Bildungspolitik

1. Föderalismus, Pluralismus, Monismus

Am 2.7.1948 konstituierte sich im Nachkriegsdeutschland in den westlichen Zonen die Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK 1998). Im April 1949 wurde die westdeutsche Rektorenkonferenz gegründet, und am 23.5.1949 verkündete der Parlamentarischen Rat das GG für die BRD. Zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung für die Fortführung des Schulsystems auf der Basis von Volksschule und Mittelschule, Berufsausbildung und Berufsschule sowie Gymnasium in den westdeutschen Ländern bereits gefallen (Schule). So stellt die KMK 1949 fest, dass das GG die Kulturhoheit der Länder (Bundesstaat, Kulturverfassungsrecht) anerkenne, und verweist darauf, dass die „föderale Organisation von Bildung und Kulturpolitik eine Absage an die totalitäre und zentralistische Politik der jüngsten Vergangenheit“ ist (Föderalismus), weil nur durch diese Vielfalt „die verhängnisvolle Verwirrung und Knechtung des Geistes und die Anfälligkeit vieler Deutscher gegenüber dem Ungeist“ überwunden werden kann (Handbuch KMK 1971:67). Für die KMK ergab sich aus dieser föderalen Struktur auch, dass sie das einzig zuständige Organ für die Kulturpolitik der Länder ist, soweit die Angelegenheiten mehrere oder alle Länder betreffen und von überregionaler Bedeutung sind.

Diese starke föderale Perspektive wird durch das GG der BRD klar bestätigt. Art. 6 GG definiert die Pflege und Erziehung der Kinder als natürliches Recht der Eltern, und Art. 7 GG stellt das Schulwesen nur unter die Aufsicht des Staates; dieser lässt ausdrücklich private Schulen zu und lässt den Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilen. Damit wird deutlich, dass das Schulwesen und das Bildungswesen insgesamt neben seiner föderalen Grundlage im Grundsatz auch weltanschaulich neutral und pluralistisch zu organisieren ist. Diese sehr freiheitliche und pluralistische Grundperspektive findet sich auch in anderen Artikeln des GGes wieder, etwa betont Art. 12 GG ausdrücklich, dass nicht nur Beruf und Arbeitsplatz frei zu wählen sind, sondern auch die Ausbildungsstätte.

Die föderale Struktur, die weltanschauliche Neutralität, sehr weitgehende Rechte der Eltern, die Akzeptanz privater Schulen und die freie Wahl der Ausbildungsstätten waren in der damaligen Zeit auch eine klare institutionelle und demokratische Antwort auf den nationalsozialistischen Staat (Nationalsozialismus).

Demgegenüber verfolgte die SED in der damaligen SBZ und späteren DDR ein Modell von Bildung und Erziehung, das einheitlich und sozialistisch sein sollte (Verfassung der DDR, Art. 17), um die Bürger zu befähigen, die „sozialistische“ Gesellschaft zu gestalten (Sozialismus). „Das einheitliche sozialistische Bildungssystem gewährleistet jedem Bürger eine kontinuierliche sozialistische Erziehung, Bildung und Weiterbildung“ (ebd., Art. 25). Ziel dieser Bildung war die „sozialistische Persönlichkeit“; die freie Wahl für einen Arbeitsplatz hing nicht nur von der persönlichen Qualifikation, sondern auch von den gesellschaftlichen Erfordernissen ab (ebd., Art. 24). Um das zu erreichen, bestand eine zehnjährige Oberschulpflicht und die Pflicht, einen Beruf zu erlernen.

In den westlichen Besatzungszonen war die Antwort auf den nationalsozialistischen Staat im Bereich von Bildung v. a. der Versuch, durch die föderale Vielfalt und Pluralität von Weltanschauungen, kulturellen Mustern und landsmannschaftlichen Vorstellungen die zentrale Basis für die demokratische Entwicklung durch Bildung und Erziehung zu ermöglichen. Die Antwort in der damaligen SBZ und späteren DDR war die Hoffnung, die Menschen in einem einheitlichen Schulsystem und durch einen an den sozialistischen Grundprinzipien orientierten Erziehungsprozess zu einer „sozialistischen Persönlichkeit“ zu formen, die aufgrund ihrer Bildung und Erziehung und persönlichen Reife durch solche Ideologien nicht mehr verführt werden konnten. Ein solches „monistisches“ System (Monismus) räumt den staatlichen Institutionen erhebliche Vorrechte nicht nur im Bereich von Unterricht und Ausbildung gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Gruppen und auch den Eltern ein. Vielmehr eröffnet die Ausrichtung an bestimmten Vorstellungen von der „richtigen“, nämlich der „sozialistischen“ Persönlichkeit diesen Institutionen auch eine große Definitionsmacht über gesellschaftlich „richtiges“ und „abweichenden“ Verhalten und begründet damit auch einen erheblichen Kontrollanspruch sowohl gegenüber den Lehrern (Lehrer) und Erziehern wie auch gegenüber den Eltern, ihre Kinder gesellschaftlich „richtig“ zu erziehen.

2. Das „katholische Arbeitermädchen vom Land“ und Bildungsgerechtigkeit: Die Bildungskatastrophe

Trotz der föderalen Vielfalt war das Schulsystem in den westlichen Bundesländern sehr einheitlich gegliedert: Es gab keine Vorschule, die Schulpflicht begann mit sechs Jahren, bis zum 10. Lebensjahr wurde gemeinsam gelernt, danach ging die Mehrheit der Kinder auf die Hauptschule, die Schulpflicht endete mit dem 14. Lebensjahr, ein Teil der Kinder besuchte die Mittelschule (sechs Jahre) und ein kleinerer Teil das Gymnasium, das insgesamt neun Jahre dauerte. Der Zugang zur Universität erfolgte nicht über eine Aufnahmeprüfung, sondern mit dem erfolgreichen Abschluss des Gymnasiums (Abitur), die Studiendauer lag für die meisten Fächer an der Universität bei vier Jahren und endete zumeist mit einer Staatsprüfung für den Zugang zum höheren Dienst im jeweiligen Bundesland. Bundeseinheitlich hing die endgültige Einstellung als Beamter von der Absolvierung einer zweiten staatlich organisierten Ausbildungsphase (Referendariat) ab. Die Mehrheit der technischen und naturwissenschaftlichen Fächer hatte das Diplom als Abschluss; in den Geisteswissenschaften bestand in einigen Fächern auch die Möglichkeit, direkt mit der Promotion abzuschließen oder einen Magister zu erwerben.

Diese Dualität der Ausbildung für die höheren Beamten im öffentlichen Dienst zeigte sich im Grundsatz auf allen Stufen des Ausbildungssystems. Nach Abschluss der Volksschule (Hauptschule) konnte sich eine Lehre anschließen, die über den Abschluss zum Gesellen und Meister zur eigenständigen Führung eines Handwerksbetriebs befähigte; man konnte auch eine Fachschule besuchen, um Krankenschwester, Pfleger oder ab 1967 staatlich anerkannte Erzieherin zu werden. Mit dem Abitur konnte eine Verwaltungshochschule der Länder oder des Bundes besucht werden, um dann im gehobenen Dienst als Beamter tätig zu werden. Nach Abschluss einer Lehre bestand zudem die Möglichkeit, eine Landwirtschaftsschule oder Ingenieurschule zu besuchen, um mit dem Abschluss in der Industrie oder in anderen Bereichen tätig zu werden. Damals waren bei einem Abiturientenanteil von 6–7 % staatliche oder staatsnahe Institutionen die Hauptabnehmer der qualifiziert ausgebildeten jungen Erwachsenen, so dass die enge Bindung zwischen Allgemeinbildung, dem Ausbildungssystem und dem Universitätssystem gut nachvollziehbar war.

Aus der Sicht der jungen Erwachsenen hat ein solches System den unbestreitbaren Vorteil, dass die Verantwortung für die Integration in das Berufsleben nicht allein bei den jungen Erwachsenen liegt, sondern auch bei Staat und Gesellschaft. Das wird bei der Lehre bes. deutlich, wo der Ausbildungsmeister für den 14-jährigen oder auch 16-jährigen Lehrling auch Erziehungsfunktionen wahrnahm und damit auch eine personale Beziehung und Verantwortung entstand.

Allerdings hat Ludwig von Friedeburg (1992) auch die Schwächen dieses Systems deutlich benannt. Wilhelm von Humboldt hatte gegenüber dem preußischen König den Vorrang einer allgemeinen universitären Ausbildung (Universitätsidee) gegenüber einer Kadettenanstalt für Offiziere damit begründet, dass eine gute allgemeine, universitäre Bildung in Mathematik sicher besser sei als eine nur spezifische Ausbildung in Ballistik. Das darin aufscheinende duale Muster der berufsunabhängigen allgemeinen Bildung bis hin zur Universität mit einer beruflichen Qualifikation zu verknüpfen, hat sich als Kernelement der deutschen B. bis heute erhalten. Es ist für uns selbstverständlich, dass etwa ein Richter auch auf der untersten Stufe des Gerichtssystems sein Amt nicht einfach nach der allgemeinen universitären Ausbildung ausüben kann, sondern selbstverständlich ein Referendariat benötigt.

Das ist eine spezifisch deutsche Tradition, und die Schwäche dieses Systems ist klar erkennbar. Die Allgemeinbildung wurde in diesem System nämlich „ständisch“ in Abhängigkeit von den später zu erreichenden Berufspositionen definiert. Denn es gibt keinen rationalen Grund dafür, dass der Elektromeister mit neun oder zehn Jahren Schulbildung weniger Allgemeinbildung benötigt als der Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik, der als Mitarbeiter einer Behörde die Arbeiten des Elektromeisters prüft und dafür 13 Jahre Schulbildung benötigt.

Das System war nicht nur „ständisch“ (Stand), sondern auch geschlechterdiskriminierend (Diskriminierung) angelegt. Denn die überwiegend von jungen Frauen nachgefragten Berufe, im Pflege- und Sozialbereich wie auch in der allgemeinen Verwaltung, waren in der Regel in Fachschulen (Krankenschwestern) oder auf dem Niveau der Verwaltungslehre organisiert mit der Konsequenz, dass in diesen Bereichen in der Regel keine Aufstiegsmöglichkeiten bestanden.

Der „Sputnik-Schock“ 1957 löste weltweit eine Diskussion darüber aus, wie gut oder schlecht die Bildungssysteme in den einzelnen Ländern auf die schon damals erkennbaren globalen Herausforderungen reagieren können. Dabei war es durchgängige Annahme, dass das vorhandene Potenzial der nachwachsenden Generationen voll ausgeschöpft werden müsse. Die Bildungsreformer in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, allen voran Georg Picht, gingen davon aus, dass die „Zahl der Abiturienten das geistige Potenzial eines Volkes bezeichnet, von dem in jeder modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialproduktes und die politische Stellung abhängig ist.“ (Picht 1964:20). Für ihn war klar, dass Frankreich in den 1970er Jahren mit einer Abiturientenquote von damals 14 % die Bundesrepublik wirtschaftlich und politisch überholen würde. Diese „ökonomische“ und „politische“ Argumentation, schon damals von der OECD außerordentlich gefördert, wurde aber zunehmend überlagert durch das große Thema der Bildungsgerechtigkeit, das bis heute neben der internationalen Leistungsfähigkeit und Konkurrenz das beherrschende Thema der B. geblieben ist.

Die Formel des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ (Ralf Dahrendorf 1965a) bezeichnet die bildungsbenachteiligten Gruppen sehr genau: Beim Übergang in das Gymnasium waren Mädchen landesweit unterrepräsentiert, ebenso wie Kinder aus ländlichen Regionen, katholische Kinder und Kinder aus Arbeiterfamilien.

Die politischen Reaktionen auf den möglichen Verlust der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch zu wenig Abiturienten und Studenten und die offenkundige Bildungsungerechtigkeit waren in allen Bundesländern relativ ähnlich, trotz tief greifender politischer Differenzen etwa in Bezug auf das gegliederte Schulsystem, das als zentrale Ursache von Bildungsungerechtigkeit identifiziert wurde. Es gab eine klare Expansion des Bildungsangebotes im ländlichen Raum, und es wurde aktiv für Bildung und mehr Bildungsbereitschaft bei den Eltern geworben („Student aufs Land“, Ignaz Bender 1966). Parallel haben die meisten Bundesländer neue universitäre Standorte in ländlichen Regionen aufgebaut, etwa Passau und Bayreuth in Bayern, Kaiserslautern und Trier in Rheinland-Pfalz, aber auch Kassel in Hessen; Nordrhein-Westfalen versuchte mit der Universität Bochum im Ruhrgebiet schon frühzeitig auf die Bildungsferne von Arbeiterkindern zu reagieren.

Diese Entwicklung war nur möglich, weil die Bundesländer bereit waren, erheblich mehr Mittel in Bildung und Ausbildung zu investieren. Als heute festzustellende Konsequenz ist die Benachteiligung von Mädchen und jungen Frauen im allgemeinen Bildungssystem weitgehend verschwunden und die Stadt/Land-Differenzen haben sich deutlich verringert, aber die Benachteiligung der Kinder aus der Arbeiterschicht existiert bis heute weiter. Noch heute gibt es erhebliche Unterschiede, weil Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien nur zu 45 % in die gymnasiale Oberstufe und zu 24 % zum Studium gelangen; bei Kindern aus Akademikerhaushalten sind es 81 bzw. 71 %. So richtig diese Zahlen sind, so sehr muss aber auch die veränderte Grundgesamtheit berücksichtigt werden. R. Dahrendorf (1965a) und G. Picht (1964) argumentierten auf der Basis einer Schülerschaft, geboren zwischen 1945 und 1950, die zur Hälfte den Hauptschulabschluss erreichte und knapp 5 % die Schule ohne Abschluss verließen. Jutta Allmendinger argumentiert auf der Basis der heutigen Generation, in der nur noch 19 % den Hauptschlussabschluss machen, aber 42 % die Hochschulreife erwerben. Auch wenn diese Bildungsungleichheit fortbesteht, betrifft sie heute, nur bezogen auf die Hauptschule, 20 % der Schüler gegenüber 50 % in den 1960er Jahren.

3. Wiedervereinigung, demographische Entwicklung und PISA: Von der Quantität zur Qualität

Beim Rückblick auf die Hauptstreitpunkte in der Bildungsreformphase der 1960er und 1970er Jahre und die Bildungsentwicklung wird deutlich, dass die bildungspolitische Weichenstellung zur Integration von Mädchen, von Kindern aus den unteren sozialen Schichten (Sozialstruktur) und aus ländlichen Regionen in das weiterführende Bildungssystem im Wesentlichen nicht durch die Entwicklung einer flächendeckenden Gesamtschule für alle Kinder erreicht wurde, sondern durch die Veränderung der Bildungsangebote und Lehrpläne innerhalb des bestehenden Schulsystems. Bis zur Wiedervereinigung besuchten etwa 3 % aller Schüler und Schülerinnen im 8. Schuljahr eine Gesamtschule, und 2010 waren es rund 10 %. Eindeutiger Verlierer dieser Entwicklung ist die Hauptschule, die heute im Durchschnitt noch von etwa 15 % der Kinder in diesem Alter besucht wird; Gewinner war das Gymnasium mit heute etwa 38 % Schülerinnen und Schülern in diesem Jahrgang.

Die starke Stellung des Gymnasiums in Deutschland ist gut nachvollziehbar, weil das Abitur in allen Bundesländern weiterhin die wichtigste Eingangsvoraussetzung zum Studium ist, während andere europäische Länder auf Eingangsprüfungen setzen. Allerdings täuschen diese Zahlen über die Variation der Schulstrukturen zwischen dem 10. und 16. Lebensjahr in Deutschland hinweg. Denn in den 1970er und 1980er Jahren konzentrierte sich der Hauptstreitpunkt um die Schulstruktur auf die Frage, ob vier oder sechs Jahre gemeinsames Lernen richtig seien (Sekundarstufe 1), während die Ausdifferenzierung der letzten drei Schuljahre (Sekundarstufe 2) in verschiedene Schwerpunkte von praktischer Ausbildung in der Berufsausbildung bis zum humanistischen Gymnasium in der gymnasialen Oberstufe kaum kontrovers war.

Nach der Wiedervereinigung entwickelten die neuen Bundesländer, v. a. Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, eine Innovation, indem sie in einem Schultyp mit mehreren Bildungsgängen – in Sachsen die Mittelschule, in Thüringen die Regelschule und in Sachsen-Anhalt die Sekundarschule – die Realschule und die Hauptschule unter einem Dach vereinten. Angesichts der demographischen Entwicklung (Demographie) in den neuen Bundesländern wie auch in den westdeutschen Flächenländern hat dieser Schultyp eine gewisse Attraktivität, weil damit eine größere Wohnortnähe erreicht wird; inzwischen findet er sich in verschiedenen Varianten auch in westdeutschen Bundesländern.

Heute wird die Sekundarstufe 1 (Klassen 5 bis 10/11 bis 16 Jahre) nach Schularten mit zwei (Hauptschule/Realschule) oder drei Bildungsgängen (Gesamtschule) und dem Gymnasium differenziert.

Dass Bildungsgerechtigkeit und Schulstruktur nicht unbedingt in einer kausalen Beziehung stehen, zeigen die Studienberechtigungsquoten. In Baden-Württemberg mit einem dreigliedrigen System erreichen 44 % die Studienberechtigung, in Mecklenburg-Vorpommern mit einem zweigliedrigen System insgesamt 31 % und in Nordrhein-Westfalen mit einem dreigliedrigen System plus Gesamtschule 52 %. V. a. der Vergleich vom Baden-Württemberg und Bayern macht deutlich, dass Schulstruktur und Gerechtigkeit beim Zugang zum Studium in keinem Zusammenhang stehen: In Bayern wurden im gleichen Zeitraum 10 % weniger Kinder zum Abitur geführt, während in Baden-Württemberg trotz dreigegliedertem Schulsystem ein Drittel dies auf der Basis einer sequenziellen Durchlässigkeit der Verknüpfung von Berufsausbildung und Abitur erreichte.

Vermutlich wird die demographisch bedingte Verringerung der Schülerzahlen weiter dazu beitragen, dass zunehmend auch in anderen Bundesländern mehrere Bildungsgänge in der Sekundarstufe 1 unter einem Dach zusammengefasst werden, weil ein ausdifferenziertes System mit verschiedenen nebeneinander bestehenden Schultypen, v. a. im ländlichen Raum, dazu führt, dass die Bildungschancen wie schon in den 1950er und 1960er Jahren von der Wohnortnähe der Bildungsangebote abhängen.

Trotz aller immer noch in den einzelnen Bundesländern bestehenden Kontroversen um die Gestaltung der Sekundarstufe 1 und natürlich trotz der Kontroverse um die Dauer des Gymnasiums (8 oder 9 Jahre) hat die Debatte um die richtige Schulform und die notwendige Zahl der Abiturienten an Bedeutung verloren. Das hängt zum einen mit der höheren Durchlässigkeit zusammen, aber auch damit, dass heute die B. immer noch in die Zuständigkeit der KMK und der Bildungsministerien der Bundesländer fällt.

Hingegen hat die wachsende Bedeutung der international vergleichenden Bildungsforschung und der dahinter stehenden Organisationen (OECD) sowie die Europäisierung von Bildungszielen zu einem fast ebenso großen Strukturwandel im Bildungsbereich geführt wie die sogenannte Bildungskatastrophe der 1960er Jahre. Denn die Bildungsforschung unter dem Dach der OECD konnte durch die international vergleichende Analyse naturwissenschaftlicher, sprachlicher und mathematischer Kompetenzen zeigen, dass der prozentuale Anteil der Abiturienten an der Bevölkerung nicht notwendigerweise als Indikator für die Entwicklung dieser Kompetenzen in den jeweiligen Bundesländern oder in den einzelnen Nationen angesehen werden kann. Auch zeigte sich, dass die Schulstruktur nicht unbedingt einen zuverlässigen Prädiktor für die Entwicklung von Kompetenzen von 15-Jährigen bildet. Denn Länder mit geringem Abiturientenanteil wie Bayern können bei ihren Leistungen mit den europäischen Spitzenreitern wie Finnland mithalten, während sich Länder mit einem hohen Abiturientenanteil wie Bremen am Schluss der Tabelle befinden. Mindestens ebenso wichtig war aber das Ergebnis, dass im zweigliedrigen Schulsystem in Sachsen genau so hohe Leistungen zu erzielen sind wie im dreigliedrigen Schulsystem mit hoher Selektion in Bayern.

Der öffentliche Diskurs dieser Ergebnisse hat ebenso wie die öffentliche Debatte um die Bildungskatastrophe in den 1960er Jahren dazu beigetragen, dass die Frage einer gemeinsamen, an Kernkompetenzen orientierten Entwicklung der Curricula (Kerncurriculum KMK 2010) zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Zudem wurde ein System des Kompetenzvergleichs in der Bundesrepublik etabliert, bei dem die Entwicklung und das Ausschöpfen von Begabungsreserven nicht mehr von der Zahl der Abiturienten oder Hochschulabsolventen abhängt, sondern von den im ganzen Bundesgebiet vergleichbar gemessenen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen. Da sich Wissenschaft und B. auf die Inhalte der zu messenden Kompetenzen geeinigt haben und immer wieder einigen, ergibt sich aus diesem Verfahren auf Dauer bei allem Variantenreichtum von Lehrplänen und Schulformen notwendigerweise ein Kerncurriculum, um sicherzustellen, dass sich auch die schwächeren Bundesländer den besseren annähern.

Gleichzeitig spielen heute in der deutschen B. Europa und eine europäisch orientierte gemeinsame B. eine ganz andere Rolle als noch in den 1990er Jahren. Denn auf europäischer Ebene werden zunehmend generelle Ziele formuliert, wie etwa der Anteil derjenigen, die in einem bestimmten Lebensalter zur Schule gehen. Oder auch das möglicherweise noch viel wichtigere Ziel, ob und inwieweit es dem Bildungssystem in den einzelnen Ländern gelingt, die Zahl derjenigen möglichst gering zu halten, die im Alter zwischen 18 und 24 Jahren weder in Ausbildung sind, noch die Schule besuchen oder studieren noch arbeiten („NEET“, Not in Education, Employment or Training). Auch Fragen der vorschulischen Erziehung und der Anteil der Kinder in entsprechenden Einrichtungen sind inzwischen zu europäischen Vorgaben geworden.

Am stärksten haben die Universitäten diese Europäisierung durch den Bologna-Prozess (Hochschulpolitik) erlebt. Dahinter stand die Idee, durch vergleichbare Abschlüsse in ganz Europa ein Hochschulsystem in Europa zu entwickeln, das den Studienwechsel zwischen Neapel und Helsinki ebenso leicht ermöglicht wie zwischen Berlin und Potsdam.

Beide Vorstellungen, zum einen klare Zielvorgaben für die Integration der nachwachsenden Generation in das Berufsleben und den Arbeitsmarkt und zum anderen die Vorstellung einer europäischen Mobilität mit vergleichbaren Bildungspatenten, haben in Deutschland allerdings auch zur Konsequenz, dass gegenüber der Kulturhoheit der Bundesländer das Bundesministerium für Bildung und Forschung zunehmend an Bedeutung gewinnt und weiter gewinnen wird; bisher ist es primär für die großen Forschungseinrichtungen in Deutschland tätig gewesen sowie in der Gesundheitsforschung oder der Exzellenzinitiative und verwaltet die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Helmholtz-Gesellschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft. Die internationale B., die lange Zeit wesentlich auf die Akademisierung als Königsweg zur Ausschöpfung aller Begabungsreserven gesetzt hat, orientiert sich zunehmend am Modell der Integration junger Erwachsener in den Arbeitsmarkt durch berufliche Bildung, was in die Zuständigkeit dieses Ministeriums fällt, und damit die zunehmende Internationalisierung auch zu einer Europäisierung von Bildungszielen führt.

Auf all diese Veränderungen haben der Bund und die Länder durch die gemeinsame Entwicklung einer Reformagenda reagiert und sich miteinander darauf verständigt, am Ziel der Chancengerechtigkeit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) in der Wissensgesellschaft festzuhalten, eine bessere Verzahnung von frühkindlicher (Früherziehung) und schulischer Bildung zu erreichen, die Kinder v. a. in ihrer Sprachentwicklung zu fördern, die naturwissenschaftlichen Fächer zu stärken, die Ausbildungschancen für Schülerinnen und Schüler zu erhöhen, die beruflichen Qualifikationen zu verbessern und die akademische Bildung und das lebenslange Lernen zu stärken. Dabei wird an der bundesstaatlich-föderalen Ordnung (Föderalismus) festgehalten; auf Dauer sollen gemeinsam rund 10 % des BIPs für Bildung und Forschung investiert werden.