Mode

  1. I. Soziologische Aspekte
  2. II. Mode und Moden: Pädagogische Perspektiven

I. Soziologische Aspekte

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Sowohl in der Lesart „M. = Kleidung“ als auch im weiter gefassten Verständnis von M. als einem System schnelllebiger Geschmackswandlungen in unterschiedlichen Lebensbereichen (Konsum, Kunst, Literatur etc.) spiegelt sich die Fähigkeit des Menschen, seine materiellen, gedanklichen und ästhetischen Hervorbringungen bewusst wahrzunehmen, zu kontrollieren und gesellschaftlich an sich wandelnden expressiven Ordnungen auszurichten. Prinzipiell jeder Selbstausdruck vermag so unter dem Eindruck wechselseitiger Erwartungserwartungen reflektiert und umgeformt werden. Letztlich ist die Selbstdarstellung des Menschen in der Gesellschaft von einer sich rasch verselbständigenden „Kraft“ abhängig, die wir mit dem „schlichten Wort Mode“ (König 1971: 18) bezeichnen. M. ist das Produkt wechselseitiger sozialer Orientierung und zugleich Bestandteil der diese Orientierung prägenden gesellschaftlichen Kultur.

1. Historische Entwicklungen

Dementsprechend sucht sich M. je nach historischer Situation und gesellschaftlicher Lage unterschiedliche Ausprägungen. Drei der markantesten Entwicklungen, mit denen sich die M.-Soziologie in ihren Erklärungsversuchen konfrontiert sah und sieht, sind a) die strukturelle Demokratisierung der M. seit Beginn des 19. Jh., b) die Genese neuartiger M.-Formen und -Ästhetiken in der zweiten Hälfte des 20. Jh. (bubble up-Phänomene) sowie c) die fortschreitende Medialisierung der M., u. a. infolge des Bedeutungszuwachses sogenannter sozialer Medien.

a) Während die europäischen Kleiderordnungen des Mittelalters äußerst restriktiv auf Versuche des Bürgertums (Bürger, Bürgertum) reagierten, gesellschaftliche Darstellungsformen des Adels zu übernehmen, so dass M. gesellschaftlich lange Zeit ein Oberschichtenphänomen blieb, ist seit dem beginnenden 19. Jh. ein gesamtgesellschaftlicher Bedeutungszuwachs der M. zu beobachten. In der Literatur wird dieser Zuwachs und die mit ihm einhergehende Beschleunigung des gesellschaftlichen M.-Wandels als strukturelle Demokratisierung beschrieben. Solcherlei Demokratisierung ist indes nicht mit „gleichberechtigter Teilhabe“ zu verwechseln, denn nach wie vor wird M. als „Klassenmode“ (Simmel 2015: 6) gelebt und verstanden, d. h. als Ausdruck einer Orientierung an „oberen“ Schichten.

b) Die theoretische Beschreibung von M. als Klassen-M. gerät in der zweiten Hälfte des 20. Jh. unter dem Eindruck sogenannter bubble up-Phänomene (Kawamura 2005: 105) in Kritik. Aufmerksamkeit finden nunmehr die veränderten Entwurfs- und Vertriebstechniken des prêt-à-porter, die ideelle Aufwertung von Alltagskleidung (casual wear) sowie die mediale Nobilitierung verschiedener Ästhetiken des Hässlichen (mode destroy, heroin chic etc.). Barbara Vinken vertritt die These, dass die von ihr so bezeichnete „Mode nach der Mode“ (Vinken 1993) ihre Formensprache gesellschaftlichen Protestbewegungen, der Straße oder Außenseiterexistenzen entlehnt und tradierte Ordnungsvorstellungen und Rollenmuster (Klasse, Geschlecht) zu negieren vermag.

c) Mit dem Bedeutungszuwachs sogenannter sozialer Medien (Social Media) prägen sich neuartige Formen und Relevanzen der gesellschaftlichen Beobachtung von M. aus. Soziologisch noch wenig untersuchte Phänomene wie M.-Blogs oder Streetstyle treten nicht nur in Konkurrenz zu bewährten M.-Institutionen (Zeitschriften, M.-Häuser, klassische M.-Fotografie), sondern stellen kommunikativ und ästhetisch neuartige Zentren der gesellschaftlichen Emergenz von M. dar.

2. Theoretische Erklärungsversuche

Grundlegende Variablen der soziologischen Erklärung von M. wie die der „Nachahmung“ (Tarde 2003), „des demonstrativen Konsums“ (Veblen 2000: 91) oder der „Konkurrenz“ (Sombart 2018: 121) wurden bereits zu Beginn des 20. Jh. formuliert. Als bis heute wirkmächtig erwies sich insb. die auf Georg Simmel u. a. zurückgehende Annahme einer inhaltlichen Beliebigkeit bzw. Zufälligkeit von M.

G. Simmel versuchte den Wechsel gesellschaftlicher M.n durch einen im Kern anthropologisch bedingten Widerstreit von „Egalisierungs- und […] Individualisierungstrieb“ (Simmel 2015: 42) im menschlichen Sozialverhalten zu erklären. M. versteht er, soziologisch-formal, als Nachahmung gesellschaftlich vorgegebener Muster; M. genügt damit dem menschlichen Bedürfnis nach sozialer Anlehnung. Zugleich befriedigt sie aber auch das korrespondierende Bedürfnis nach sozialer Abgrenzung. Letzteres gelinge ihr, so G. Simmel, durch die Wechsel eben jener Inhalte, die die aktuelle M. von der ihr vorausgehenden und nachfolgenden abhebt. Das gesellschaftliche Interesse an M. begründet sich aus dieser Perspektive weniger in ihren Inhalten (ihren Themen, Stilen, Haltungen), als vielmehr im raschen Wechsel dieser Inhalte.

Die Annahme solch einer inhaltlichen Beliebigkeit bzw. Zufälligkeit von M. hat bis heute in vielen M.-Theorien einen axiomatischen Stellenwert erlangt. So etwa in der Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus, die M. als eines jener „Kräftefelder“ (Bourdieu 1974: 75) beschreibt, auf denen der „symbolische Kampf“ (Bourdieu/Delsaut 1975: 175) zwischen „Alteingesessenen“ und „Hochgekommenen“ (Bourdieu 1993: 188) ausgetragen wird, oder in der soziologischen Systemtheorie, die der M. die Eigenschaft zuspricht, soziale Orientierungsunsicherheiten in modernen Gesellschaften durch die Bereitstellung eines Orientierungssystems zu kompensieren, das sachlich und inhaltlich indifferent, d. h. in unterschiedlichste Richtungen anschlussfähig ist.

Da das Axiom der inhaltlichen Indifferenz und Kontingenz von M. kaum noch eine Beschreibung der Besonderheit einzelner historischer, sozialer und medialer M.-Entwicklungen erlaubt, wird in jüngerer Zeit wieder eine stärkere Orientierung auf ästhetisch-inhaltliche und mediale Aspekte von M. eingefordert.

3. Medien und Ästhetik

Obgleich ihre Bedeutung für die Organisation des Alltagslebens nicht zu unterschätzen ist, ist M. immer auch ein Akt partieller Grenzüberschreitung, d. h. ein Gegenentwurf zu bis dato geltenden expressiven Ordnungen. Gerade dies unterscheidet M. als ästhetisches Phänomen von der Unauffälligkeit konventionalisierter Darstellungs- und Kommunikationsformen. Die Infragestellung ständischer Kleiderordnungen durch unbotmäßiges bürgerliches Verhalten ist in diesem Sinne ebenso ein M.-Phänomen, wie das Spiel mit vestimentären Gendernormen (Gender) im modernen M.-Design oder die M.-Kunst prominenter Courtiers. Für das Verständnis von M. entscheidend ist in jedem Fall die Berücksichtigung ihrer Organisationsformen und der Medien, in denen sie gesellschaftlich real wird (Kleidungsverhalten, Alltagskonversation, Massenmedien, soziale Medien). Denn der potentielle Ausnahmecharakter der M. kann ebenso hinter das „verhüllende Nivellement“ (Simmel 2015: 22) vestimentärer Massenproduktionen zurücktreten, wie er innerhalb medialer oder ritueller Freiräume ins Hyperbolische gesteigert werden kann.

II. Mode und Moden: Pädagogische Perspektiven

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In der Neuzeit findet eine kontinuierliche Ausweitung der Anwendungsfelder des ursprünglich auf den Bereich der Kleidung bezogenen M.-Begriffs statt: es lassen sich sowohl politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, künstlerische, religiöse Phänomene, sofern sie sich als Momentaufnahmen eines Prozesses kontinuierlichen Wandels identifizieren lassen, als M.n benennen. Sie werden in ihrer Summe als Äußerungen des Zeitgeistes assoziiert und etablieren neue Empfindungs-, Verhaltens-, Denk- und Gestaltmuster, die mit neuen Wertungen des Bestehenden einhergehen. Dass das Bedürfnis nach positiver Unterscheidung von anderen mit dem Streben nach Machtzugewinn einhergeht, macht die bes. Problematik von M. und M.n aus. Insofern systematisiert der vorliegende Beitrag zunächst aus ideengeschichtlicher Sicht zentrale neuzeitliche Entwicklungslinien des Begriffs M., die nachfolgend aus einer vorwiegend machtsoziologischen Perspektive anhand der Konstrukte Distinktion und Geschmack fokussiert und schließlich am Phänomen der Bildungsungleichheit kontrastiert werden.

1. Mode(n) als neuzeitlich-modernes Phänomen

Aufkommen, Ausdifferenzierung und Reichweite des M.-Begriffs und die Rede von „M.n“ sind seit dem 16. Jh. eingebettet in die geistesgeschichtlichen Entwicklungslinien der Neuzeit und der Moderne. Der spätmittelalterliche Nominalismus des 15. Jh. hat die Auflösung des mittelalterlichen Essentialismus und des darauf ruhenden Ordo-Denkens eingeleitet. An die Stelle des Primats der Ordnung trat der Primat der Freiheit i. S. d. freien Ordnungssetzung. Damit war erstmals wirklich Neues denkbar, dessen Attraktivität gerade darin bestand, die freie, allererst Ordnungen setzende Schöpfungskraft des Menschen zur Geltung zu bringen, in der sich geradezu seine Würde und seine von vorgegebenen Wesenheiten unabhängige Individualität zeigte. Im Prozess der individualitätsstiftenden Selbstkreation des Menschen kommt der Transformation der eigenen Körperlichkeit mithilfe der wechselnden Art sich zu kleiden seit der Renaissance eine bedeutsame Rolle zu. Sie wird seit dem 15. Jh. mit dem französischen Wort mode (von lateinisch modus: Art und Weise, Maßstab, Regel, Grenze) belegt. Der lateinische Ursprung des Begriffs verstärkt das im M.-Begriff implizierte Moment der Abkehr vom Substantiellen und Beständigen hin zum Veränderlichen und Äußerlichen. Das Phänomen wechselnder M.n wird seit dem 17. Jh. vielfach dem Bereich des bloßen Geschmacks („M.-Geschmack“) zugeordnet, wo es kein „richtig“ oder „falsch“ gibt. Modisches Verhalten als Frage des Geschmacks freilich zieht die Attraktivität des je Neuen der Orientierung an der Beständigkeit des Wesentlichen vor und verfehlt gerade dadurch die ursprüngliche Intention, das Singuläre des Individuellen zur Darstellung zu bringen.

Die im M.-Begriff manifeste Problematik wird seit der Mitte des 17. Jh. auch auf andere Bereiche menschlichen Verhaltens übertragen. Insb. in der Aufklärung wird eine pejorative Rede von „M.n“ – fokussiert auf das Moment der Neuheit – üblich, wie sie sich etwa im Bereich des Betragens, der Sitte, der Moral, der Gewohnheit, der Etikette oder auch des Politischen zeigt. Bereits Christian Garve hat in seiner Theorie der M. wesentliche Einsichten der weiteren Theoriebildung vorausgenommen. Denn M. gehe immer von der gesellschaftlich herrschenden Oberschicht aus, deren Verhaltensweisen nach der Auflösung des festen Gefüges einer Gesellschaft von den unteren Schichten nachgeahmt werden. Die Oberschicht sieht sich daher gezwungen, sich durch Kleidung und Verhalten erneut abzuheben.

Georg Simmel, dessen „Philosophie der Mode“ (Simmel 2015) als eine wegweisende Phänomenologie der M. gelesen werden kann, setzt dem Prinzip der Nachahmung das des Wechsels entgegen, mit dem das Individuum sowohl das Bedürfnis nach sozialer Einbindung wie ebenso das „Unterschiedsbedürfnis“ (Simmel 2015: 6) befriedigen könne. Die schon bei G. Simmel vorgenommene Betrachtung der ökonomischen Aspekte von M. als Bedarfsphänomen veranlasst danach Werner Sombart und Walter Troeltsch, den Geschmack als Orientierungsgröße der Nachfrager wieder in den Vordergrund zu rücken, wie dies später von Pierre Bourdieu weitergeführt wurde.

2. Mode(n), Geschmack und die Illusion der Bildungsgerechtigkeit

Das gesellschaftliche Phänomen M. ist somit untrennbar mit dem neuzeitlichen Geschmacksbegriff verbunden, der sich ab Mitte des 17. Jh. in Europa als Zuschreibung einer besonderen ästhetischen Fähigkeit einbürgerte, das Schöne vom Hässlichen unterscheiden zu können. Insb. Immanuel Kant hat in seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“ (Kant 2016) herausgearbeitet, dass der Geschmack als eine Art „Gemeinsinn (sensus communis)“ (Kant 2016: 74) prinzipiell allen Menschen gegeben ist und dieser unabhängig von Macht oder Moral wirkt, denn dieses rein selbstzweckliche Empfinden gleicht „einem freien Spiele“ (Kant 2016: 54). In kritischer Distanz dazu begreift der Soziologe P. Bourdieu Geschmack in erster Linie als soziale Distinktion, denn Geschmack ist „zunächst einmal Ekel, Widerwille – Abscheu oder tiefes Widerstreben […] gegenüber dem anderen Geschmack“ (Bourdieu 1987: 105; Herv. i. O.) zum Zwecke des Machterhalts oder -zugewinns. Distinktion verstanden als ein Wertungsprozess zielt darauf ab, das Eigene durch die Unterscheidung von einem Anderen aufzuwerten und das Andere zu deklassieren. In seiner Theorie kulturell reproduzierter Klassenunterschiede, die für erziehungswissenschaftliche Erklärungen etwa über Bildungsungleichheit von hohem Wert sind, schreibt P. Bourdieu das geschilderte Nachahmungs- und Erneuerungsstreben fort. M.n als Ausdruck eines bewussten Strebens nach Unterscheidung werden so zum „Motor des Wandels“ (Bourdieu 1987: 367). Das hohe Verdienst P. Bourdieus liegt im Nachweis, wie sich soziale Unterschiede in aktive Distinktionen des Lebensstils und in M.n niederschlagen. Andererseits wird durch seine Analysen deutlich, wie soziale Differenzen in Form unterschiedlichen Geschmacks den Alltag durchdringen und wie dabei der Einfluss von Herrschaft und Macht verschleiert wird. Die Symbole oder Praktiken, an denen die soziale Herkunft deutlich wird, so etwa in Form von präferierten M.-Labels, gelten im Alltag als persönliche Vorlieben oder natürliche Differenzen. Jedoch sind diese Präferenzen Ergebnis eines sozialen Auseinandersetzungsprozesses um die Macht über Systeme, welche die soziale Ordnung bestimmen. Am Geschmack, so P. Bourdieu, entfacht sich der Klassenkampf um soziale, ökonomische und kulturelle Ressourcen und schließlich um die Deutungshoheit über das Richtige, Wertvolle und Legitime. Somit erscheint Geschmack als eine von der sozialen Herkunft abhängige Kulturtechnik, welche insb. durch das Bildungssystem sanktioniert wird, und so systematisch Ungleichheiten institutionalisiert und reproduziert. Insofern lassen sich Erfolge im Bildungssystem nicht mehr nur durch intellektuelle Unterschiede erklären, vielmehr ist die soziale Herkunft entscheidend. Die bereits 1971 durch P. Bourdieu und Jean-Claude Passeron nachgewiesene „Illusion der Chancengleichheit“ wird nicht nur in den großen Bildungsstudien wie PISA oder TIMSS repliziert, auch die Sozioonomastik, die sich mit dem Zusammenhang von Namen und sozialer Lage beschäftigt, liefert vermehrt Belege dafür, dass Lehrkräfte mit den Vornamen ihrer Schüler bereits eine konkrete Diagnose verbinden: „Kinder, denen man weniger zutraue, würden strenger korrigiert – und damit benachteiligt“ (Nübling/Fahlbusch/Heuser 2015: 137).