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Aktuelle Version vom 14. November 2022, 05:54 Uhr
1. Dissidenten – die mutigen Wahrheitsverfechter
Als D. wurden seit den 1970er Jahren diejenigen Bürger der kommunistisch regierten Staaten bezeichnet, die – im Unterschied zur schweigenden Mehrheit – ihre politische Meinung öffentlich äußerten. Unter den Bedingungen der ununterbrochenen und allgegenwärtigen Propaganda versuchten sie, trotz allem in der Wahrheit zu leben. Damit waren sie allerdings für das totalitäre Regime (Totalitarismus) gefährlich. Die verlogene Indoktrination, die Minute für Minute die Überlegenheit des Kommunismus gegenüber dem „Kapitalismus“ bekräftigte, war nämlich ein elementarer Stabilisierungsfaktor für das Regime. Deshalb wurden die Verfechter der Wahrheit massiven Repressionen ausgesetzt. Das üblichste Einschüchterungsmittel war Berufsverbot. Häufig gipfelten die Repressionen in Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten, manipulierten Gerichtsprozessen, langjähriger Einkerkerung oder sogar auch Ermordung. Oft wurden D. gezwungen, ihre Heimatländer zu verlassen (Emigration, politische). Als Zeugen der kommunistischen Diktatur wurden diese Emigranten Botschafter dieses „anderen Planeten“ und bildeten eine Brücke zwischen Ost und West.
Ein Merkmal der D.-Bewegung war ihre strikte Gewaltlosigkeit. Mit Hilfe von Wort und Schrift sollte ein allmählicher, friedlicher Veränderungsprozess von innen heraus initiiert werden. Die D. erkannten, dass einem Regime, das nicht vor Gewalt gegen seine Bürger zurückschreckte, am besten mit Gewaltlosigkeit beizukommen war.
Eine mächtige Ermunterung für die D.-Bewegungen stellte die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 dar, in welcher sich die kommunistischen Staaten zur Achtung der Menschenrechte verpflichteten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-(Gewissen, Gewissensfreiheit), Religions- und Überzeugungsfreiheit. Auf diese Selbstverpflichtung der kommunistischen Machthaber, die sich auch in einschlägigen Gesetzen niederschlug, haben sich die D. in der Folgezeit konsequent berufen. Die Gründungserklärung der tschechoslowakischen D.-Bewegung „Charta 77“ betont: „Die Verantwortung für die Gewährleistung der Bürgerrechte trägt selbstverständlich v. a. die politische und staatliche Macht. Aber nicht nur sie. Ein jeder trägt seinen Teil an Verantwortung für die öffentlichen Verhältnisse, folglich auch für die Einhaltung der gesetzlich verbrieften Rechte, welche übrigens nicht nur für Regierungen, sondern auch für Bürger verbindlich sind. Das Gefühl dieser Mitverantwortung, der Glaube an den Sinn des bürgerlichen Engagements und der Wille zu ihm […] haben in uns den Gedanken geweckt, die Charta 77 zu gründen“ (zit. nach Vodička 1996: 42).
2. Dissidenten in ausgewählten Ostblockländern
2.1 Sowjetunion
Die Abrechnung Nikita Chruschtschow mit dem Stalin-Kult 1956 weckte Erwartungen auf eine Liberalisierung des Regimes. Es erschien die Lagererzählung von Alexander Solschenizyn „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch“. In der Folgezeit fanden indessen manipulierte Gerichtsprozesse gegen regimekritische Schriftsteller (Iossif Brodskij, Julij Danie&lakut;, Andrej Sinjavskij) statt. Wladimir Bukowski machte 1971 die Zwangseinweisungen von Oppositionellen in psychiatrische Anstalten bekannt. Die sowjetische D.-Bewegung erreichte 1968 ihren Höhepunkt. Der „Prager Frühling“ weckte Hoffnungen auf eine Wandlung des Systems von innen, die oppositionelle Bewegung bekam Unterstützung durch den (späteren Friedensnobelpreisträger) Andrej Sacharov.
2.2 Polen
In Polen gelang es dem kommunistischen Regime nie, in die Tiefe der Gesellschaft durchzudringen. Von 1956 bis 1989 wurde jeder Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei von Massendemonstrationen und Protestwellen gestürzt. Die D. verstanden sich als Gegner jeglicher totalitärer Herrschaft (Totalitarismus), strebten bürgerliche Demokratie und Rechtstaat nach westlichem Vorbild an. Die Repressalien des Regimes 1976 verbanden oppositionelle Intellektuelle mit den Arbeitern und führten zur Gründung zahlreicher Gruppierungen, darunter das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“, die „Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte“ oder die „Konföderation für die Unabhängigkeit Polens“. In den 1980er Jahren waren mehr als 3 000 oppositionelle Zeitschriften im Umlauf. Nach der Wende erhielten viele namhafte D. eine angemessene Würdigung. Lech Wa&lpolns;&epolh;sa wurde zum Staatspräsidenten, Jacek Kuro&nakut; zum Arbeitsminister, Adam Michnik zum Chefredakteur der auflagestarken Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“.
2.3 DDR
Die unabhängigen Initiativen in der DDR, oft unter dem Schutzdach der evangelischen Kirche, seit den 1980er Jahren zunehmend aktiv, kritisierten die katastrophale Umweltzerstörung, klagten die in der KSZE-Schlussakte anerkannten Menschenrechte ein und forderten einen Ausstieg aus der gefährlichen Rüstungsspirale. Von der DDR-Staatssicherheit als „feindlich-negative Kräfte“ eingestuft, wurden sie konsequent bedrängt, verfolgt, unterwandert. Die Wortmeldungen Robert Havemanns, Wolf Biermanns oder Rudolf Bahros prägten die sich formierende Opposition nachhaltig. Im Herbst 1989 wurden die D.-Gruppen zu den Initiatoren der Massenkundgebungen, die zur friedlichen Revolution führten.
2.4 Tschechoslowakei
Wichtigste D.-Organisation war die „Charta 77“. Ihre ersten Sprecher waren Ji&rhatsch;í Hájek, ehemaliger Außenminister aus der Ära des „Prager Frühlings“ und der Philosoph Jan Patočka, der nach einer Serie von Polizeiverhören im Frühling 1977 starb. Die Charta 77-Unterzeichner begrüßten, dass die Tschechoslowakei den internationalen Menschenrechtsabkommen beigetreten war, hoben indessen kritisch die Widersprüche hervor, die zwischen den gültigen tschechoslowakischen Rechtsvorschriften und den realen Praktiken der staatlichen Organe bestanden. Obwohl die Charta 77 eindeutig im Rahmen der gültigen Verfassungs- und Rechtsordnung wirkte, wurde sie von der Staatsmacht als „staatsfeindlich“ behandelt, ihre Unterzeichner politisch verfolgt. Im Herbst 1989 bildete die Charta 77 den Kern des aus mehreren unabhängigen Gruppierungen entstandenen Bürgerforums (Občanské fórum), das die friedliche Revolution in der Tschechoslowakei einleitete.
2.5 Ungarn
Die Geschichte der Opposition in Ungarn wurde durch den 1956 blutig niedergeschlagenen Volksaufstand tief geprägt. Lange herrschte totale Stille. Erst durch die KSZE-Schlussakte sahen sich D. (Marxisten, Christen, Pazifisten, Ökologen) zum Handeln ermutigt. Zum ersten Mal traten sie 1977 mit der Solidaritätserklärung zugunsten der „Charta 77“ in Erscheinung. In den 1980er Jahren wurden sie zunehmend aktiv. 1989 schlossen sie dann mit den Reformkommunisten den historischen Kompromiss, der durch Verfassungs- und Gesetzesänderungen die friedliche Transformation des politischen Systems (Politisches System) und freie Wahlen ermöglichte.
3. Dissidenten als Initiatoren der friedlichen Revolutionen im Ostblock
Die D.-Bewegung war für das Bewusstsein der unterdrückten Völker in den kommunistischen Diktaturen (Diktatur) extrem wichtig. Sie trug essentiell dazu bei, dass die Menschen sich ihrer Unterdrückung und der permanenten Verletzung ihrer Menschenrechte bewusst wurden und sich auflehnten. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war sie Initiatorin der Massenproteste, die zum Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen führten. Nur die anerkannten Anführer der antikommunistischen Opposition konnten glaubhaft mit den kommunistischen Machthabern über die Abtretung der Macht und freie Wahlen verhandeln. Dort, wo sie dann zu den Entscheidungsträgern der neu entstehenden Demokratien geworden sind, wie die Präsidenten Polens L. Wa&lpolns;&epolh;sa und der Tschechoslowakei Václav Havel, waren die Voraussetzungen für die postkommunistische Demokratiekonsolidierung günstiger als in denjenigen Ländern, in welchen Spitzenfunktionäre der kommunistischen Partei die Machtübernahme organisierten.
Literatur
A. Krzemi&nakut;ski: Widerstand und Opposition gegen den Sowjetkommunismus in Ostmitteleuropa, in: APuZ 64/27 (2014), 46–53 • G. Heydemann/K. Vodička (Hg.): Vom Ostblock zur EU, 2013 • M. Szabó: Kompromiss als Erbe des Kádárismus. Ungarn 1989–1990, in: J. Macków (Hg.): Autoritarismus im Mittel- und Osteuropa, 2009, 199–214 • S. Hauschild: Propheten oder Störenfriede? (2007), URL: http://epub.ub.uni-muenchen.de/1359/1/hauschild-dissidenten.pdf (abger.: 12.10.2016) • H.-J. Veen/U. Mählert/P. März (Hg.): Wechselwirkungen Ost-West, Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975–1989, 2007 • U. Mählert: Kleine Geschichte der DDR, 2004 • K. Vodička: Politisches System Tschechiens, 1996 • K. Vodička: Der Überdruß ist größer als die Furcht, in: FAZ, 23.11.1989, 13 • V. Havel. Versuch, in der Wahrheit zu leben. Die Macht der Ohnmächtigen, 1980 • H. Brahm: Die sowjetischen Dissidenten, 1978 • A. Solschenizyn (Hg.): Stimmen aus dem Untergrund. Zur geistigen Situation in der UdSSR, 1975 • A. Sacharov: Stellungnahme, 1974 • A. Solschenizyn: Der Archipel GULAG, 3 Bde., 1974–1976 • A. Amalrik: Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?, 1970.
Empfohlene Zitierweise
K. Vodička: Dissidenten, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Dissidenten (abgerufen: 01.11.2024)