Charisma

1. Max Webers Typusbegriff des Charisma

Die von Max Weber im zweiten Jahrzehnt des 20. Jh. begründete Theorie des C. fand ein überaus starkes Echo in Soziologie, Politikwissenschaft, Religionswissenschaft, in der Ethnologie sowie in verschiedenen Teildisziplinen der Geschichte (Geschichtswissenschaft). Die außerordentlich starke Diffusion des Begriffs C. auch außerhalb der Wissenschaften brachte den unbeabsichtigten Nebeneffekt einer Banalisierung von „C.“ als beliebige Form persönlicher Ausstrahlung, die sich auch zeigt in der medialen Konstruktion „charismatischer“ Politiker-Images und der gezielten Generierung „charismatischer Persönlichkeit“ im Dienst von Verkaufsstrategien. Entgegen solchen Tendenzen des Begriffsgebrauchs ist die ungebrochene Aktualität und Erklärungskraft des Begriffs in seiner urspr.en Version hervorzuheben.

M. Weber entwickelte seine C.-Konzeption ab 1911, angeregt durch Studien über das antike Christentum. Ihr systematischer Ort ist seine in den Schriften zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ zwischen 1908 und 1920 entwickelte Typologie der Herrschaftsformen, die in erster Linie auf die Legitimitätsprinzipien und Strukturformen politischer Verbände abzielt, prinzipiell jedoch auch religiöse Gemeinschaften einschließt. Den typologisch „reinen“ Fall von C. definiert M. Weber als „außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit […], um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‚objektiv‘ richtig zu bewerten sein würde, ist […] dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern‘, bewertet wird, kommt es an“ (Weber 2013: 419 f.). Nur der auf diese Weise konsequent wertfrei angesetzte Typusbegriff – der als Idealtypus bestimmte Gesichtspunkte „ideell“, d. h. modellhaft einseitig steigert, um die grundsätzlich davon abweichende historische Realität besser erfassen zu können – ermöglicht es M. Weber, gemeinhin extrem kontrovers bewertete Phänomene des C. aus völlig unterschiedlichen Kontexten (religiösen oder politischen Gebilden, vormodernen oder modernen Kulturstufen) so zu vergleichen, dass Eigenart, prozesshafte Abläufe und Strukturfolgen dieser Phänomene analytisch stringent erklärt werden können. Der Zusatz zur zitierten Definition stellt klar, dass C. nach diesem Verständnis des Begriffs in keiner Weise auf „objektiv“ beschreibbaren Persönlichkeitsmerkmalen beruht, sondern einzig auf den von der Anhängerschaft zugeschriebenen Qualitäten. Von der traditionellen altchristlichen Prägung des Begriffs als „(Gnaden-)Gabe“ unterscheidet sich M. Webers Konzeption durch ihr zentrales Element der Außeralltäglichkeit. So versteht die Tradition der katholischen Kirche C. v. a. als vielfältige Gabe des Geistes Gottes, die, obgleich nie vorhersehbar und vom Menschen her nicht erzwingbar, „immer und überall vermutbar“ (Rahner/Vorgrimler 1961: 62) ist, weil sie zum dauerhaften Wesen der Kirche gehört. Von einem derart ubiquitären, somit alltäglichen C.-Begriff ist M. Webers Konzeption, deren konstitutive Dimension der Außeralltäglichkeit sich nicht nur auf die Qualitäten der C.-Träger, sondern auch auf die Situationen bezieht, die C. herausfordern und in denen es sich sozial und kulturell realisiert, weit entfernt.

Es sind v. a. geschichtlich bedeutsame, folgenreiche Situationen und Konstellationen, die M. Webers C.-Konzeption in den Mittelpunkt stellt – Wendepunkte, Umbrüche, innerhalb derer die Botschaften der C.-Träger bahnbrechende Neuorientierungen liefern: „Das Charisma ist die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der ‚ratio‘, die entweder geradezu von außen her wirkt: durch Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme und dadurch mittelbar der Einstellungen zu diesen, oder aber: durch Intellektualisierung, kann C. eine Umformung von innen her sein, die, aus Not oder Begeisterung geboren, eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ‚Welt‘ überhaupt bedeutet“ (Weber 2013: 497).

Mit den bisher genannten Grundmerkmalen von M. Webers Konzeption des C. hängen zwei weitere zusammen: Die Geltung der zugeschriebenen außergewöhnlichen Qualität des Führers ist gebunden an Bewährung, insb. in kollektiven Krisen (Krise) oder Notlagen. Der Glaube an ihn, das Verhältnis zu ihm sind emotional geprägt, und ebenso ist die dem C.-Träger folgende Anhängerschaft – die „Jünger“, die sich um den Verkünder einer religiösen Botschaft scharen, der Führungskern einer revolutionären Bewegung (Revolution), die einem politischen Ideologen (Ideologie) folgt – eine zunächst unstrukturierte, auf die Person des C.-Trägers und deren Botschaft fixierte, emotionale Vergemeinschaftung. Ihr spezifisches Profil erhält M. Webers Konzeption vollends durch ihre unter dem Gesichtspunkt der Legitimitätsgründe durchgeführte typologische Unterscheidung von nicht-charismatischen Herrschaftsformen. C. ist als emotionale Hingabe an die Person des Führers und an dessen Botschaft polar dem modernen („legal-rationalen“) Typus entgegengesetzt, der sich durch den Glauben an die Rechtmäßigkeit der Verfahren legitimiert, durch die Gesetze geschaffen werden. Eine Mittelstellung nimmt der traditionale Typus ein, dessen Legitimation auf dem Glauben an die Heiligkeit des seit jeher Bestehenden beruht. Analytisch ist die Legitimitätsebene zu unterscheiden von der Organisationsebene der Herrschaft. Von seinen gegeninstitutionellen Ursprüngen her ist C. schwer mit stabilen Organisationformen, insb. den bürokratischen vereinbar.

2. Die Veralltäglichung des Charisma

So grundlegend die Theorie des „reinen“ C. auch ist, ihre Erklärungskraft tritt voll erst zutage, wo M. Weber das C.-Konzept um prozessuale Dimensionen erweitert und es einsetzt zur Analyse langfristig sich auswirkender Strukturwandlungen von Religion, Kultur und Staat. Dafür ist „Veralltäglichung“ der Schlüsselbegriff. In typologisch „reiner“ Form existiert C., so M. Weber, nur in statu nascendi. Daher erhalten – falls es nicht endogen verfällt oder exogen zerstört wird – die Übergängen von Außeralltäglichkeit in Alltäglichkeit, in institutionalisierte Normalität größtes analytisches Gewicht. Stets sind solche Übergänge durch das Bestreben der Anhängerschaft bedingt, die außeralltäglichen Qualitäten des Trägers und seiner Botschaft nach seinem Tod zu verstetigen. Sie artikuliert sich zunächst im Problem der personalen Nachfolge. Ist diese nicht vorab durch Designation festgelegt, wird sie normiert in Form von Wahlregeln, seltener in Regeln zur Auffindung einer Reinkarnation. Oft werden die Qualitäten des C.-Trägers als vererbbar aufgefasst („Gentil-C.“). Ein weiterer Typus ist die Schaffung von Mitteln charismatischer Wirkung, die von der Person abgelöst, „objektiviert“ und so zur Übertragung, Vervielfältigung und Verbreitung geeignet sind, wofür der geschichtlich bedeutsamste Typus die zuweilen auch magische Elemente einschließende Institutionalisierung charismatischen Rollenhandelns in Form eines Amtes („Amts-C.“) darstellt. Das herausragende historische Beispiel dafür sieht M. Weber im Priesteramt (Priester) der katholischen Kirche, und zwar in der Prägung, die es im neuzeitlichen Okzident erhalten hat. Die charismatischen „Leistungen“ sind in diesem Fall die an den Gläubigen vollzogenen sakramentalen Heilshandlungen. Von der Person des Stifters durch Übertragungsriten (Weihen) abgelöst, werden sie „versachlicht“, indem sie dem Amt anhaften und nicht der Person, die dieses bekleidet. Die katholische Theorie des character indelebilis auch bei Unwürdigkeit der Person des Amtsträgers betrachtet M. Weber als „die radikalste Form der Versachlichung und Umwandlung der rein persönlichen, an der Bewährung der Person haftenden charismatischen Berufung in eine […] den Amtsmechanismus ohne Ansehen des Werts der Person seiner Träger heiligende, charismatische Befähigung“ (Weber 2005: 529).

Parallel mit den genannten Formen der Veralltäglichung gehen solche einher, die den ideellen Inhalt der Botschaft betreffen und diesen strukturell verändern. Er wird nunmehr „verwaltet“, d. h. nach Regeln „orthodoxer“ Tradition lehrbar und propagierbar; oft genug wird er in „Schulen“, Akademien rationalisiert als „Doktrin“, die diskursive Auseinandersetzung zulässt und damit Weiterentwicklung ermöglicht. Nicht zu übersehen sind ferner Aspekte des Veralltäglichungsprozesses, die auf das materielle Interesse der Anhängerschaft an der Verstetigung des C. zurückgehen: dauerhafte Versorgungschancen in Gestalt von Ämtern, Pfründen und einer Vielzahl von „Rechten“ und Privilegien, die an die Stelle der okkasionellen, unstrukturierten Versorgung der Anfänge treten – genuines C., so M. Weber, ist „spezifisch wirtschaftsfremd“ (Weber 2013: 495). Sämtliche Formen der Veralltäglichung haben zur Folge, dass die davon betroffenen sozialen Gebilde und Institutionen (Institution) entweder zur Traditionalisierung oder zur Rationalisierung neigen oder zu einer Kombination von beidem und so die Integration von Elementen des C. mit den betreffenden, heterogenen Strukturen ermöglichen.

3. Zur Wirkungsgeschichte und Weiterentwicklung der Charisma-Theorie

Die Wirkung von M. Webers Konzeption war in den ersten sieben Jahrzehnten seit ihrer Entstehung auf zweifache Weise unausgeglichen. Erstens erfasste die Rezeption überwiegend das „reine“ C.; die Bedeutung, die in M. Webers Werk dem Komplex der Veralltäglichung zukommt, wurde dagegen vernachlässigt. Zweitens standen die politischen C.-Phänomene im Mittelpunkt, auf Kosten der religiösen – unabhängig von der Tatsache, dass beide in der historischen Wirklichkeit oft nicht voneinander zu trennen sind. Dieses wirkungsgeschichtliche Übergewicht des politischen C. ist zweifellos bedingt durch die überwältigende Rolle, die es in der politischen Geschichte des 20. Jh. gespielt hat: „Führer“-Gestalten prägen die politisch-ideologischen Bewegungen des Faschismus und Kommunismus und die von ihnen begründeten totalitären Regime ebenso wie die antikolonial und/oder antiwestlich (nach Wilhelm Emil Mühlmann oft „chiliastisch“ oder „nativistisch“) orientierten Bewegungen in der „Dritten Welt“ (Mahatma Gandhi, Sukarno, Kim Il-sung, Kwame Nkrumah, Gamal Abdel Nasser, Fidel Castro, Ruhollah Mubawi Khomeini usw.). In den vergangenen drei Jahrzehnten wurde diese Einseitigkeit der Rezeption ausgeglichen – bedingt durch Verlagerungen innerhalb der Aufnahme und Deutung von M. Webers Werk einerseits (dessen religionssoziologische Teile [ Religionssoziologie ] insgesamt stärker beachtet werden), andererseits auch durch die Verbreitung religiös-charismatischer Bewegungen und Gemeinschaften inmitten säkularer verfasster Umwelten der Gegenwartsgesellschaft. Auch die zuerst genannte Unausgeglichenheit ist im Lauf dieser Jahrzehnte entfallen; das Veralltäglichungstheorem ist inzwischen Standardthema aller bei M. Weber anknüpfenden, auf die Analyse langfristiger Prozesse abzielenden C.-Studien. Es wurde erfolgreich eingesetzt als Instrument der Analyse so unterschiedlicher Gegenstände wie der Institutionalisierung alternativer Lebensformen mit charismatischem Ursprung oder dem Vergleich der hochkomplexen, durch die Charismatisierung der Verwaltungsspitzen intern konfliktreichen Herrschaftssysteme Adolf Hitlers und Benito Mussolinis.

Insgesamt hat in den letzten Jahrzehnten die historisch-komparatistische Anwendung des Weberschen Konzepts an thematischer Breite und analytischer Tiefenschärfe gewonnen. So wird das heuristische Modell der charismatischen Bewegung, konnotativ bisher besetzt durch „Bewegung“ als Kategorie der Moderne bzw. Anti-Moderne, fruchtbar gemacht z. B. auch für den Übergang vom republikanischen zum monarchischen Staat der römischen Antike; ebenfalls abweichend vom gängigen, exklusiv auf moderne Verhältnisse beschränkten Gebrauch des Begriffs „Staat“ werden die Anfänge staatlicher Institutionen (Institution) mit Hilfe des C.-Konzepts zurückverfolgt bis in archaische Kulturen. Nicht zu übersehen ist ferner, dass das Konzept inzwischen erfolgreich auch außerhalb der bisher bewährten Felder von Religion und Politik eingesetzt wird wie z. B. im Fall des für die deutsche Kulturgeschichte des 20. Jh. bedeutsamen George-Kreises.

Entsprechend dem relativ größeren Gewicht, welches in der theoretischen Debatte um M. Webers C.-Konzept Aspekte der Veralltäglichung nunmehr erhalten, wurden M. Webers begriffliche Vorgaben zu deren Modalitäten systematisiert und erweitert. So sind, was die Anfänge charismatischer Prozesse betrifft, für die Phase zwischen dem charismatischen Ursprungsimpuls und dem Einsetzen des Veralltäglichungsprozesses Differenzierungen v. a. zu den Begriffen „Gemeinde“ und „Bewegung“ vorgeschlagen worden. Verschiedene Überlegungen wurden auch veranlasst durch die Tatsache, dass M. Weber über allg.e Andeutungen (wie „[…] aus Not und Begeisterung geboren“) hinaus die Frage nach der Entstehung von C. nicht weiter verfolgt hatte; die oben angedeuteten Situationen des Umbruchs, auf die sich M. Webers Sicht des C. als der revolutionären Kraft der Geschichte bezieht, fordern geradezu Versuche heraus, solche historische Konstellationen typologisch-verallgemeinernd zu umschreiben. Der prägnanteste dieser Versuche ist die Stigma-C.-Theorie von Wolfgang Lipp. Er geht von der Beobachtung aus, dass C.-Träger in vielen historischen Fällen vom Rand der Gesellschaft her deren Erneuerung anstoßen. Im Mittelpunkt steht dabei die Funktion der Selbststigmatisieung. „Indem Selbststigmatisierer Stigmata, die die Gesellschaft ihnen auferlegt, demonstrativ für sich bejahen, rücken sie im Wagnis der Ächtung, das sie auf sich nehmen, neue kulturelle Werte ans Licht. Getragen von ‚Gefolgschaften‘ und aufbrechenden sozialen Massen, die sich mit Selbststigmatisierern ‚revolutionär‘ identifizieren, bewirken sie metánoia – Gesinnungswandel und Gesinnungswechsel“ (Lipp 2010: XI). Es gibt auch den umgekehrten Prozess: C. kann in Stigma umschlagen. Diese „Grenzdialektik“ ist kultursoziologisch von Bedeutung, sie macht die an der Grenze zwischen beiden akut werdende und zur Entscheidung gebrachte Plurivalenz sozialer Wertungen und kultureller Sinnkonstrukte sichtbar. Die um W. Lipps Konzeption erweiterte C.-Theorie hat sich inzwischen als eines der wichtigsten religionssoziologischen Modelle zur Deutung der Anfänge des Christentums sowie der herausragenden Gestalt der mittelalterlichen Armutsbewegung, Franz von Assisi, erwiesen. Trotz ihrer Erklärungskraft für eine Vielzahl einschlägiger Fälle kann allerdings die Stigma-C.-Theorie keine Geltung für den Ursprung aller empirisch erschließbaren C.-Phänomene, die M. Webers Typologie zugeordnet werden können, beanspruchen.