Unterricht

1. Sachverhalt

U. ist in doppelter Weise ein historisches Phänomen. Gegenstandsbezogen hat sich schulisch organisierter U. im Kontext von Nationalstaatsbildung, Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und kulturellen Modernisierungen als soziale und pädagogische Formbildung weltweit institutionalisiert und ist so zu einer Massenerfahrung für Heranwachsende geworden, wobei der ungleichzeitige und diskontinuierliche Verlauf dieser Universalisierung betont werden muss. Als dominante Form des U.s hat sich das spezifischen Regeln und Mustern folgende öffentliche Gespräch in Schulklassen historisch ausdifferenziert, das von Phasen der Einzel-, Paar- und Gruppenarbeit ergänzt wird. Die Form des U.s lässt sich durch sechs Merkmale kennzeichnen: U. ist erstens die geplante und methodisierte Kommunikation von Wissen in der Form des (klassen-)öffentlichen Gesprächs unter Anwesenden, der die pädagogische Erwartung unterlegt ist, Lernen und Bildung von Heranwachsenden strukturiert zu beeinflussen. Für diese spezifische Form der Kommunikation sind zweitens unterschiedliche Konstellationen der körperlich vermittelten Nutzung von Sprache, Medien und Dingen ebenso konstitutiv wie eine bestimmte sachliche, soziale, zeitliche und räumliche Organisation der Interaktion. An U. sind drittens Lehrer sowie Schüler in schulorganisatorisch vermittelten Positionen, Rollen und Funktionen beteiligt, die wiederum auf Macht- (Macht) und Generationenverhältnisse sowie Erwartungen des Schulsystems, der Familie, aber auch der Gleichaltrigen verweisen. U. findet viertens in Schulklassen bzw. Lerngruppen statt, deren Organisierungsprinzipien sich jedoch temporär und dauerhaft unterscheiden können. U. konstituiert sich fünftens im Rahmen einer äußerlich verhandelten Form der fachlichen Organisation von (Schul-)Wissen, die u. a. am Kanon der Fächer, der Fixierung von Lehrplänen und der Produktion von Schulmedien ablesbar wird. Schließlich und sechstens ist U. mit der Feststellung und Graduierung von Leistungen verbunden.

U. ist jedoch nicht nur als soziokulturelles Phänomen historisch und damit Objekt von Wandel, sondern auch die Semantik, mit der U. beobachtet, reflektiert und theoretisiert wird, unterlag und unterliegt historischen Veränderungen. Trotz der Binnendifferenzierung in eine Vielzahl widersprüchlicher Ansätze und Schulen galt die Allgemeine Didaktik sowohl im Hinblick auf die Begründung wie auch die Planung, d. h. die methodisierte und damit zeitlich sequenzierte Darbietung der U.s-Stoffe – auf Johann Friedrich Herbart geht hierfür die einschlägige Bezeichnung der „Artikulation“ (Herbart 1965: 66) zurück – lange Zeit als unstrittige Denkform für die Reflexion von U. In dieser Funktion kam ihr in der Lehrerbildung eine quasi kanonische Rolle in der Anleitung der beruflichen Praxis von Lehrern für die Planung und Gestaltung von U. zu. Mit dem Aufstieg der disziplinär heterogenen U.s-Forschung hat sich der Diskurs über U. in den letzten Jahrzehnten signifikant verändert: Einerseits hat das empirisch gewonnene Wissen über Strukturen, Kennzeichen, Prozesse und Ergebnisse von U. sowie deren Zusammenhänge deutlich zugenommen; andererseits reflektiert sich in der evidenzorientierten U.s-Forschung wiederkehrend die Agenda einer sozialtechnologisch verstanden Optimierung von U., die auf die messbare Steigerung von Schülerleistungen ebenso zielt wie auf die Verbesserung der Effizienz des U.s- bzw. Schulsystems. Zudem hat auch die Diskussion um eine angemessene Theoretisierung von U. deutlich an Fahrt aufgenommen.

2. Unterricht als Institutionalisierung einer Kommunikationsform

Systematisch ist die Institutionalisierung von U. als Antwort auf eine spezifische Problemstellung zu verstehen: Wenn Schulen die Erwartungen Wissensvermittlung, Menschenformung und soziale Platzierung nach Leistung zuverlässig bedienen sollen, die in modernen Gesellschaften an die öffentlich organisierte Erziehung adressiert werden, muss diese über entsprechende Technologien verfügen. Im Fall von Erziehung sind Technologien jedoch nur begrenzt vorhanden, zumindest dann, wenn man unter diesen – wie im Bereich von Organisationen oder Professionen üblich – Mittel und Methoden versteht, die es erlauben, festgelegte Ziele in einem begrenzten Handlungs- und Anwendungsfeld regelmäßig und dauerhaft zu erreichen. Im strengen Sinn setzen Technologien Kausalverhältnisse voraus: Man verfügt über Technologie, wenn man weiß, was zu tun ist, um etwas Bestimmtes zuverlässig und voraussagbar zu bewirken.

Die Ursachen für das so verstandene Technologiedefizit – ein Begriff, der auf Niklas Luhmanns frühe soziologischen Studien zu Erziehung, U. und Pädagogik zurückgeht, aber als Problem der Ungewissheit des U.s-Erfolgs auch bereits die pädagogischen Klassiker wie J. F. Herbart oder Ernst Christian Trapp beschäftigte – haben mit zwei Konstitutionsbedingungen von U. zu tun: seiner Sozialität und seiner Pädagogizität. U. konstituiert sich als kommunikationsbasiertes Sozialsystem (Systemtheorie), d. h. die Interaktion von Lehrpersonen und Schülern ist der operative Modus des U.s. Kennzeichen von Interaktionssystemen ist eine grundlegende Unbestimmtheit, die die amerikanischen Sozialtheoretiker Talcott Parsons und Edward Shils mit dem Begriff „doppelte Kontingenz“ (Parsons/Shils 1951: 16) bezeichnet haben. Gemeint ist, dass alle Beteiligten in Interaktionssituationen immer aus einer Mehrzahl von auch anders möglichen Anschlussreaktionen auswählen können und sie zudem alle um dieses Nichtfestgelegtsein der Anschlussreaktionen wissen. Ausgangspunkt interaktionsbasierter Sozialsysteme ist deshalb immer eine Ungewissheit darüber, was in den Köpfen der anderen Anwesenden vorgeht, wie sie an eine Interaktionsofferte anschließen und wie es insofern weitergeht. Auf den U. bezogen heißt dies, dass es für keinen der Beteiligten eine vollständige Durchschaubarkeit und damit Kontrolle der Situation gibt. Mit dem Begriff Pädagogizität lässt sich der Anspruch und Zweck von U. bezeichnen, bestimmtes Lernen der Schüler durch geeignete methodische Arrangements und durch nachfolgende Reaktionen auf gezeigtes Lernverhalten zu ermöglichen. Dass hier ausdrücklich in der Modalform der Ermöglichung bestimmten Lernens gesprochen wird, ist kein Zufall. Grund dafür ist das, was Klaus Prange als „pädagogische Differenz“ (Prange 2005: 92) zwischen Lernen und Erziehen bezeichnet hat. Als anthropologisch-kulturelle Konstante gehört das Lernen zum Menschen, es muss nicht durch Erziehung und U. hergestellt werden. Erst in dem Moment, wo das Lernen mit Bezug auf fachliche und überfachliche Ziele des schulischen Curriculums in einer bestimmten Weise beeinflusst werden soll, wird es zur pädagogischen Aufgabe. Trotz der sozial-kommunikativen Einbettung jeden Lernens bleibt das Lernen selbst eine an das Individuum gebundene Operation, die nicht delegierbar ist. Schließlich, und d. i. für die Frage der technologischen Steuerung im U. zentral, ruht Lernen auf kognitiven Operationen (wesentlich solchen der Informationsverarbeitung und -speicherung), die sozial unsichtbar bleiben und auf die im U. deshalb nur indirekt und fehleranfällig rückgeschlossen werden kann. Die Intransparenz der im Schüler stattfindenden Lernvorgänge und die unhintergehbare Abhängigkeit des Lernens vom Lerner, von seiner – nicht selten eigensinnigen – Rezeption und Aneignung des zu Lernenden, sind wesentliche Ursachen dafür, dass im U. nicht von einer technologischen Steuerung i. S. einer kausalen Bewirkung des Lernens ausgegangen werden kann.

Angesichts von Ungewissheit und Kontingenz als Kennzeichen interaktionsvermittelter Versuche der pädagogischen Einwirkung auf Kinder und Jugendliche kann die Art und Weise, wie sich U. als „Kommunikationsform“ (Caruso 2011) im Systembildungsprozess der modernen Schule ab dem 18. Jh. historisch ausdifferenzierte, als Lösung für das beschriebene Technologieproblem verstanden werden. Die Kommunikationsform U. generiert erstens spezifische Praktiken der interaktionsbasierten Wissensvermittlung und Menschenformung (wie z. B. das klassenöffentliche „Chorsprechen“), die sich zweitens mit der Organisationsförmigkeit von Schule verbinden und die drittens ein sich allmählich ausdifferenzierendes „professionelles“ Wissen über Lehren und Lernen, Kinder und Jugendliche sowie Bildungsinhalte integrieren. An der Schnittstelle von vermittelnder und formender Interaktion, schulischer Organisation und pädagogischer Semantik, bildet die Kommunikationsform U. eine „Tiefenstruktur der pädagogischen Praxis“ (Tenorth 2003: 16), die – losgelöst von den Intentionen pädagogischer oder bildungspolitischer Akteure – ihre Wirksamkeit im Klassenzimmer mit Blick auf die pädagogische Beeinflussung der Verhaltensbereitschaften und Wissensdispositionen der Schüler entfaltet.

Als pädagogischen Kern von U. bestimmt K. Prange das Zeigen, das erstens mit dem Sachverhalt, auf den gezeigt wird, und zweitens mit dem Rückverweis auf den Zeigenden, der diesem Sachverhalt einen spezifischen Sinn zuschreibt, zwei Referenzen aufweist. Im Detail ruht die Kommunikationsform U. lehrerseitig auf einem Gefüge unterschiedlicher, aber eng aufeinander bezogener Interaktionspraktiken: Disziplinierungskommunikation, die die Bedingungen der Vermittlung fachlichen und sozialen Wissens in Bezug auf Anfänge, Übergänge oder Regeleinhaltung und Mitmachbereitschaft herstellen und regulieren soll; Aufforderungskommunikation, die die Schüler zu einem bestimmten Beteiligungs- und Arbeitsverhalten motivieren soll; Kommunikation zur Fokussierung der Aufmerksamkeit, die die Wahrnehmung der Schüler wiederkehrend auf die Objekte und Praktiken des Lernens lenken und damit von anderen immer auch präsenten Dingen und Praktiken ablenken soll; Darstellungskommunikation, die sich materiell auf analoge wie digitale U.s-Medien stützt (von der Tafel über das Arbeitsblatt, den Experimentierkasten bis zu Smartboard oder Tabletcomputer), mit der die epistemischen Merkmale von fachlich bestimmten Inhalten (auf-)gezeigt, erläutert, problematisiert, diskutiert und erklärt werden; Rückmeldungs- und Beurteilungskommunikation, in der zu den Schülerbeiträgen Stellung genommen wird, um die Wissenskommunikation in angezielte Bahnen zu lenken. Rückmeldung und Beurteilung haben dabei eine sachlich-thematische Dimension, in der es um die Validierung des „richtigen“ U.s-Wissens geht. Sie haben aber auch eine sozial-erzieherische Dimension, indem das U.s-Verhalten der Schüler mitkommentiert wird (z. B. als Ausdruck der Bereitschaft, am U. und an der Erreichung seiner Ziele mitzuwirken, aber auch als Ausdruck von Wissen oder Nicht-Wissen, über das ein bestimmter Schüler verfügt).

Schülerbezogen eröffnet die Kommunikationsform U. wiederum unterschiedliche Optionen der Teilhabe. Entlang der Differenzierung zwischen der „academic task structure“ und der „social participation structure“ (Erickson 1982) lässt sich der Aneignungsmodus „Lernen“ als Bezug auf fachlich bestimmte Inhalte von einem Modus unterscheiden, in dem es um die Ausfüllung des „Schülerjobs“ (Breidenstein 2006) im Kontext der Sozialisationsinstanz Schulklasse (Sozialisation) geht. Kennzeichen des Schülerjobs ist es, routiniert sowohl peerkulturelle Erwartungen von Mitschülern wie die schulischen Anforderungen der U.s-Situation zu integrieren.

3. Ordnungsbildung im Unterricht

I. S. einer sich kontinuierlichen entwickelnden Ordnung bildet die Kommunikationsform U. ihre Strukturen in miteinander verschränkten Dimensionen aus.

3.1 Die soziale Ordnung der Kommunikationsform Unterricht

Eine zentrale Rolle spielt die Schulklasse und die damit schulorganisatorisch hergestellte Klassenförmigkeit des U.s. U. adressiert nicht den Einzelnen, sondern der Einzelne wird über die kollektive Adressierung der Klasse angesprochen. In diesem Sinne gilt für U.: Mit einem vor anderen sprechen bedeutet mit allen sprechen. Die Simultanität von individueller und kollektiver Adressierung macht deutlich, dass die Nutzung von Öffentlichkeit ein zentraler Mechanismus der Kommunikationsform U. ist, um Wissensvermittlung, Menschenformung und soziale Platzierung zu ermöglichen. U. ist keine dyadische Kommunikationsform zwischen Lehrer und Schüler, sondern eine polyadische. Sie ist zwar i. d. R. um die Lehrperson zentriert, kennt aber auch dezentrierte Konstellationen in Phasen der Einzel- oder Gruppenarbeit. Über die Differenzierung aktiver Partizipation (z. B. durch mündliche Beiträge oder Aufgabenbearbeitung an der Tafel) und passiver Partizipation (z. B. bei der Beobachtung des Geschehens und beim Zuhören) werden alle Schüler als Mitglieder ihrer Schulklasse in die sprach- und verhaltensbasierte Inszenierung klassenöffentlichen Denkens inkludiert. Als Anwesende können sie hören und sehen, welche Beiträge und welches Verhaltens öffentlich als für den Fortgang des U.s nützlich behandelt werden, wie dabei Wissen vor aller Ohren und Augen hör- und sehbar zur Sprache gebracht, wie mit Abweichungen umgegangen wird und wie durch klassenöffentliche Beurteilungen von Beiträgen richtiges oder falsches Wissen ausgewiesen wird und damit als U.s-Wissen soziale Geltung erlangt. Der Schule gelingt es mit der Einrichtung der klassenöffentlichen Kommunikationsform U. und der aus ihr resultierenden Interaktionsstruktur eine spezifische Ökonomie des Lehrens und Lernens zu organisieren. Nicht die Summe einzelner Lehr-Lern-Interaktionen, die mit der Lehrperson als Scharnierstelle immer nur nacheinander stattfinden können und deshalb eine große Menge zeitlicher Ressourcen benötigen, ist das Produktionsmodell des U.s, sondern die simultane, aber differenzierte und differenzierende Einbeziehung und Beteiligung aller Schüler in die öffentlich sichtbare und hörbare Thematisierung von Wissen und Prämierung von Verhalten.

3.2 Die Ordnung des Wissens im Unterricht

Dass die geplante und methodisierte Kommunikation von fachlichem Wissen und die Vermittlung damit einhergehender Verhaltensbereitschaften und Einstellungen den Programmkern von U. beschreibt, ist in modernen Gesellschaften, für die Bildung einen Zentralwert darstellt, weitgehend unstrittig. Inhalte ebenso wie die organisatorische, mediale und materiale Form des Schulwissens sind dabei zunächst das Ergebnis von Verhandlungsprozessen außerhalb des U.s. Fächer sind die schulorganistorische Materialisierung einer bestimmten Ordnung des Schulwissens, die sich historisch in einem Prozess der „Verfächerung“ (Schneuwly 2018: 285) herausgebildet hat. Sie weisen zwar i. d. R. einen Bezug auf universitäres Fachwissen auf, ihre Herausbildung ist jedoch eigenständiger Teil der Systembildung der modernen Schule, nicht abgeleitetes Derivat wissenschaftlicher Disziplinen. Lehrpläne wiederum sind die bildungspolitische und schulrechtliche Fixierung (Schulrecht) dessen, was im U. in welcher Abfolge gelehrt werden soll, wobei bekannt ist, dass ihre Steuerungsleistung – trotz ihrer Bedeutung für den Herstellungs- und Zulassungsprozess von Schulbüchern – für die unterrichtliche Wissenskommunikation begrenzt ist. Dies gilt für Schulbücher und andere U.s-Medien deutlich weniger, wobei zwischen der zulassungsbedürftigen Herstellung und dem lehrerabhängigen Gebrauch dieser Medien unterschieden werden muss. Im Zuge der Umstellung auf eine Output-Steuerung der Schule sind seit der Jahrtausendwende Bildungsstandards bildungspolitisch (Bildungspolitik) in den Vordergrund gerückt, um auf der Grundlage von wissenspsychologisch bestimmten Kompetenzen in unterschiedlichen Domänen die Normierung der unterrichtlichen Ordnung des Wissens neu zu organisieren.

Wählt man dagegen den U. selbst als Bezugspunkt, dann rücken die spezifischen unterrichtlichen Wissenspraktiken und die für die Inszenierung von U. eingesetzten didaktischen Materialien und Medien in den Fokus. Im Deutsch-U. eine Gedichtinterpretation in das Heft schreiben, im Chemie-U. ein Experiment mit Stoffen durchführen, im Geschichts-U. eine abgedruckte Quelle aus dem Schulbuch analysieren, bilden in dieser operativ-praxeologischen Perspektive Beispiele dafür, wie sich unterrichtliche Wissensordnung in ihren fachlichen Besonderheiten im Schulalltag konstituiert. Der französische Mathematikdidaktier Yves Chevallard (1985) hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „transposition didactique“ (Chevallard 1985) geprägt, um deutlich zu machen, dass Wissen als Resultat von Adaptionen an ihr jeweiliges „institutionelles Habitat“ (Chevallard 2007: 132) verstanden werden muss. Wissen wird als Gegenstand der jeweiligen fachlich differenten Praktiken des Lehrens und Lernens auf die Bedingungen des U.s transponiert, es wird im und durch U. „zugerüstet, um gelernt zu werden“ (Schneuwly 2013: 21).

Indem die Kommunikationsform U. die Schulklasse in die Hervorbringung und Validierung von Schulwissen einbindet, wird das eigentlich unsichtbare Lernen in den Köpfen der Schüler auf die hör- und sichtbare Seite gezogen und so im U. beobachtbar und bearbeitbar gemacht. Gleichwohl ist zu betonen, dass dieses operative Verständnis der unterrichtlichen Ordnung des Wissens das Problem der nur begrenzten Steuerung des individuellen Lernens nicht aufhebt. Effekte der unterrichtlichen Kommunikation von Wissen bei den Schülern sind zwar erwartbar und wahrscheinlich. Wie diese Effekte im Einzelfall ausfallen, kann nicht vollständig vorhergesagt und kontrolliert werden. Die Kommunikationsform U. bearbeitet die Emergenz unterrichtlichen Wissens mit weiterer Kommunikation, d. h. mit dem Versuch, bestimmte Erwartungen der Wissensaneignung und Verhaltensänderung auf ihre soziale Akzeptanz zu testen und das unterrichtliche Verhalten auf dieser Grundlage aufeinander abzustimmen, damit Kooperation i. S. pädagogisch gewünschter Wissensvermittlung und Menschenformung möglich wird.

3.3 Unterricht als eine Ordnung der Prüfung, Feststellung und Zuschreibung von Leistung

Das Prüfen, Feststellen und Selbst- wie Fremdzuschreiben von Leistung bildet für die Ordnung des U.s ein drittes zentrales Strukturmerkmal, insofern diese Praktiken nicht nur funktional die Erwartung bedienen, in sich als meritokratisch behauptenden Gesellschaften die Voraussetzungen für die soziale Platzierung qua zertifizierter Leistung zu organisieren, sondern gleichzeitig die operative Ebene des U.s nahezu durchgängig bestimmen. Kerstin Rabenstein u. a. weisen darauf hin, dass „Leistung […] die zentrale schulische Währung zu sein [scheint], in die nahezu alles andere innerhalb der Schule ‚konvertiert‘ werden kann“ (2013: 675). Kommunikativ wird dies insb. an der sequentiellen Verkettung unterrichtlicher Sprechakte sichtbar, in der auf lehrerseitige Vermittlungs- und schülerseitige Aneignungsakte notwendigerweise Bewertungs- und Rückmeldeprozeduren folgen – zwar nicht immer unmittelbar nach einem Äußerungswechsel, aber für das unterrichtliche Sprachspiel insgesamt zwingend. Die US-amerikanische U.s-Forschung hat hierfür die Bezeichnung Initiation-Response-Evaluation/Feedback-Sequenz geprägt.

Lehrerseitige Bewertungen und Rückmeldungen haben zum einen die Funktion, die Richtigkeit fachlichen Wissens oder unterrichtlicher Verhaltensweisen klassenöffentlich zu markieren – d. i. ihr Nexus zur Wissensordnung des U.s: Ihnen kommt die Aufgabe zu, bestimmtes Wissen und bestimmtes Verhalten als Leistung zurechenbar zu machen. Zum anderen besondern Prüfungen, Bewertungen und Rückmeldungen die jeweiligen Urheber von Antworten, indem diesen der jeweilige Beitrag als persönliche Leistung oder Nicht-Leistung zugerechnet wird. Mit Leistungsbewertungen werden Schüler individualisiert und gleichzeitig im sozialen Vergleichsgefüge der Schulklasse differenziert.

Gerade weil die Kontingenzproblematik auch die unterrichtliche Leistungsfeststellung betrifft – über die „Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ (Ingenkamp 1971) und die „Umstrittenheit von Leistung“ (Schäfer 2015: 27) besteht Konsens – muss das unablässige unterrichtliche Prozessieren von Beurteilungen in Form von regelmäßigen Kontrollen, von mündlichen Teilnoten oder von schriftlichen Klausuren sowie die bemühte Offenlegung der angewandten Beurteilungskriterien, die unbedingte Einhaltung der Verfahrensförmigkeit der Prüfungen und die Mathematisierung der Notenfestlegung als Versuch der „Objektivierung“ (Zabrowski u. a. 2011: 352) verstanden werden, mit der die Legitimität des U.s als einer Ordnung von Leistung immer wieder hergestellt werden muss.