvorbehalten, anerkannt. Das BVerfG begründet dies damit, dass die in Art. 23 Abs. 1 GG (damals Art. 24 Abs. 1 GG) enthaltene Befugnis zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU „bei sachgerechter Auslegung“ besage, dass die Hoheitsakte der Organe der EU „vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind“ (BVerfGE 31, 145 – Lütticke).

5.2 Pflicht der Mitgliedstaaten zum ordnungsmäßen Vollzug des Unionsrechts

Gemäß Art. 291 Abs. 1 AEUV, der insoweit an das Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV anknüpft, ergreifen die Mitgliedstaaten alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, d. h. des Sekundärrechts, erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht. Daher müssen EU-RL ordnungsgemäß umgesetzt und das deutsche Umsetzungsgesetz richtlinienkonform angewandt und EU-VO vollzogen werden. Zum Vollzug des Unionsrechts gehört darüber hinaus die Beachtung des EU-Primärrechts und insb. dessen Anwendungsvorrang. Dies erfordert ggf. Modifikationen des für den Vollzug von Unionsrecht mangels spezieller Bestimmungen des Unionsrechts anwendbaren innerstaatlichen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts. Beispiele: Die nach einem Beschluss der Kommission, der den Verstoß einer nach nationalem Recht gewährten Beihilfe gegen Art. 107 AEUV feststellt (Art. 108 AEUV), gebotene Rücknahme des Beihilfebescheids erfolgt in Deutschland zwar nach § 48 VwVfG (bzw. entspr.em Landesrecht). Allerdings ist wegen des Effektivitätsgebots das in § 48 Abs. 1 VwVfG eingeräumte Ermessen („kann“) auf null reduziert, ist bei der Abwägung zwischen Vertrauensschutz des Begünstigtem und dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme das Unionsinteresse bes. zu berücksichtigen (Art. 48 Abs. 2 und 3 VwVfG) und findet die Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG keine Anwendung (vgl. dazu EuGH Rs. 310/85 – Deufil; Rs. C-24/95 – Alcan). Zudem ist der Begünstigte präkludiert, wenn er nach Kenntnis des gegen den Mitgliedstaat ergangenen Beschlusses der Kommission diesen nicht mit der Nichtigkeitsklage (Art. 263 Abs. 4 AEUV) angefochten hat (EuGH Rs. C-188/92 – TWD Deggendorf). Die Anordnung der Vollziehung deutscher Verwaltungsakte, die zur Durchführung des Unionsrechts erlassen werden, kann im Unionsinteresse geboten sein (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO; vgl. dazu EuGH Rs. C-217/88 – Tafelwein). Von § 42 Abs. 2 VwGO geforderte subjektive Rechte können sich aus dem Unionsrecht, insb. dem EU-Umweltrecht ergeben. Wenn der Anwendungsvorrang des Unionsrechts wie im Fall des als „inkohärent“ beanstandeten deutschen Glücksspielrechts zu dessen praktischer Unanwendbarkeit führt (vgl. EuGH Rs. C-336/14 – Sebat Ince), besteht bes.r rechtspolitischer Handlungsbedarf, ein dem Unionsrecht entspr.es System zu schaffen.

5.3 Zusammenwirken von EuGH und nationalen Gerichten

Da der Vollzug des Unionsrechts hauptsächlich den Mitgliedstaaten obliegt, ist die Wahrung des Unionsrechts in erheblichem Umfang auch eine Aufgabe der nationalen Gerichte. Dies betrifft das öffentliche Recht (Verfassungs- und Verwaltungsrecht), das Zivilrecht (z. B. Vorgaben von EU-RL für das BGB), zunehmend auch das Strafrecht (z. B. justizielle Rechte, Art. 47–50 EuGRC bei der Durchführung des Rechts der Union, Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC). Diese Verpflichtung ergibt sich für die Gerichte als Organe der Mitgliedstaaten aus deren Unterstützungs- und Erfüllungspflicht (Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV). Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten zudem, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist (vgl. dazu EuGH Rs. C-583/11 P – Inuit zur Ergänzung eingeschränkten Rechtsschutzes vor dem EuGH). Das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) eröffnet einen judiziellen Dialog zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH und sichert durch dessen Entscheidungsmonopol über die Auslegung des Unionsrechts allg. und über die Gültigkeit von Sekundärrecht dessen Einheitlichkeit. Das Vorlagerecht ist allen nationalen Gerichten unionsrechtlich gesichert und darf durch nationale Maßnahmen nicht beschränkt werden. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründet für letztinstanzliche Gerichte einschließlich Verfassungsgerichte (Verfassungsgerichtsbarkeit) eine Vorlagepflicht. Eine Ausnahme davon besteht nur dann, wenn die Lösung der unionsrechtlichen Frage offensichtlich (acte clair) oder vom EuGH bereits entschieden (acte éclairé) ist. Ein Verstoß gegen diese Vorlagepflicht könnte unionsrechtlich allein durch die Kommission in einem Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) gegen den betreffenden Mitgliedstaat gerügt werden. Verfassungsrechtlich besteht in Deutschland die Möglichkeit, das willkürliche Unterlassen einer Vorlage an den EuGH mit der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) zu rügen. Denn durch die Einbeziehung des Unionsrechts in die in Deutschland geltende Rechtsordnung ist der EuGH gesetzlicher Richter i. S. d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, dem niemand entzogen werden darf (BVerfGE 73, 339/366 ff. – Solange II; BVerfGE 75, 223/233 f.; BVerfGE 126, 286/315 ff. – Honeywell). Zu Österreich vgl. ÖVerfGH, EuZW 1995, 329/332 zu Art. 83 Abs. 2 B-VG.

6. Perspektiven

Die Zukunft des E.s hängt von der weiteren Entwicklung der EU ab, ob und welche Ansätze des „Weißbuchs zur Zukunft Europas“ (Europäische Kommission 2017) verfolgt werden und wie der Brexit und seine Folgen gelöst werden. Dem Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit, wie sie bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2018 vom Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zur Beseitigung eines hauptsächlichen Hindernisses gefordert wurde, stehen gerade in den politisch sensiblen Bereichen wie der GASP nicht nur politische Gegensätze entgegen, sondern auch grundsätzliche Bedenken, hier durch Mehrheitsbeschlüsse gebunden werden zu können. Wahrscheinlicher ist in diesem Bereich – wie in anderen kontrovers diskutierten Bereichen auch – eine verstärkte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, die sich daran beteiligen wollen, wie die am 11.12.2017 von 25 Mitgliedstaaten (ohne Vereinigtes Königreich, Malta und Dänemark) beschlossene PESCO (vgl. Art. 42 Abs. 6, Art. 46 EUV), v. a. zur gemeinsamen Entwicklung und Beschaffung von Waffensystemen. Im Übrigen werden wohl die in den Verträgen enthaltenen Kompetenzen so weit wie möglich ausgenutzt (wenn nicht überdehnt), da der Vertrag von Lissabon gezeigt hat, wie schwierig eine generelle Vertragsänderung durchzusetzen ist.