Verhaltensökonomik

Als V. (auch Behavioral Economics) wird ein Zweig der Forschung bezeichnet, der das neoklassische Verhaltensmodell empirisch überprüft und auf der Grundlage der empirischen Resultate theoretisch weiterentwickelt. Dabei dominierte zunächst der Einfluss psychologischer Forschungsansätze, während später auch andere, etwa neuro- und kognitionswissenschaftliche Einflüsse hinzukamen. Die empirischen Untersuchungen nutzten in der Anfangszeit v. a. Laborexperimente, inzwischen spielen auch Feldexperimente eine große Rolle.

1. Frühe Ansätze

Die V. kann in die erste Hälfte des 20. Jh. zurückverfolgt werden, als erstmals Psychologen begannen, zentrale Elemente des ökonomischen Verhaltensmodells empirisch zu überprüfen. Hierbei stand zunächst der Versuch im Vordergrund, Parameter ökonomischer Modelle, wie etwa die Grenzrate der Substitution zwischen zwei Gütern oder die Risikopräferenz empirisch zu quantifizieren, ohne dabei die theoretischen Konzepte selbst infrage zu stellen. Auch die ab den 1940er Jahren geführte Debatte, ob die Erwartungsnutzentheorie eine zutreffende positive Theorie menschlicher Entscheidungen unter Risiko ist, kann zu den Vorläufern der modernen V. zählen. Der eigentliche Aufschwung der modernen V. begann jedoch erst in den 1970er Jahren mit dem Forschungsprogramm von Daniel Kahneman und Amos Tversky.

2. Heuristics and Biases

Der Fokus des „heuristics and biases“ genannten Forschungsprogramms (Kahneman/Slovic/Tversky 1982) besteht darin, Abweichungen tatsächlichen Verhaltens von den Prognosen des neoklassischen Modells zu identifizieren. Dies führte zu einem umfangreichen Katalog von Beobachtungen, die aus Sicht des Standardmodells als Anomalien erscheinen. Hierzu gehören etwa die Neigung, Opportunitätskosten von Entscheidungen falsch einzuschätzen, oder auch die Bereitschaft, Vorhaben mit hohen versunkenen Kosten weiter zu verfolgen, obwohl die erwarteten zukünftigen Zahlungsströme dagegen sprechen. Ein anderes wichtiges Beispiel ist Verlustaversion, die dann vorliegt, wenn Individuen ausgehend vom Status quo, der als Referenzpunkt dient, einen Verlust stärker negativ empfinden als sie einen Gewinn in gleicher Höhe positiv empfinden würden. Daraus folgt auch der von Richard Thaler identifizierte endowment effect, der Individuen ein und dasselbe Gut höher bewerten lässt, wenn es bereits in ihrem Besitz ist.

Ebenfalls wurden eine Reihe von Heuristiken identifiziert, also einfache Entscheidungsregeln, die Individuen oft unbewusst nutzen, die sie aber in die Irre führen können. So führt etwa die Verfügbarkeitsheuristik dazu, dass kleine Risiken, die aber z. B. aufgrund von Nachrichten über aktuelle Ereignisse sehr präsent sind, stark überschätzt werden. Die Ankerheuristik kann dazu führen, dass man sich unter Unsicherheit beim Abschätzen von Quantitäten an inhaltlich völlig irrelevanten Werten orientiert, die zufällig gerade präsent sind. So orientierten sich etwa studentische Probanden im Experiment beim Gebot für eine Flasche Wein an den letzten Zahlen ihrer Matrikelnummern, die ihnen kurz vorher in Erinnerung gerufen wurden. Und die Repräsentativitätsheuristik lässt Menschen auch gegen statistische Gesetzmäßigkeiten Fälle für wahrscheinlicher halten, die sie bei vorhanden Informationen intuitiv und gegeben für typisch halten.

Bemerkenswert an diesem Forschungsprogramm ist, dass das neoklassische Modell immer noch als normativer Maßstab im Hintergrund verbleibt. In diesem Sinne wird vollständige Rationalität als wünschenswert erachtet. Die empirisch tatsächlich beobachteten Entscheidungsmuster erscheinen dann defizitär und korrekturbedürftig.

3. Prospect Theory

Die Prospect Theory stellt den Versuch dar, eine mit der empirischen Evidenz konsistente verhaltensökonomische Entscheidungstheorie aus einem Guss zu formulieren. Im Gegensatz zur Theoriebildung der Neoklassik, die deduktiv Aussagen aus wenigen Axiomen herleitet, gingen D. Kahneman und A. Tversky induktiv vor. Sie formulierten die Theorie so, dass sie möglichst viele der zuvor empirisch aufgedeckten Entscheidungsanomalien gleichzeitig erklärt. Dies wird erreicht, indem die Nutzenfunktion durch eine vom jeweiligen Referenzpunkt ausgehende Bewertungsfunktion ersetzt wird, die bei möglichen Zugewinnen Risikoaversion und bei möglichen Verlusten Risikofreude modelliert. Hinzu kommt eine Gewichtungsfunktion für die subjektive Wahrnehmung von Wahrscheinlichkeiten. Diese Gewichtungsfunktion lässt auch den Fall zu, dass bei Fehleinschätzungen von Wahrscheinlichkeiten risikofreudiges Verhalten bei Gewinnen und risikoscheues Verhalten bei Verlusten möglich ist.

Trotz ihrer guten Fähigkeit, beobachtetes Verhalten ex post zu erklären, konnte sich die Prospect Theory nicht als Alternative zum neoklassischen Standardmodell durchsetzen. Dies wird auf zahlreiche Freiheitsgrade der Theorie zurückgeführt, die es zwar erlauben, das Modell gut an Beobachtungsdaten zu kalibrieren, aber gleichzeitig die Prognosefähigkeit stark einschränken.

4. Rationalität als normativer Maßstab

In jüngeren Beiträgen zur V. wird die vollständige Rationalität des neoklassischen Modells i. d. R. als normativer Maßstab beibehalten. Mögliche empirisch beobachtete Abweichungen werden als defizitär diagnostiziert und es wird nach Interventionen gesucht, welche die Individuen doch noch zu einem als rational verstandenen Entscheidungsverhalten veranlassen. Dazu können sogenannte nudges gehören. Dabei handelt es sich um gezielt gestaltete Entscheidungsarchitekturen, die unter Ausnutzung bekannter Entscheidungsschwächen Individuen tendenziell zum gewünschten Verhalten bewegen, aber nicht zu diesem zwingen. Einen ähnlichen Effekt können sogenannte Sündensteuern haben, die scheinbar irrationales Verhalten verteuern. Dabei geht es jedoch nicht um die Internalisierung externer Effekte. Vielmehr ist es das Ziel solcher Interventionen, die Wohlfahrt der Individuen nach ihren eigenen Maßstäben zu steigern. Typische Ziele von verhaltensökonomischen Interventionen sind etwa der verbesserte Umgang mit Problemen der Selbstkontrolle, mit falsch eingeschätzten Risiken bestimmter Verhaltensmuster, oder mit systematisch fehlerhafter Informationsverarbeitung. Seltener geht es darum, gesamtgesellschaftliche Ziele zu erreichen, wie etwa eine erhöhte Bereitschaft zur Organspende.

Solche verhaltensökonomischen Interventionen werden in der Literatur aus verschiedenen Gründen kritisiert. Hierzu gehören die Verletzung von individueller Autonomie, die Gefahr manipulativer Interventionen, sowie auch Zweifel an der Behauptung, dass politische Entscheidungsträger hinreichend informiert sind, um effizient zu intervenieren. Ein anderer Zweig der Kritik betrifft die Entscheidung, überhaupt vollständige Rationalität als normativen Maßstab zu verwenden. Hier wird argumentiert, dass einerseits zahlreiche Verzerrungen, die unter Laborbedingungen beobachtet werden, weniger relevant sind, wenn die Individuen unter realistischen Bedingungen entscheiden und auch die Möglichkeit zum Lernen haben. Außerdem ist unter Berücksichtigung kognitiver Kosten der Entscheidungsfindung die Nutzung von Heuristiken als Entscheidungsregeln oft effizient und sinnvoll, während vollständige Rationalität schlicht mit zu hohen kognitiven Kosten verbunden wäre.

5. Behavioral Political Economy

Ein neueres Anwendungsfeld der V. ist die ökonomische Theorie der Politik (Neue Politische Ökonomie). Hier wird die Asymmetrie in den Verhaltensannahmen zwischen Individuen und politischen Entscheidungsträgern aufgehoben, so dass für Letztere keine überlegene Rationalität mehr unterstellt wird. Dies führt zur Diagnose zahlreicher Phänomene, die zu ineffizienten politischen Entscheidungen führen können. Bspw. können Risikoeinschätzungen noch stärker verzerrt werden als bei privaten Entscheidungen, wenn sie im Rahmen von sogenannten Verfügbarkeitskaskaden durch öffentliche Debatten beeinflusst werden. Hinzu kommen Phänomene wie expressives Wählen. Da die einzelne Stimme eines Wählers praktisch nie unmittelbare materielle Auswirkungen hat, kann dieser sich bei seiner Wahlentscheidung bspw. am emotionalen Wert einer Politik orientieren, ihre effektiven Auswirkungen aber außer Acht lassen.

6. Ausblick

Die V. tritt derzeit in eine Konsolidierungsphase ein, in der v. a. die Neigung, überall Anomalien und irrationales Verhalten zu sehen, kritisch hinterfragt wird. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung von Laborexperimenten deutlich ab, während Feldexperimente wichtiger werden. Hier wird Entscheidungsverhalten unter realen Bedingungen experimentell untersucht, idealerweise durch Vergleich mit einer zufällig ausgewählten Kontrollgruppe. Selbst hier ist aber umstritten, inwieweit wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen direkt ableitbar sind. Die methodischen und forschungsstrategischen Innovationen der V. wiegen insofern bisher schwerer als die unmittelbaren wirtschaftspolitischen Implikationen.