Kommunikationswissenschaft
1. Begriff und Selbstverständnis
Kommunikation ist ein Begriff, der in unterschiedlichen Wissenschaften wie im Alltag Verwendung findet und über dessen Definition Uneinigkeit herrscht. Kommunikation zwischen Zellen ist Gegenstand der Biologie, Kommunikation zwischen Geräten wird in Ingenieurswissenschaften und Informatik untersucht, zwischenmenschliche Kommunikation in der Psychologie. Je nach Disziplin wird Kommunikation ganz unterschiedlich definiert und verwendet. Eine Disziplin, die sich ganz allgemein K. nennt, muss daher bes. verdeutlichen, was ihren Anspruch auf den Begriff rechtfertigt. Die zuständige DGPuK definiert in ihrem Selbstverständnispapier: „Die Kommunikations- und Medienwissenschaft beschäftigt sich mit den sozialen Bedingungen, Folgen und Bedeutungen von medialer, öffentlicher und interpersonaler Kommunikation. Der herausragende Stellenwert, den Kommunikation und Medien in der Gesellschaft haben, begründet die Relevanz des Fachs. Die Kommunikations- und Medienwissenschaft versteht sich als theoretisch und empirisch arbeitende Sozialwissenschaft mit interdisziplinären Bezügen. Sie leistet Grundlagenforschung zur Aufklärung der Gesellschaft, trägt zur Lösung von Problemen der Kommunikationspraxis durch angewandte Forschung bei und erbringt Ausbildungsleistungen für eine seit Jahren dynamisch wachsende Medien- und Kommunikationsbranche“ (DGPuK 2008: 1).
Die verwendeten Namen signalisieren allein schon die Unsicherheit, was als K. gelten kann. So führt die Fachgesellschaft zusätzlich die „Publizistikwissenschaft“ im Titel. Ihr Selbstverständnis bezieht sich auf die „Kommunikations- und Medienwissenschaft“. Noch uneinheitlicher präsentieren sich die Instituts- und Studiengangsbezeichnungen, unter denen das Fach gelehrt wird. Dort sind nahezu alle möglichen Kombinationen vertreten.
In seinen „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland“ systematisiert der Wissenschaftsrat die Disziplinen rund um Medien und Kommunikation in drei Gruppen: „Im Feld der Kommunikations- und Medienwissenschaften sollten aufgrund divergierender Methoden, Gegenstände, Paradigmen, Terminologien und Traditionen drei Ausrichtungen unterschieden werden: die sozialwissenschaftliche Kommunikationswissenschaft, die Medientechnologie und die kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung“ (Wissenschaftsrat 2007: 7). Letztere wird häufig auch als Medienwissenschaft bezeichnet.
Die hier zu behandelnde K. wäre demnach eine sozialwissenschaftliche Disziplin, die mit den dort üblichen empirischen Methoden Befunde rund um gesellschaftliche Kommunikationsprozesse und -strukturen sammelt. Ihre Relevanz in der Forschung beruht auf der seit Jahrzehnten ungebrochenen Dynamik der Medienentwicklung, ihre Relevanz in der Lehre auf der ungebrochenen Nachfrage der Medienwirtschaft und der sonstigen Medienorganisationen nach Absolventen mit medienrelevanten Qualifikationen. Die Medienentwicklung führt entspr. auch immer wieder zur Entwicklung völlig neuer Berufsfelder. Die Trennung zwischen einer sozialwissenschaftlichen K. und einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft muss notwendigerweise unscharf bleiben, weil gesellschaftliche Kommunikation nach wie vor zu großen Teilen an klassische Massenmedien und neue Onlinemedien gebunden ist. Daher sind Medien als (kollektive) Akteure immer auch Gegenstand der Erforschung gesellschaftlicher Kommunikation. Der dahinterliegende Medienbegriff unterscheidet sich allerdings von fundamentalen Definitionen, nach denen etwa Luft, Wellen, Schrift, etc. Medien sind. Gesellschaftliche oder öffentliche Kommunikation findet überwiegend durch institutionell organisierte Medienorganisationen statt, welche systematisch Informationen sammeln, aufbereiten, verbreiten und ihre Leistungen entspr. abrechnen.
2. Geschichtliche Entwicklung
Vorläufer der modernen K. finden sich bereits im späten 19. Jh. Unter Begriffen wie Zeitungswissenschaft, Zeitungskunde, Publizistik formiert sich ein Kern des Faches, der zunächst aber nur an wenigen Standorten in Deutschland vertreten war. Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg führten das damals noch junge Fach in eine existenzielle Krise. Viele Fachvertreter waren politisch kompromittiert, das Fach erfuhr in der Politik wenig Unterstützung und verfügte über keinerlei oder wenig Infrastruktur. Maria Löblich beschreibt, wie sich das Fach in den sechziger Jahren durch eine empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in weiten Teilen an der amerikanischen Communication Science orientiert, empirische Forschungsmethoden in den Mittelpunkt stellt und auf Theorien mittlerer Reichweite setzt. Diese Wende stellt auch den Ausgangspunkt für einen dynamischen Ausbau der K. an Universitäten und Fachhochschulen dar. Die Forschungsfelder wie auch die Ausbildungsziele sind seither stark durch die Entwicklung neuer Medien bzw. Medientechnologien geprägt worden. Massenhafte Verbreitung des Fernsehens, Pressekonzentration, Einführung des privaten Rundfunks, Durchsetzung elektronischer Speichermedien, Internet und hier später web 2.0-Technologien sind v. a. zu nennen. Durch die technische Entwicklung, v. a. aber durch die Aneignung der neuen Möglichkeiten seitens der Rezipienten hat sich gesellschaftliche Kommunikation nachhaltig geändert. Parallel dazu wird auch die Verfasstheit der Gesellschaft insgesamt berührt. Nutzen oder schaden bspw. soziale Netzwerke wie Facebook der Demokratie? Wie muss sich Journalismus auf veränderte Produktions- und Rezeptionsbedingungen im Online-Bereich einstellen?
3. Innere Systematik
Die Teilgebiete und Forschungsfelder der K. lassen sich unterschiedlich systematisieren. Zur Bestimmung des programmatischen Kerns wird häufig die sog.e Lasswell-Formel: „Who says What in Which channel to Whom with What Effect“ (Lasswell 1948: 33) herangezogen, die vom amerikanischen Psychologen und Propagandaforscher Harold Lasswell schon 1948 formuliert wurde. Das „who“ bezieht sich dabei (1) auf die Erforschung der Kommunikatoren gesellschaftlicher Kommunikation, häufig Journalisten, aber im Zeitalter des Web 2.0 auch Organisationen, Parteien sowie andere nicht-institutionelle Akteure; letztlich kann es Jedermann sein. Es bezieht sich aber (2) auch auf die Voraussetzungen von Kommunikation, etwa auf technische, gesetzliche, ökonomische oder Ausbildungsaspekte. Das „what“ bezieht sich auf die Analyse der Inhalte gesellschaftlicher Kommunikation, ob in klassischen Massenmedien wie dem Fernsehen oder im breiten Spektrum der Onlinemedien, das von rein interpersonaler bis hin zu Formen massenmedien-ähnlicher Kommunikation reicht. Mit „in which channel“ sind zum einen die Sinnesmodalitäten gemeint, die durch mediale Botschaften angesprochen werden, v. a. visuell und auditiv. Zum anderen kann man hierunter das Spektrum der Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender und Onlinemedien begreifen, mit ihren Sparten Ressorts, Gattungen und Sendungen. Hinter „to whom“ verbirgt sich die Mediennutzungsforschung, mit der erhoben wird, welche Medien von welchen Personengruppen wie lange und mit welcher Qualität genutzt werden. Sender und Verlage geben umfangreiche kommerzielle Nutzungsstudien in Auftrag, deren Ergebnisse maßgeblich die Preise für Anzeigenwerbung und Werbespots bestimmen. „With what effect“ schließlich meint die Medienwirkungsforschung, die untersucht, welche Wirkungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene die Nutzung der Medien nach sich zieht. Wirkungen können dabei kurz- und langfristiger Natur sein und sich auf kognitive (Wissen, Meinungen, Werte), affektive (Aufmerksamkeit, Erregung, Emotionen) oder konative (Verhalten, Kaufabsicht) Aspekte beziehen. Wirkungen können beabsichtigt sein (etwa Werbung), wünschenswert (etwa im Zusammenhang mit Gesundheitskampagnen) oder unerwünscht und schädlich (etwa Gewalt, Stereotype oder Missinformation).
Den genuin interdisziplinären Charakter des Faches verdeutlicht eine zweite weithin gebräuchliche Systematisierung. Diese bezieht sich auf Bindestrich-Disziplinen zu Nachbarfächern, etwa zu Medienpsychologie, Medienpädagogik, Mediensoziologie, Medienökonomie oder Mediengeschichte. In den jeweiligen Fachgesellschaften existieren z. T. korrespondierende Fachgruppen, durch die ein wechselseitiger Austausch der K. mit den Nachbardisziplinen, auch in personeller Form, stattfindet. Die dritte Systematisierung (3) bezieht sich auf Anwendungs- und Berufsfelder der K. Zu nennen wären hier Politische Kommunikation, Werbekommunikation, Gesundheitskommunikation, Wissenschaftskommunikation, um nur einige herauszugreifen. Zu ergänzen wären hier klassische Berufsfelder wie Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit.
Die K. befindet sich in einem stetigen Wandlungsprozess, der durch die technische und gesellschaftliche Digitalisierung der Kommunikationsprozesse befeuert wird. K. hat immer etwas Unfertiges, Vorläufiges, was zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass ihre Forschungsergebnisse immer auch an einen historischen, sozialen und ökonomischen Kontext gebunden sind und damit eine vergleichsweise geringe Halbwertzeit besitzen.
Literatur
M. Löblich: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende. Ein Beitrag zur historischen und kognitiven Identität der Kommunikationswissenschaft, in: M&K 58/4 (2010), 544–562 • DGPuK (Hg.): Kommunikation und Medien in der Gesellschaft: Leistungen und Perspektiven der Kommunikations- und Medienwissenschaft, 2008 • Wissenschaftsrat (Hg.): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland, 2007 • G. Bentele/H. B. Brosius/O. Jarren: Öffentliche Kommunikation: Hdb. Kommunikations- und Medienwissenschaft, 2003 • H. D. Lasswell: The Structure and Function of Communication in Society, in: L. Bryson (Hg.): The Communication of Ideas. A Series of Addresses, 1948, 32–51.
Empfohlene Zitierweise
H. Brosius: Kommunikationswissenschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kommunikationswissenschaft (abgerufen: 31.10.2024)