Wissenschaftsethik

1. Begriffserläuterungen

Die W. befasst sich als eine Form der angewandten Ethik mit den ethischen Aspekten in Wissenschaft und Forschung. Hierzu gehören einerseits die Reflexionen auf die internen ethischen Standards innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft, die ein gemeinsames Wissenschaftsethos begründen sowie andererseits die ethischen Bewertungen der Folgen wissenschaftlichen Handelns für Gesellschaft und Umwelt. Beide Betrachtungsweisen implizieren sowohl eine individuelle Verantwortung von Forschenden als auch eine institutionelle Verantwortung seitens der Forschungseinrichtungen.

Gute wissenschaftliche Praxis (GWP) tritt nicht erst zum Konzept der Wissenschaft hinzu, sondern ist dem Wissenschaftsbegriff immanent. Denn die Generierung von wissenschaftlichem Wissen unterliegt gegenüber anderen Wissensformen und bloßer Meinung einem besonderen Begründungsanspruch, der auf methodischen Standards (z. B. Generierung von Daten, Hermeneutik) und Praxisnormen (z. B. Umgang mit anderen Forschenden) beruht. Wissenschaft ist daher nicht nur über ihre Methoden, sondern zudem als eine soziale Praxis mit geteilten Rechtfertigungsprinzipien gekennzeichnet.

Trotz dieser immanenten ethischen Ansprüche kommt es immer wieder zu Fällen von wissenschaftlichem Fehlverhalten, das auch die Glaubwürdigkeit von Forschung in der Öffentlichkeit gefährdet. Um dem vorzubeugen liegen die impliziten Standards einer GWP inzwischen in kodifizierter Form vor (z. B. ALLEA/ESF: „European Code of Conduct for Research Integrity“ [ECoC]; DFG: „Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“). Diese sehen bei Zuwiderhandlung auch Sanktionsmaßnahmen vor (z. B. Lehrverbot, Aberkennung akademischer Titel). Zur wissenschaftsethischen Supervision und Wahrung der wissenschaftlichen Integrität sind an den Forschungseinrichtungen Ethikkommissionen und Ombudsstellen eingerichtet worden. Zudem werden IT-Tools angewendet, um etwa Plagiate bei Qualifikationsarbeiten aufzudecken. In der Lehre sind vermehrt Materialien zur W. entwickelt worden.

2. Prinzipien und Praxis

Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte hat sich allmählich ein explizites Wissenschaftsethos herausgebildet. Ein Ethos bezeichnet jene moralischen Normen, die in einer Gruppe als gültig anerkannt und gelebt werden. Schon in der Antike ist etwa ein ärztliches Ethos entstanden (vgl. „Hippokratischer Eid“), das bis heute Bedeutung hat (vgl. „Genfer Gelöbnis“). Für die forschende Medizin ist hieraus schließlich die „Deklaration von Helsinki“ hervorgegangen. Andere Disziplinen und Berufsgruppen sind diesem Vorbild z. T. gefolgt.

2.1 Wissenschaftsethos und gute wissenschaftliche Praxis

Ein disziplinenübergreifendes Wissenschaftsethos geht auf die Gründungsphase der Wissenschaftsakademien (Akademien) im 17. Jh. zurück. Neben der Wahrung einer GWP innerhalb der Fachgemeinschaft dient ein solches Ethos auch der Legitimation der Forschung gegenüber der Gesellschaft. Dies gilt insb. für die öffentliche Forschung, da sie zwar über Steuern finanziert wird, sich aber vornehmlich selbst kontrolliert. Eine häufig rezipierte Untersuchung der Prinzipien der GWP hat der Soziologe Robert King Merton 1942 in der Gestalt von vier institutionellen Haltungen vorgelegt: Der Univeralismus (universalism) kennzeichnet die Einstellung, dass eine objektive Bewertung der Forschungspraxis sich alleine nach den allgemeinen wissenschaftlichen Standards zu richten hat und nicht nach persönlichen, sozialen, ethnischen, religiösen oder politischen Aspekten. Das Prinzip Kommunismus (communism) meint, dass Forschungsergebnisse Produkt einer generationenübergreifenden Zusammenarbeit und damit Allgemeingut sind. Daraus resultiert ein nur auf Anerkennung und Wertschätzung beschränktes Besitzrecht der Forschenden an ihren Ergebnissen und eine Verpflichtung, diese in Form eines peer reviews kritisch zu diskutieren. Dieser Gedanke wird mit der Betonung der Uneigennützigkeit (desinterestedness) fortgesetzt. Wissenschaftliche Motivation soll nicht der individuelle Eigennutz sein, sondern das altruistische Interesse am Erkenntnisgewinn und seinem sozialen Wert. Mit dem organisierten Skeptizismus (organized skepticism) wird schließlich die Haltung einer methodischen und sozialen Unvoreingenommenheit gegenüber wissenschaftlichen Urteilen beschrieben, die stets hermeneutisch, empirisch und logisch – aber nicht bspw. durch Autoritätsargumente – anzweifelbar sein müssen.

Die aktuellen wissenschaftsethischen Richtlinien erweitern diese Liste. Der ECoC nennt vier zentrale ethische Prinzipien, die auch der größer gewordenen Verantwortung und Transparenz gegenüber Gesellschaft und Umwelt Rechnung tragen: Zunächst wird eine qualitative Zuverlässigkeit (reliability) bei der Methodik, der Analyse und der Ressourcennutzung gefordert. Aufrichtigkeit (honesty) soll den gesamten Forschungsprozess begleiten, von der Planung und Durchführung über die Überprüfung der Ergebnisse, bis hin zur unvoreingenommenen Berichterstattung nach innen und außen. Zudem wird das Prinzip der Achtung (respect) gegenüber Kollegen, Forschungsteilnehmern, Gesellschaft, kulturellem Erbe und Umwelt betont. Dieses Prinzip, zusammen mit einer strukturellen und organisatorischen Rechenschaftspflicht (accountability), verbindet die innerwissenschaftliche Integrität mit den normativen Ansprüchen, die das Verhältnis von Wissenschaft und Zivilgesellschaft generiert.

2.2 Verantwortung gegenüber Probanden, Tieren, Kultur und Umwelt

Der Charakter der Wissensgesellschaft und die zunehmende Eingriffstiefe in Mensch und Natur durch die Forschung erhöhen die gesellschaftliche Relevanz wissenschaftsethischer Fragen schon im Forschungsprozess. Nach dem Missbrauch der Medizin durch NS-Ärzte sind mit dem „Nürnberger Kodex“ 1947 ethische Prinzipien der forschenden Medizin niedergeschrieben worden: Das Individualwohl des Probanden steht im Vordergrund und ist sorgfältig gegen das Gemeinwohl und das Erkenntnisbegehren der Forschung abzuwägen. Versuchspersonen dürfen nur nach hinreichender Aufklärung über den Versuch, seine Ziele, mögliche Risiken und einer darauf basierenden freien und informierten Einwilligung (free and informed consent) in die Forschung einbezogen werden. Diese Einwilligung kann jederzeit zurückgezogen werden. Seitens der Forschenden gilt es, studienbedingte Schäden bei den Probanden zu vermeiden (non-maleficence). Ferner sind die Erfolgsaussichten für das Gemeinwohl oder eine Patientengruppe zu prüfen.

Diese Grundregeln finden sich in aktuellen internationalen Dokumenten wieder (z. B. „Deklaration von Helsinki“ [Weltärztebund]; „Oviedo Konvention über Menschenrechte und Biomedizin“ [ Europarat ]). Doch zeigt die Erfahrung, dass aus der Existenz eines Kodex noch nicht seine Einhaltung folgt. So ist es ungeachtet der „Richtlinien des Reichsministers des Inneren zur Forschung“ (1931) im Deutschen Reich zu verbrecherischen Menschenversuchen gekommen. Zudem hat auch der „Nürnberger Kodex“ nicht davor geschützt, dass etwa in den USA die Tuskegee-Experimente 1932–72 durchgeführt worden sind, bei denen zur Beobachtung des Verlaufs der Syphilis afroamerikanischen Patienten eine Therapie vorenthalten worden ist. Dieser Skandal hat dazu beigetragen, dass mit dem „Belmont Report“ 1978 im Anschluss an den „National Research Act“ von 1974 ein Kodex entstanden ist, dessen drei Grundprinzipien Respekt vor der Person (autonomy), Wohlergehen (beneficience) und Gerechtigkeit (justice) die weltweite Standardisierung der W. befördert haben.

Mit zunehmendem Bewusstsein einer Verantwortung auch gegenüber Tieren gehört zur W. auch ein angemessener Umgang mit Versuchstieren. Hierzu ist etwa das 3R-Modell entwickelt worden, um bei Versuchen mit Wirbeltieren diese möglichst durch Alternativmethoden (z. B. Zellkulturen, Computersimulationen) zu ersetzen (replace), die Anzahl der Tiere zu reduzieren (reduce) und ihre Belastung zu minimieren (refine).

Neben diesen verschiedenen Aspekten einer ethisch rechtfertigbaren Forschungspraxis, stellen sich in der W. auch Fragen nach den Langzeitfolgen für Gesellschaft und Umwelt. Die Reichweite der Verantwortung ist zwar umstritten, doch können Forschende diese nicht vollständig an die Politik abgeben, weil nur sie selbst bestimmte Auswirkungen einschätzen können. Ein frühes Beispiel eines wissenschaftsethischen Konflikts dokumentiert die Begegnung der Physiker Werner Heisenberg und Niels Bohr 1941 in Kopenhagen zu den Atomprogrammen im nationalsozialistischen Deutschland (Nationalsozialismus) und seitens der Alliierten. Heute verlangen immer mehr Forschungsförderer von den Forschenden, vor Projektbeginn die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen ethisch zu erörtern (z. B. ökologische Wirkung der Biotechnik, Nutzung von Algorithmen auch für militärische oder terroristische Zwecke [dual use], Verletzung kultureller Werte bei archäologischen Grabungen). Daher wird im Rahmen der Lehre inzwischen vermehrt auf die Ausbildung eines wissenschaftsethischen Habitus der Forschenden geachtet.

3. Verstöße und Gefährdungen

Werden etwa Forschungsdaten gefälscht oder beschönigt, dann verstößt dies nicht nur gegen GWP, sondern ist Ressourcenverschwendung, da keine Forschung stattfindet. Indirekt können wissenschaftliche Täuschungen auch in Folge schaden, wenn etwa auf falschen Daten schädliche Therapien entwickelt werden. Solche Vergehen sind auch in der Öffentlichkeit gut kommunizierbar. Hingegen sind unkorrekte Quellenangaben in einer Forschungsarbeit schwerer als Fehlverhalten zu erkennen, da dies vom Umfang der unrichtigen Angaben abhängt und der Frage, ob es sich um mangelnde Sorgfalt, eine bewusste Täuschung oder gar ein umfangreiches Plagiat handelt. Solche Fälle sind nach außen oft nicht einfach darstellbar, denn in außerwissenschaftlichen Publikationsformaten spielen sorgfältige Zitationsweisen eine eher untergeordnete Rolle und auch Formen von Ghostwriting sind dort nicht unüblich. Eine völlig andere Kategorie stellen wissenschaftsethische Verstöße im Umgang mit Versuchspersonen dar. Wird etwa ein Proband einem überhöhten Risiko ausgesetzt, dann ist dies nicht nur ethisch nicht begründbar, sondern u. U. strafbewehrt. Dennoch können solche Versuche zu wissenschaftlichen Ergebnissen führen und tatsächlich werden derartige Forschungsergebnisse etwa aus dem Dritten Reich z. B. in der Luft- und Raumfahrtmedizin auch heute noch verwendet.

Das Wissenschaftsethos beschreibt stets ein Ideal. Für dessen generelles Funktionieren spricht, dass Vergehen aufgedeckt und sanktioniert werden, gleichwohl geht man von einer hohen Dunkelziffer aus. Doch auch das Ideal ist nicht völlig zeitlos. Innerwissenschaftlich relativieren sich etwa wissenschaftliche Methoden durch postmoderne Vorstellungen von inkommensurablen Wissensbeständen und von vielfältigen Rationalitäten (Thomas Samuel Kuhn, Paul Karl Feyerabend). Zudem ändert sich das äußere Umfeld. Interne und externe Faktoren sind es, die den Verdacht einer Erosion des Ethos an seinen Rändern stärken, aber auch Formen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens begünstigen: Das Prinzip der Unparteilichkeit, das man vormals durch den Einfluss von Staat und Kirche gefährdet gesehen hat, wird heute eher durch unterschiedliche Interessensvertreter (z. B. Wirtschaftslobbyisten) untergraben. Die Wissensproduktion droht damit instrumentalisiert zu werden. Zudem wirken sich die Konkurrenzbedingungen insb. auf die Einhaltung des Prinzips der Uneigennützigkeit negativ aus. Wenn etwa die Zahl der Publikationen die wissenschaftliche Karriere (Impact-Faktoren) beschleunigt (publish or perish), dann ist die Versuchung groß, dass Autoren in Autorenkollektiven gelistet werden, die nicht an einer Publikation mitgewirkt haben. Zudem überlagert das Streben nach Erstpublikation etwa durch Preprints wissenschaftliche Sorgfaltspflichten. Weitere Gründe für Verstöße gegen GWP liegen in den hierarchischen Verhältnissen an den Forschungseinrichtungen, den engen Verflechtungen im System Wissenschaft sowie der Kopplung zwischen Arbeitsverhältnis und akademischer Betreuung beim wissenschaftlichen Nachwuchs. Dieser kann aufgrund solcher Abhängigkeiten enorm unter Druck geraten, weil Vorgesetzte unrealistische oder egoistische Erwartungen vorgeben oder Verstöße durch Vorgesetzte nicht gemeldet werden, weil die Whistleblower sonst selbst Sanktionen aufgrund der Machtverhältnisse im System zu befürchten haben. Wissenschaftliche Journale tragen einerseits durch wissenschaftsethische Auflagen zur Förderung der GWP bei; da sie jedoch i. d. R. nur Erfolge publizieren, gehen andererseits von ihnen auch Anreize zu wissenschaftlichem Fehlverhalten aus, obwohl gerade Falsifikationen von Hypothesen Erkenntnisfortschritte darstellen.

4. Institutionelle Rahmenbedingungen

Die zentrale Aufgabe von unabhängigen Forschungsethikkommissionen (Ethikkommissionen) liegt darin, im Vorfeld wissenschaftlicher Studien insb. auf den Schutz der Probanden und ihrer persönlichen Daten zu achten. Inzwischen werden nicht nur medizinische Forschungsprojekte durch Ethikkommissionen beraten, sondern auch Studien anderer Disziplinen. Ombudspersonen (Ombudswesen) oder Büros für Forschungsintegrität an Forschungseinrichtungen können bei Verstößen gegen die GWP angerufen werden. Außerhalb der Forschungseinrichtungen sind es die Ethikräte, die sich u. a. mit gesellschaftlichen Auswirkungen von Wissenschaft befassen. Ethikgremien werden daher oft als vermittelnde Bindeglieder (intermediary bodies) zwischen Wissenschaft und Gesellschaft aufgefasst, die den Diskurs über W. befördern.