Europäische Sozialcharta (ESC)

1. Entstehung und Entwicklung

Die ESC ist ein Pfeiler des regionalen europäischen Menschenrechtsschutzes: Sie ergänzt die EMRK durch soziale Rechte. Sie ist ein im Rahmen des Europarats am 18.10.1961 beschlossener völkerrechtlicher Vertrag (ETS No. 035), der am 26.2.1965 in Kraft getreten und bis Ende 2016 von 27 Staaten ratifiziert worden ist. Die Verteilung der Menschenrechte auf zwei Abkommen in Europa entspr. einem global verwendeten Muster, weil auch im Rahmen der Vereinten Nationen bürgerliche und politische Rechte einerseits und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits in verschiedenen Verträgen (Pakte von 1966) niedergelegt worden sind. Sie ist, dem Bekenntnis zur Einheit der Menschenrechte zum Trotz, Ausdruck eines schwierigen Prozesses, in dem sich Staaten auf die rechtliche Absicherung sozialer Rechte verständigt haben. Zunächst bestand im Europarat Uneinigkeit über die Verabschiedung eines entsprechenden Vertrags, und man wollte auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien nur eine feierliche Erklärung verabschieden. 1954 wurde aber ein Sozialkomitee errichtet und mit der Ausarbeitung einer Charta beauftragt. Dessen Entwurf wurde 1958 von einer triparitätischen, in der Anlage der Internationalen Arbeitsorganisation nachgebildeten Konferenz begutachtet, um die Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Prozess einzubeziehen. Ein geänderter Entwurf konnte dann 1961 vom Ministerkomitee beschlossen werden.

Zunächst ist die ESC 1988 durch ein ZP ergänzt worden (in Kraft getreten am 4.9.1992, ETS No. 128). Im Jahr 1996 wurde sie neu gefasst (ESC-R). Die Revision dient der Verstärkung einiger Rechte (insb. auf Nichtdiskriminierung) und der Aufnahme neuer Rechte (wie dem Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung). Die ESC-R trat am 1.7.1999 in Kraft (ETS No. 163), sie ist bis Ende 2016 von 34 Staaten ratifiziert worden, für die damit die ESC außer Anwendung tritt (Art. B ESC-R).

Die Rechte der ESC sollen durch ein Staatenberichtsverfahren implementiert werden. Das ist die Verpflichtung der Staaten, über den Stand der Umsetzung angenommener Verpflichtungen in zweijährlichen Staatenberichten informiert werden (Art. 21 ESC bzw. Art. C ESC-R). Dazu sind Verbesserungen beschlossen worden (Protokoll ETS No. 142 vom 21.10.1991), die zwar offiziell noch nicht in Kraft getreten sind, in der Praxis aber bereits angewendet werden. Für die Kontrolle der Staatenberichte ist zunächst der mit unabhängigen Sachverständigen besetzte Europäische Ausschuss für soziale Rechte zuständig. Er veröffentlicht seine Schlussfolgerungen. Auf dieser Grundlage bereitet ein Regierungsausschuss Beschlüsse des Ministerkomitees vor, das Empfehlungen aussprechen kann. Ein unmittelbarer wirkendes Umsetzungsinstrument besteht mit den Kollektivbeschwerden, die durch ein ZP aus dem Jahr 1995, das am 1.7.1998 in Kraft getreten ist (ETS No. 158), eingeführt worden sind. Danach erhalten internationale und national repräsentative Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen die Möglichkeit, Beschwerden vorzubringen, zu denen der Ausschuss für soziale Rechte eine Stellungnahme abgibt; das Ministerkomitee kann dann an den betroffenen Vertragsstaat eine Empfehlung richten, benötigt dafür allerdings bei der Feststellung einer Vertragsverletzung eine Zweidrittelmehrheit (Art. 9 Nr. 1 ZP).

2. Inhalt

Soziale Rechte i. S. d. ESC sind gegenständlich bestimmt. Sie beziehen sich auf vier Lebensbereiche, zwei davon betreffend die Arbeit (Beschäftigung und Arbeitnehmerrechte), ein weiterer bezogen auf Gesundheit, soziale Sicherheit und sozialen Schutz sowie ein vierter betreffend Kinder, Familie und Migration. Von der Anlage her können sie auf die Abwehr von Beeinträchtigungen und Diskriminierungen wie auf die Gewährung von Leistungen und Gleichstellung (soziale Rechte im eigentlichen Sinne) gerichtet sein.

Die ESC enthält in ihrem Teil I programmatische Bestimmungen, die Vertragstaaten dazu verpflichten, die genannten Ziele zu verfolgen. Im Teil II sind in 19 (ESC) bzw. in 31 Art. (ESC-R), die weiter in Absätze bzw. Nummern untergliedert sind, Rechte niedergelegt. Eine Mindestzahl an „Kernartikeln“ (fünf von sieben in der ESC, sechs von neun in der ESC-R) und eine Mindestzahl an einzelnen Rechten insgesamt (10 Art. oder 45 Absätze in der ESC, 16 Art. oder 63 Nummern in der ESC-R) müssen von jedem Mitgliedstaat als verbindlich behandelt werden (vgl. Art. 20 ESC, Art. A ESC-R). Die Kernartikel betreffen das Recht auf Arbeit (Art. 1), das Vereinigungsrecht (Art. 5), das Recht auf Kollektivverhandlungen (Art. 6), das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12), das Recht auf Fürsorge (Art. 13), das Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz (Art. 16) und das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19). Die ESC-R zählt dazu ferner das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz (Art. 7) sowie das Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Art. 20).

3. Bedeutung

Die ESC wurde von der BRD am 18.10.1981 unterzeichnet und am 27.1.1965 ratifiziert. Bei der ESC-R ist Deutschland nicht über die Unterzeichnung (am 29.6.2007) hinausgekommen. Ebenso wenig ist Deutschland dem ZP von 1988 und dem ZP über die Kollektivbeschwerden beigetreten.

Dieser zögerlichen Haltung entspr. in gewisser Weise die relativ schwache rechtliche Bedeutung der ESC in Deutschland. Sie gilt zwar im Rang eines Bundesgesetzes, und Deutschland hat 67 Rechte von 72 insgesamt als verbindlich angenommen (nämlich nicht: Art. 4 Abs. 4, 7 Abs. 1, 8 Abs. 2 und 4, 10 Abs. 4). Die staatlichen Verpflichtungen sollen aber „keine unmittelbare Wirkung für den einzelnen Bürger“ haben (so BAGE 110, 79 zu Art. 4 ESC). Tatsächlich sind die meisten Rechte der ESC zu offen formuliert, um subjektive Rechte zu begründen; zudem sollte der ESC nach Ansicht der Vertragspartner diese Funktion nicht zukommen. Nach anfänglicher Unsicherheit (BVerfGE 58, 233 zur Tariffähigkeit von Gewerkschaften) ist immerhin anerkannt, dass deutsche Behörden und Gerichte die ESC dann zur Auslegung heranziehen müssen, wenn nationale Gesetze Spielräume lassen. Damit können auch „Wertentscheidungen der Verfassung“ konkretisiert werden (BAGE 144, 1, in der Sache bestätigt durch BVerfGE 134, 1). Selbst dann allerdings bleibt die Wirkung der ESC beschränkt, weil sie meist inhaltlich hinter den verfassungsrechtlichen Verbürgungen in Deutschland zurück bleibt (zur Vereinbarkeit der Friedenspflicht BAGE 123, 134, der Abwehraussperrung BAGE 48, 195 und dem Verbot von Sympathiestreiks BAGE 48, 160 mit dem Streikrecht; zum Familiennachzug BVerwGE 66, 268; zu Studiengebühren BVerwGE 115, 32).

Die ESC kann vom EuGH nicht unmittelbar angewendet werden (vgl. etwa EuGH vom 5.2.2015, Rs. C-117/14 Rdnr. 23). Allerdings nimmt das EU-Recht (Europarecht) an einigen Stellen auf die ESC Bezug (Präambel zum EUV und zur EuGRC sowie in Art. 151 AEUV), und dementsprechend kann die ESC auch über den „Umweg“ der EU von deutschen Behörden und Gerichten zu berücksichtigen sein. Eine ähnliche indirekte Bedeutung der ESC ergibt sich im Wege der Auslegung der verbindlicheren EMRK, zumal die Rspr. des EGMR dazu tendiert, auch die ESC heranzuziehen, wenn es um die Herausarbeitung allgemein geltender Prinzipien geht.

Insgesamt gesehen ergibt sich damit ein ambivalentes Bild. Die unmittelbare rechtliche Wirkung der ESC bleibt durch weitgehend unbestimmte Formulierungen eingeschränkt, die ESC wird zudem durch andere soziale Rechte im Unions- und Völkerrecht überlagert. In Deutschland kommt eine unverständlich magere Ratifizierungsbilanz hinzu. Andererseits führen gerade die vielfältigen Verknüpfungen dazu, dass die ESC bei der Auslegung anderer Rechtsvorschriften Berücksichtigung finden muss. Damit erfüllt sie letztendlich eine wichtige Funktion: Sie leistet einen wichtigen Beitrag, um in Europa soziale Standards zu setzen.