Bioökonomie

1. Defintion und Potentiale

Geprägt wurde der Begriff „B.“ von dem Genetiker Juan Enríquez-Cabot. Dieser definiert sie als „den Bereich der Wirtschaft, der neues biologisches Wissen zu kommerziellen und industriellen Zwecken nutzt“ (Enríquez-Cabot 1998: 925 f.). Der 2009 gegründete B.-Rat der deutschen Bundesregierung definiert B. als „wissensbasierte Erzeugung und Nutzung biologischer Ressourcen, um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen“ (BMBF 2014: 6). Das finanzielle Potenzial der B. in Europa wird auf jährlich 1,5 Billionen Euro geschätzt. Erreicht werden soll dies durch den Zusammenschluss von Unternehmen der Chemie-, Pharma-, Agrar- sowie der Nahrungsmittel- und Energieindustrie. Das erste europäische Forschungszentrum für B. wurde 2010 im nordrheinwestfälischen Jülich gegründet und beteiligt ca. 50 Institute. Durch intensive Förderung ist das Konzept aus der Nische eines spezifischen Forschungsfeldes zu einem Leitkonzept der Land- und Forstwirtschaft sowie der Bio- und Energietechnologie weltweit geworden. Erhofft wird von der B. eine radikale Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch.

Energiepolitisch steht B. für die Nutzung von organischen Substanzen für Strom, Wärme und Kraftstoffe. Dafür wird Biomasse gezielt angebaut (z. B. Zuckerrohr, Mais, Raps) oder es werden pflanzliche Reststoffen (z. B. Restholz, Gülle) genutzt. Energie aus Biomasse kann erzeugt werden durch Verbrennung (z. B. Scheitholz, Hackschnitzel, Pellets), durch Vergasung in Biogasanlagen (z. B. organische Reststoffe, Bioabfälle) und durch Umwandlung in Biokraftstoffe (z. B. kaltgepresstes Pflanzenöl, bes. Raps, Bioethanol aus Zuckerrüben, Getreide oder Kartoffeln). Mit der E10-RL zur Beimischung von Bioenergie zum Benzin haben Energiepflanzen (bes. Raps oder Mais) eine erhebliche ökonomische und politische Dimension gewonnen. Die Bilanz zur weltweit mit großen Hoffnungen verbundenen Bioenergie ist jedoch aus ökologischer und sozialer Sicht höchst ambivalent: Um Bioenergie zu gewinnen, werden Regenwälder gerodet und teilweise Nahrungsanbau verdrängt.

2. Ambivalenzen

Die Spannung zwischen großen Potentialen und vielschichtigen Ambivalenzen prägt die B. Hierzu exemplarisch drei Beispiele:

a) Eine niederländische Forschergruppe (Maastricht University) propagiert als Möglichkeit der B., dass der weltweit wachsende Fleichkonsum in Zukunft statt durch geschlachtete Tiere mittels gentechnisch aus Tierzellen erzeugter Fleischfasern befriedigt werden könnte. Dies hätte weitreichende Vorteile für den Tierschutz, wäre jedoch zugleich eine neue Stufe der Entfernung von dem, was wir als „natürlich“ kennzeichnen und gewohnt sind.

b) Das vertical farming ist eine Verbindung von urban gardening und Intensivlandwirtschaft, die Gemüse- und Getreideanbau sowie Fischzucht in städtischen Hochhäusern in geschlossenen Kreisläufen mit künstlichem Licht statt Sonne, Steinwolle statt Ackerboden, mit wenig Flächenbedarf, optimierter Nährstoffverwertung und minimierten Transportkosten ermöglicht. Nach den Plänen des Mikrobiologen Dickson Despommier soll ein 30stöckiges Treibhaus 50 000 Menschen mit Gemüse, Getreide und Fisch ernähren und jährlich 50 Mio. US-Dollar Gewinn abwerfen. Trotz weltweiter Versuche zu solchen Modellen einer radikal von den bisherigen Formen der Landwirtschaft entkoppelten Form der Lebensmittelerzeugung ist es bisher kaum möglich, die Auswirkungen des vertical farming auf die Ernährungschancen der Armen und die Umwelt abzuschätzen.

c) Das Konzept der Präzisionslandwirtschaft (precision farming) kann mit geobiologischen Informationen ortsgenaue Kartierungen von Bodenzustand, Erträgen und Pflanzenparametern bereitstellen und so die Produktion steigern sowie den Einsatz von Chemikalien minimieren. Bisher ist die Präzisionslandwirtschaft jedoch kapitalintensiv auf Ertragssteigerung ausgerichtet, während ihre Folgen für die armen Kleinbauern sowie für ökologische Wirkungszusammenhänge kaum erforscht sind.

3. Deutungsbedüftigkeit

„B.“ ist ein mehrdeutiger und ethisch-konzeptionell interpretationsbedürftiger Begriff. Er kann sowohl im Sinne einer Ökologisierung der Wirtschaft, also ihrer Einbindung in die Stoff- und Energiekreisläufe der Natur, verstanden werden, als auch im Sinne einer Ökonomisierung der Natur, also einer neuen Qualitätsstufe der konsequenten ökonomischen Verwertung der Naturressourcen durch ein industriell-technisches Paradigma. Bezogen auf die zweite Variante kritisieren Theo Gottwald und Anita Krätzer die B. als „totalitäres Paradigma“ (Gottwald/Krätzer 2014). Bes. umstritten ist der Bereich der synthetischen Biologie, die lebendige, sich selber regenerierende Organismen technisch erzeugt und designet. Als ethisches Postulat lässt sich aus der Vieldeutigkeit des Konzepts ableiten, dass B. nur dann verantwortbar ist, wenn sie über ökonomisch-funktionale In-Wert-Setzung hinaus auch den Eigenwert von Tieren, Pflanzen und Landschaften im Blick behält und in gestufter Weise die verschiedenen Wertdimensionen der Natur durch je angemessene Normen und Strategien schützt.

B. genügt erst dann dem Anspruch der Nachhaltigkeit, wenn sie der technischen Kreativität eine neue Richtung verleiht: Nicht lineare Produktivitätssteigerung, sondern resiliente Einbettung in die komplex vernetzten Wirkungszusammenhänge der Natur ist der angemessene Leitmaßstab für bioökonomischen Fortschritt. Dazu sollte die internationale Forschung zu global boundaries als Bezugsrahmen in der B. stärker Beachtung finden. Im Bereich der Bioenergie kommt aus ökologisch-systemischer Sicht dem „Skalenproblem“ eine Schlüsselbedeutung zu: Bei mehr als 7–10 % Bioenergieanteil am Energiemix überwiegen die negativen Effekte in der ökologischen Gesamtbewertung. Im für die B. zentralen Feld der globalen Ernährungssicherung ist der kritische Faktor nicht das Mengenproblem, sondern der Zugang der Kleinbauern zu lokalen Märkten und zu Boden für den eigenen Anbau. Aus der Sicht christlicher Sozialethik ist im Konflikt zwischen „Tank und Teller“ dem Menschenrecht auf Nahrung und Ernährungssouveränität der Vorrang zu geben.