Kirchenasyl

1. Geschichtliche Entwicklung

Das durch eine Konstitution des Kaisers Theodosius II. 431 n. Chr. rechtlich anerkannte K. setzt eine sehr viel ältere und kulturübergreifend zu beobachtende Praxis der Flucht unter die Obhut des Göttlichen fort, auf die in höchster Not zurückgegriffen wurde, wenn seitens weltlicher Institutionen keine Gerechtigkeit (mehr) zu erwarten war. Es bewährte sich als kritisches Korrektiv, das durch Aushandeln einer für alle Seiten akzeptablen Lösung dem (sozialen) Ausgleich innerhalb von Gesellschaften (z. B. zwischen Schuldnern und Gläubigern) diente, Rechtlosen, sozial Schwachen und Marginalisierten einen gewissen Schutz bieten konnte und mitunter gezielt zur Ausdifferenzierung und Humanisierung des Rechts (etwa bei der Zurückdrängung des Fehdewesens oder bei der Milderung übermäßig harter, peinlicher oder kapitaler Strafen bzw. deren Umwandlung in Schadensersatzregelungen) eingesetzt wurde.

Ab dem Hochmittelalter wurde das K. zunehmend als mit der Immunität verliehenes Privileg einzelner Kirchen begriffen; der Schutz der Geflüchteten trat mitunter zu Gunsten von Machtfragen zwischen Kirche und Staat (Kirche und Staat), wie der Achtung des immunen Bereichs und der Rechtsprechungskompetenz gegenüber schutzsuchenden Delinquenten, zurück. Infolge der Konsolidierung des Rechtswesens wurde das K. ab dem 14. Jh. zunächst in den Städten langsam zurückgedrängt und dem staatlichen Recht untergeordnet, bis es im Zeitalter der Aufklärung und des Absolutismus gänzlich aufgehoben wurde. Die Funktion des K.s wurde fortan durch rechtsstaatliche Instrumente ersetzt, zu denen heute die Grund– und Menschenrechte zählen. Diese können die grundlegenden Rechte aller Menschen effektiver und konsequenter sicherstellen als K.e, deren Erreichen und Erfolg von vielen Zufällen abhängt. Gleichwohl wird die schützende Obhut der Kirchen auch in der Gegenwart immer wieder gesucht, zuletzt seit den 1980er Jahren in den Staaten Westeuropas und Nordamerikas angesichts menschenrechtlich problematischer Entscheidungen gegenüber Geflüchteten und unerwünschten Zuwanderern.

2. Rechtsfragen

Freiheitliche Rechtsstaaten beanspruchen als Konsequenz ihres Souveränitätsverständnisses ein Asylgewährungsmonopol (Asyl). Ein konkurrierender Anspruch auf ein eigenes K. besteht weder nach evangelischem noch nach katholischem Kirchenrecht; can. 1179 CIC/1917 wurde im CIC/1983 aufgegeben. Allerdings können Kirchen und Religionsgemeinschaften eine advokatorische Funktion zugunsten von Härtefällen wahrnehmen, indem sie Schutzsuchende ultima ratione in kirchliche Räume aufnehmen und bei staatlichen Behörden eine erneute Überprüfung des Einzelfalls bzw. eine humanitäre Lösung anregen. Dadurch sind diese jedoch staatlichem Zugriff keineswegs entzogen, denn mit Ausnahme der Gotteshäuser (insb. während der Gottesdienstzeiten) genießen kirchliche Räumlichkeiten keinen höheren Schutz als Privatwohnungen.

Auch wenn K.e in der Regel offiziell bei den Behörden angemeldet werden, ist zu bedenken, dass dabei u. U. gegen staatliches Recht verstoßen wird. Seitens der Geflüchteten kommen insb. Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen (z. B. § 56 AsylG) in Frage, die als Ordnungswidrigkeit bzw. im Wiederholungsfall als Straftat geahndet werden können; Verantwortungsträger in den Kirchengemeinden riskieren ggf. Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe (§ 27 StGB). Eine Zurückhaltung der Justiz ist jedoch sachlich und rechtlich begründet, denn bei glaubens- und gewissensmotiviertem Handeln einzelner Christen ist zumindest ein fehlendes Strafbedürfnis und demzufolge ein Wegfall der Schuld anzunehmen – wenn es nicht ohnehin verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist (Art. 4 GG).

3. Ethische Begründung

Ein Flüchtlingsbegriff, der den globalen Herausforderungen des 21. Jh. nurmehr eingeschränkt gerecht wird, ein höchst komplexes Asylrecht, ein stark schematisiertes und restriktiv ausgelegtes Asylverfahren sowie ein konsequent vollzogenes Aufenthaltsrecht können dazu führen, dass der Schutzanspruch einzelner Geflüchteter verkannt und diese durch eine drohende Ab- oder Zurückschiebung an Leib und Leben gefährdet werden. Wenn engagierte Christen nach Ausschöpfung des Rechtswegs zu der sicheren Überzeugung gelangen, dass grundlegende, verfassungsrechtlich verbriefte Rechte konkreter Schutzbedürftiger nur dadurch sichergestellt werden können, dass der unmittelbar bevorstehende Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen durch Aufnahme Betroffener in kirchliche Räume vorerst behindert wird, so ist dies als unausweichliche Entscheidung für das kleinere Übel in einem ernsten Gewissenskonflikt zu werten. Die Orientierung am historischen Modell sakraler Schutzgewährung zielt gerade nicht auf eine Unterwanderung des Staates, sondern auf dessen menschengerechte Weiterentwicklung durch das einvernehmliche Finden einzelfallgerechter Lösungen im Rahmen des staatlichen Rechts. Sofern K. nach gründlicher Reflexion als letztes Mittel eingesetzt wird, transparent und friedlich abläuft und auf der Basis der Wertordnung des GG erfolgt, gibt es gute Gründe, solche ausnahmsweise gesetzten Zeichen der Solidarität mit den Schwächsten als Wahrnehmung aktiver Mitverantwortung couragierter Bürger in einer lebendigen Demokratie zu würdigen und großzügig zu tolerieren. Als manchmal notwendiges, wenn auch nicht hinreichendes, subsidiäres Mittel zur Schaffung gerechterer Verhältnisse bleibt es eine geschichtlich bewährte Chance für die Geflüchteten, den Staat und die gesamte Gesellschaft.