Religiöse Erziehung

  1. I. Pädagogische Aspekte
  2. II. Theologische Aspekte

I. Pädagogische Aspekte

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1. Pädagogische Einordnung und Grundlagen

Ganz allgemein wird heute die Auffassung vertreten, dass r. E. in einem weiten Sinne zu verstehen ist. Es geht nicht nur um einen intentionalen Vorgang, sondern auch um die allgemeine, kulturell und sozial bedingte Sozialisation sowie um die individuelle Entwicklung. Auch das Verhältnis zwischen r.r E. und religiöser Bildung ist fließend, da Bildung im heutigen erziehungswissenschaftlichen Verständnis keineswegs auf formellen Unterricht beschränkt ist, sondern auch die bereits in frühester Kindheit einsetzende Selbstwerdung umfasst. Genau dabei spielt die religiöse Dimension eine bedeutsame Rolle.

Unterschiedliche Sichtweisen machen sich bei der Abgrenzung von r.r E. bemerkbar. Häufig wird r. E. pädagogisch als ein besonderer Bereich angesehen, der durch einen expliziten Bezug auf Religion gekennzeichnet ist. Diese Bestimmung bleibt jedoch insofern unzureichend, als religiöse Fragen vielfach Erziehung und Bildung insgesamt berühren, etwa im Blick auf Sinnorientierungen, Werte und Menschenbild. Ein weites Verständnis, das r. E. als eine allgemeine Dimension von Erziehung und Bildung versteht, erweist sich deshalb als angemessener. Von r.r E. ist demnach überall dort zu sprechen, wo es pädagogisch explizit oder implizit um letzte Fragen von (letztem) Sinn und von (grundlegenden) Werten geht.

Damit ist auch aufgenommen, was empirisch-gesellschaftlich in Deutschland und Europa immer bedeutsamer wird: R. E. ist nicht einfach mit christlicher Erziehung gleichzusetzen, sondern hat in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern eine vielfältige Bedeutung. Religiös erzogen wird auch i. S. v. Judentum, Islam usw. Ebenso ist Konfessionslosigkeit nicht einfach mit Religionslosigkeit gleichzusetzen. Dabei ist allerdings der Unterschied zwischen religiösen und etwa materialistischen und atheistischen weltanschaulichen Auffassungen zu beachten, der in seinen pädagogischen Implikationen noch wenig untersucht ist.

Auch unter dem Aspekt der Wertebildung ist von einem weiten Verständnis auszugehen: Die r. E. trägt in vieler Hinsicht zur Aneignung von Werten bei, die auf Erziehung und Bildung insgesamt ausstrahlen. Ähnliches gilt auch im Blick auf die Sicht des Menschen: Soweit Erziehungstheorien anthropologisch reflektiert werden, tritt dies bei den jeweils vorausgesetzten Auffassungen vom Menschsein und deren oft religiös-weltanschaulicher Begründung deutlich hervor.

2. Institutionen der religiösen Erziehung

Auch wenn heute weithin von einer nachlassenden religiösen Familiensozialisation gesprochen wird, bleibt die Familie doch der erste Ort der r.n E. Die bereits in früher Kindheit einsetzenden Erziehungs- oder Sozialisationsprozesse wirken sich, allen empirischen Befunden zufolge, auch langfristig aus, im Jugend- ebenso wie im Erwachsenenalter. Das gilt auch für den Fall, dass eine r. E. ausbleibt. Naturgemäß fällt es schwer, wissenschaftlich verlässliche Befunde zur r.n Familien-E. zu gewinnen. Als geschützter Privatraum entzieht sich die Familie weitgehend einer wissenschaftlichen Aufhellung.

Wenig Zweifel besteht allerdings daran, dass Familien sich heute nur selten an kirchlichen Erwartungen orientieren oder für eine Kirchenbindung der Kinder sorgen wollen. Angebote in kirchlicher Trägerschaft gewinnen daher für die r. E. an Gewicht. In der Gemeinde handelt es sich dabei in der Kindheit um den Kindergottesdienst sowie die Vorbereitung auf die Erstkommunion – seit neuerer Zeit gibt es mitunter auch auf evangelischer Seite einen ersten Teil der Konfirmandenarbeit im Grundschulalter. Im Jugendalter sind es dann die Konfirmandenarbeit sowie die Firmenvorbereitung, die einen engen Kontakt zwischen Kirche und jungen Menschen begründen. Dazu kommen noch vielfältige Formen kirchlicher Kinder- und Jugendarbeit.

Ebenfalls in hervorgehobener Weise zu nennen sind Tageseinrichtungen für Kinder in kirchlicher Trägerschaft (in Deutschland steht fast die Hälfte dieser Einrichtungen in einem solchen Trägerverhältnis, Kindertagesstätte), die einen speziellen Auftrag zur r.n E. wahrnehmen. In einem allg.eren Sinne gilt dieser Auftrag auch für Tageseinrichtungen für Kinder etwa in kommunaler Trägerschaft.

Die kontinuierlichste Form einer religiösen Begleitung bietet der schulische Religionsunterricht, der unter Beteiligung fast aller evangelischer und katholischer und in (noch langsam) zunehmendem Maße auch muslimischer Kinder erteilt wird. Dem Verständnis der Schule entspr. stehen dabei weniger Erziehungs- als Bildungsaufgaben im Zentrum. Kinder und Jugendliche sollen religiös urteilsfähig werden, was heute auch von den Kirchen bejaht wird. Darüber hinaus spielen zunehmend Aufgaben interreligiöser Bildung eine zentrale Rolle für diesen Unterricht.

Erst in neuerer Zeit ist die pädagogische Bedeutung ehrenamtlichen Engagements (Freiwilligenarbeit) in der Kirche v. a. im Jugendalter auch im Blick auf die r. E. und Bildung der ehrenamtlich Tätigen selbst bewusst geworden. Entsprechende Untersuchungen belegen, dass ein solches Engagement als ein überaus wirksamer Faktor der religiösen Sozialisation anzusehen ist und sich bspw. auch in Gestalt einer ausgeprägteren Kirchenbindung auswirken kann.

Insgesamt kann sowohl im katholischen als auch im evangelischen Bereich von einem institutionell breit verankerten Angebot r.r E.s- und Bildungsmöglichkeiten ausgegangen werden. Die z. T. eindrückliche Vitalität der verschiedenen Angebote kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beteiligungsraten keineswegs in jedem Falle gesichert sind und dass institutionelle Angebote nicht immer zu einer ausreichend wirksamen r.n E. und Bildung führen. Entscheidend ist nicht, was angeboten wird – am Ende kommt es immer darauf an, in welchem Maße und mit welcher Qualität die Kinder und Jugendlichen tatsächlich erreicht werden.

3. Formen und Konzeptionen

Die r. E. hat Teil am Wandel der gesellschaftlichen Voraussetzungen, und sie trägt selbst bei zu diesem Wandel, wobei auch theologische Zielsetzungen eine Rolle spielen. Das gilt sowohl für die Familienerziehung als auch für den Religionsunterricht, allerdings in unterschiedlicher Weise.

Für die Familienerziehung wird ganz allgemein ein Übergang vom Befehlen und Gehorchen zum Verhandeln beobachtet, der sich auch auf die r. E. erstreckt. Autoritätsbestimmte Formen werden seltener, auch in Entsprechung zu religionspädagogischen Forderungen, und die Orientierung an kirchlichen Vorgaben ist rückläufig. Im Zentrum steht nun das Recht des Kindes, hier als Recht des Kindes auf Religion und religiöse Begleitung, wobei schon im Begriff der Begleitung die veränderte Erziehungsauffassung zum Ausdruck kommt.

Im unterrichtlichen Bereich entspricht dem das Abrücken von traditionellen Formen der Unterweisung, die auf die Vermittlung eines Katechismuswissens zielen. Religiöses Lehren und Lernen sollen nun kind- und subjektorientiert sein, mit Anschlüssen an die Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen sowie lebensbedeutsam und lebensweltorientiert.

Zugleich treten neue Herausforderungen in den Vordergrund, die hier nur beispielhaft genannt werden können:

a) Im vielfach als Konflikt erfahrenen Verhältnis zwischen Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft etwa im Blick auf die Evolutionstheorie (Evolution) werden grundlegende Spannungen zwischen Glauben und Wissen deutlich. Daran kann auch ein zeitgemäßer Religionsunterricht nicht vorbeigehen.

b) Ähnliches gilt im Blick auf die konfessionelle und religiöse oder weltanschauliche Pluralität, die immer mehr zuzunehmen scheint. Dabei spielen innere und äußere Veränderungen wie religiöse Individualisierung und Migration im Zuge der Globalisierung eine wichtige Rolle. Pluralitätsfähigkeit ist deshalb ein eigenes Bildungsziel geworden, auf das die r. E. bezogen sein muss. Formen der ökumenischen Kooperation (Ökumene), etwa in Gestalt eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts, werden auch kirchlich ermöglicht und ausdrücklich begrüßt.

c) Der Einfluss digitaler Medien ist allgegenwärtig und stellt auch Schule und Unterricht vor neue Herausforderungen. Wie er sich auf die r. E. und Entwicklung auswirkt, ist bislang noch wenig erforscht. Außer Zweifel steht aber, dass die Befähigung zu einem kritischen Umgang mit den Medien zu einem unausweichlichen Erziehungs- und Bildungsziel geworden ist, das auch bei der r.n E. beachtet werden muss.

Solche Herausforderungen betreffen alle Formen der r.n E. Konzeptionelle Differenzen werden in dieser Hinsicht kaum diskutiert. Unterschiedliche Konzeptionen spielen v. a. dort eine Rolle, wo etwa kirchliche und pädagogische Auffassungen in Ausgleich zu bringen sind oder wo es um religionsunterrichtlich-didaktische Fragen geht. In diesem Falle konkurrieren verschiedene Konzeptionen schon im Blick auf Grundlegungsfragen: Soll der Religionsunterricht noch konfessionell sein oder eher neutral-religionskundlich? Soll die Kirche im schulischen Religionsunterricht mitwirken? usw. Noch weiter reichende Debatten betreffen die Ausgestaltung des Unterrichts: Korrelationsdidaktik, Symboldidaktik, performative Didaktik, konstruktivistische Didaktik, Kinder- und Jugendtheologie, um nur einige Beispiele zu nennen. Wie stark der Religionsunterricht zur r.n E. beiträgt, hängt immer auch von der gewählten Konzeption ab.

II. Theologische Aspekte

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Für Religions- und Glaubensgemeinschaften ist r. E. ein Lebensnerv. Alle Religionen wollen ihre Lehren, moralischen Vorstellungen und gelebten Praktiken an die kommenden Generationen weitergeben, um sich selbst durch die Geschichte hindurch zu tradieren. Schon die Begriffe Tradition bzw. Überlieferung implizieren E., die entweder intentional durch bestimmte E.s-Institutionen oder sozialisatorisch durch Erleben, Mitleben und Hineinwachsen erfolgt (z. B. religiöse Familiensozialisation). In den monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam geben bereits die biblischen und koranischen Ursprungstexte deutliche Hinweise für eine Pflicht zur E. Dabei werden inhaltliche Vorgaben gemacht (Glaubenslehren, Gottesvorstellungen, Menschenbilder, Erzählungen), ebenso sind Fragen der Lebensführung, der rituellen Handlungen und moralischen Anweisungen im Fokus. R. E. wird traditionellerweise als Vermittlung überlieferter Glaubenstraditionen im Horizont der Beziehung zu Gott verstanden. Heute wird r. E. stärker als Ermöglichung einer religiösen Lebensführung gedeutet, die die Freiheit des lernenden Subjekts respektiert und Mündigkeit in religiöser Hinsicht intendiert.

1. Religiöse Erziehung in Judentum, Christentum und Islam

Das Judentum kann als „Religion des Lernens“ (Krochmalnik 2017: 155) bezeichnet werden. Schon für das biblische Israel waren E., Lehren und Lernen unerlässliche Elemente für die Identität. Schlüsseltexte der r.n E. sind u. a. Dtn 6,4–12 und Dtn 6,20–25, in denen der Auftrag zur Weitergabe der Grunderzählung (Exodus als Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten) und des Glaubensbekenntnisses („Höre Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig“ [Dtn 6,4]) an die nächste Generation eingeschärft wird. Die Torah bzw. die ganze hebräische Bibel (Tanach) soll jederzeit erzählt, gelernt, beherzigt werden (z. B. Dtn 31,10–13). Torah wird als Weisung verstanden, die durch E. zum Prinzip der gesamten Lebensführung werden soll. Das Tun der Torah steht im Mittelpunkt r.r E.

Neben der familiären E. bildet sich in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung und danach eine rege Tradition der jüdischen Gelehrsamkeit heraus, die die Auslegung der Torah (Midrasch, Talmud etc.) pflegt. So entsteht ein breit gefächertes System des Unterrichtens in den Heiligen Schriften, das in den rabbinischen Schulen des Mittelalters (Cheder, Jeschiwah) seine Fortführung fand. In den osteuropäischen jüdischen Richtungen (z. B. dem Chassidismus) lebte diese Form des gelehrten Schulwesens bis zur Vernichtung im Holocaust fort. In den westeuropäischen Ländern entstand durch die jüdische Aufklärung (Haskala) im 18. und 19. Jh. ein E.s- und Bildungsideal, das sich neben der jüdischen Tradition auch auf nichtjüdische Inhalte und Lebensformen bezog (abendländische humanistische Bildung). Bis heute bleibt indes die Bedeutung familialer r.r E. unstrittig (z. B. Feier des Schabbat und der jüdischen Jahresfeste in der Familie).

Das Christentum knüpft an die alttestamentliche E.s- und Lerntraditionen an und deutet sie im Blick auf die Person Jesus Christus neu. Jesus wird im NT mehr als 50 Mal als Lehrer (didaskolos) bezeichnet, Erfahrungen werden im Licht der Torah religiös gedeutet und tradiert, Kinder werden hochgeschätzt, die Reich Gottes-Botschaft (Reich Gottes) wird verkündet. All dies zeigt, dass auch das Christentum eine „Bildungsreligion“ (Söding 2016) darstellt. In den ersten Jahrhunderten nach Christus entsteht der Begriff der Katechese, der für christliches Lehren und Lernen im Beziehungsraum der Kirche steht. Die weitere Geschichte der christlichen E. ist geprägt von dem Zusammenspiel familiärer r.r E. und Sozialisation durch ein kirchlich geprägtes Umfeld. Allein die r. E. der Eliten erfolgt ab dem frühen Mittelalter in Klosterschulen. Nach der E.s- und Bildungsoffensive von Reformation und Aufklärung entstehen christlich-konfessionelle E.s-Einrichtungen, die bis heute eine bedeutende Rolle spielen.

Im Islam sind die Aufgaben der E., des Lehrens und Lernens fest im Koran verankert. „Verschiedene Koranverse lassen keinen Zweifel daran, dass die Bildung des Menschen durch die Offenbarung als primäre Intention des Islam betrachtet werden muss“ (Sejdini 2017: 192). Deshalb werden Kinder und Jugendliche im Islam neben der familiären r.n E., die v. a. in die muslimische Lebensweise (Speisevorschriften, Fasten an Ramadan, Almosen etc.) einführt, zum Lernen von Koranversen und Grundgebeten angeleitet. So kam es auch in muslimischen Ländern zur Ausbildung eines Schulwesens, das sich traditionell in Form von Koranschulen etablierte, im Zuge der Modernisierung jedoch auch Schulen hervorbrachte, die an westlichen Bildungsidealen anknüpfen. In Europa kommt es seit wenigen Jahrzehnten zur Ausbildung einer muslimischen Reflexionsinstanz der r.n E., die sich als muslimische Religionspädagogik formiert. Auch der Islam hat in der säkularen Welt mit den Problemen der zunehmenden Distanz junger Menschen von religiösen Inhalten und Institutionen zu kämpfen.

2. Ziele und Zukunft religiöser Erziehung

In der sich wandelnden Gesellschaft (Pluralisierung, Globalisierung, Digitalisierung etc.) wandeln sich auch Formen und Inhalte r.r E. In Familien wird häufig offen und mit dem Ziel der eigenen Entscheidungsfähigkeit religiös erzogen, ebenso in Kindertagesstätten und im schulischen Religionsunterricht. In allen Fällen stehen neben den Inhalten die Beziehungsaspekte im Vordergrund: R. E. bedeutet Sensibilisierung für die Beziehung zu sich selbst, zu anderen, zur Welt, in der wir leben, zur Zeit und zu Gott, wobei die Gottesbeziehung alle anderen Beziehungsdimensionen durchdringt. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Jugendliche sich weitaus stärker mit religiösen Themen auseinandersetzen und sich als gläubig verstehen als üblicherweise angenommen wird. Entscheidend für die Zukunft religiösen Lernens ist deshalb, dass junge Menschen in ihren religiösen Fragen, Hoffnungen und Zweifeln kompetent begleitet werden. Somit wird r. E. künftig neben dem Lehr-Lernarrangement ein Beziehungs- und Begleitungsangebot darstellen müssen.