Interessenjurisprudenz: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 14. November 2022, 05:56 Uhr

1. Interessenjurisprudenz als Gegenstand der Methodenlehre

Das Stichwort I. führt in die wohl intensivste Dauerdiskussion zur juristischen Methodenlehre seit ca. 1900. Sie läuft parallel zur Ausbildung des modernen Verfassungsstaates, der eine Neuordnung der klassischen Rechtsbildungsfaktoren Juristenstand, Justiz und Gesetzgeber bedingte. Die Diskussion hat eine normative und eine methodisch-erkenntnistheoretische Seite.

2. Normative Aspekte

Normativ vertritt die originäre I. eine Jurisprudenz der geltenden gesetzlichen und gesellschaftlich anerkannten Interessenentscheidungen, nicht die Jurisprudenz irgendwelcher Interessen und Abwägungen, wie mitunter behauptet wird. Sie setzt damit moderne verfassungsstaatliche Vorgaben methodisch konsequent um. Ihr Entstehungskontext ist der parlamentarische, liberal-rechtsstaatliche, wenn auch nicht material-grundrechtlich geprägte Verfassungsstaat des späten deutschen Reichs vor 1914. Anerkannt ist nur positives, menschliches Recht. Den Primat dafür hat der gewählte Gesetzgeber, es gelten der Vorrang und Vorbehalt seines Gesetzes. Ihm folgen in „interessengemäßem“ oder „denkendem Gehorsam“ (Heck 1914: 19) die Organe der Rechtsumsetzung, also die gesamte juristische Profession und bes. die Justiz. Vorausgesetzt ist die säkulare, rechtstaatliche Gewaltenteilung von Religion, Moral, Politik und Recht, von Rechtsbildung und Rechtsumsetzung. Damit sind zugl. die Kompetenzen unter den vier wesentlichen modernen Rechtsbildungsfaktoren Gesetzgeber, Justiz, Juristenprofession im Ganzen und Gesellschaft neu geordnet. Das positive Recht (Rechtspositivismus) soll dabei loyal und ideologisch unselbständig bis neutral umgesetzt werden. An diesem rechtsstaatlichen Kern hielt man in Weimar und nach 1945 bis heute fest. Das erklärt die immer wieder hohe Aktualität der I. und ihre alte Verwandtschaft mit den neuen Auslegungslehren in den süddeutschen Verfassungsstaaten schon vor 1848, die zuerst den verfassungsberufenen Gesetzgeber methodisch ernst nahmen. (Wächter 1842: § 23; Mohl 1840: § 14)

3. Erkenntnistheoretisches Fundament

Ebenso wichtig wie diese normative Seite ist das erkenntnistheoretische Fundament der I. Die Klärung der gesetzgeberischen Interessenentscheidungen hat streng empirisch vor sich zu gehen, als „Forschung“ (Heck 1914: 96) anhand der sinnlich wahrnehmbaren Fakten und ihrer Bedeutung als „Ursachen für die legislativen Vorstellungen“ (Heck 1914: 37). Die I. beruft sich auf keine bestimmte philosophische Autorität. Das erübrigte sich auch, da sie schlicht der seit den 1860er Jahren dominanten philosophisch-kritischen, realistischen und empirisch-rationalen Strömung folgte, die als Positivismus, Materialismus und Naturalismus im Gegensatz zu Idealismus und Metaphysik bezeichnet wird. Für die Jurisprudenz lag darin negativ eine Absage an alles nichtmenschliche, nichtpositive Recht, sei es religiös, naturrechtlich, philosophisch, „soziologisch“ oder sonst begründet, positiv ein inhaltsoffener „Voluntarismus“ (Schröder 2012: 283). Das entsprach wieder der normativen Treue zu Verfassung und Gesetzen als konkreten Produkten des allg.en Willens und dem ausdrücklichen Anliegen der I., damit die relativ beste Sicherheit und Vorhersehbarkeit des positiven Rechts als „Friedensordnung“ zu erreichen. Alle Rechtsmetaphysiker haben das missbilligt, unter welcher Flagge auch immer. Die I. vertrat dagegen eine wertrelative, inhaltsoffene, legal-rechtstaatliche Jurisprudenz im Sinne einer konkreten „Allgemeinen Rechtslehre“. Betont wurden dabei die Gemeinschaftsinteressen vor den Individualinteressen.

4. Historische Entwicklung

Sprachkräftig formuliert und lebenslang ausgebaut haben sie wesentlich und unermüdlich der bedeutende Zivilrechtler Philipp Heck und daneben seine Tübinger Kollegen Max Rümelin und Heinrich Stoll. Sie darf als bes. in der Ziviljustiz herrschend bezeichnet werden. Nicht zufällig nahm P. Heck zuerst 1905 gegen den Freirechtler Ernst Stampe und seine „Sozialjurisprudenz“ deutlich Stellung für „Gesetzestreue“ (Heck 1905: 1140). Die neuere „Wertungsjurisprudenz“ nach 1945 nimmt ihre Wertungen meist keineswegs so streng aus dem Gesetz, ein wesentlicher Unterschied. Im Verfassungsrecht hat sich seit den 1960er Jahren die viel freiere Abwägungsjurisprudenz verbreitet, in der die heutige Inthronisation der Verfassungsjustiz kulminiert. Ansätze zu einer I. im öffentlichen Recht (bes. Carl Heinrich Triepel) blieben nach 1945 verschüttet.

5. Historische Methode

Zu den engeren Hauptlehrsätzen gehören die sog.e (subjektiv-)historische Methode und das sog.e Lückenproblem. Die historische Methode (an der nichts bes. subjektiv ist) soll den primären Blick auf den Gesetzgeber garantieren. Sie stellte und stellt sich damit gegen die sog.e objektive Methode, die weniger dem Gesetzgeber als einem jeweils „objektiv“, d. h. aber grundsätzlich frei verstandenen, Sinn und Zweck des Gesetzes als solchem folgen will. „Historisch“ richtet sich zugl. gegen eine „freie“ Rechtsfindung aus dem nichtstaatlichen Recht des Lebens und der Bedürfnisse. Es geht um die Konkurrenzen der Rechtsbildungsfaktoren. Die objektive wie die freirechtliche Methode in allen ihren Varianten gingen auf Distanz zum verfassungsstaatlichen Gesetzgeber, nicht zufällig und ironischerweise gegen die gerade erst seit 1900 mit dem BGB voll kodifizierte Rechtswelt des Kaiserreichs, die ja keineswegs überwiegend reaktionär, sondern eher rechtstaatlich-liberal geprägt war. Die Kritik ist verfassungspolitisch motiviert. Die sog.e objektive Methode ist die Methode der eher konservativen Fraktion des damaligen Juristenstandes und seiner Standesideologie, die freirechtliche die einer kleinen eher progressiven Fraktion. Die scharfe Auseinandersetzung P. Hecks mit der sog.en Begriffsjurisprudenz, besser Prinzipienjurisprudenz, beruht dagegen kaum auf verfassungspolitischen Gegensätzen. Beide wollen gesetzestreu sein i. S. d. rechtsstaatlichen Rechts im Kaiserreich. Die Prinzipienjurisprudenz überließ die Interessenerwägungen dem Gesetzgeber und bildete daraus und daneben ein wissenschaftlich gestütztes juristisches System, das die vor 1871 unübersichtliche Rechtsbildung zu Gunsten der schlüssigen Rechtsdarstellung bewusst vernachlässigte. Nur tendenziell konnte das antiparlamentarisch werden. P. Heck wollte sozusagen noch rechtsstaatlicher sein und daher die Rechtsbildung und Interessenentscheidungen stets genau und neu nachvollziehen. Daher bekämpfte er das von ihm erstmals sog.e Verfahren der „Inversion“, d. h. juristischer Schlüsse bloß aus den einmal gebildeten und womöglich metaphysischen Rechtsbegriffen und Systemzusammenhängen. Die I. fokussiert auf die Rechtsumsetzung und reagiert damit auf den schon quantitativ enormen Aufstieg der Justiz seit ihrem Neubau im neuen Reich von 1871.

6. Das Lückenproblem

Das Lückenproblem stellt sich je nach der Gesamtauffassung von Recht. Keine Gesetzgebung kann für ihre Zeit und gar für die Zukunft alle Fälle erfassen, selbst wenn sie mit allg.en Prinzipien und Rechtssätzen operiert. Unter der modernen Bedingung des Rechtsverweigerungsverbots im Rechtsstaat muss der Richter der Gleichbehandlung halber zugl. stets entscheiden. Soweit kein Rechtsatz, kein Anspruch oder Strafgesetz oder sonst eine Norm zu finden sind, muss er an sich abweisen. Die Tatsache einer solchen Lücke bedeutet aber nicht die Notwendigkeit einer positiven richterlichen Lückenfüllung, wie viele bis heute behaupten. Die I. bindet die Rechtsumsetzung auch dabei möglichst nah ans Gesetz. Das geschieht durch „mittelbare“ Rechtsfindung (Heck 1905: 1141) im Fallvergleich per Analogie oder argumentum e contrario zu geregelten Fällen. Erst wenn sich gar keine Anhaltspunkte finden, darf man am Ende durch „Eigenwertung“ auf eventuelle gesellschaftliche Wertungen oder „Gemeinschaftswerte“ durchgreifen (Heck 1905: 1141). Es handelt sich also erneut um eine rechtsstaatlich folgerichtige Durchstufung der Methode.

7. Kritik

Im verfassungspolitisch bewegten 20. Jh. zog die I. auch viel Kritik auf sich. Im Sinne P. Hecks bedeutete sie eine klare Absage an alle juristischen Romantiken, Naturrechtsideen (Naturrecht), Anarchismen (Anarchie, Anarchismus), Utopien und Illusionen, und v. a. auch Standesideologien. Solche Prämissen trieben die Freirechtsbewegung an, sei es mit E. Stampes patriarchalischer „Sozialjurisprudenz“, mit Hermann Kantorowicz’ Lebens- und Bedürfnisjurisprudenz oder mit Ernst Fuchs’ irreführend sog.er soziologischer Jurisprudenz. Neoidealistisch-ideologisch motiviert verwarf man später die I. scharf als materialistisch und positivistisch. Die I. hat aber weder die Begriffe, noch die Ideen, das Soziale, das Leben oder gar das Bedürfnis verleugnet. Nur müssen sie alle, um normativ maßgebend zu sein, durch das rechtstaatliche Nadelöhr der Gesetzgebung oder des „denkenden Gehorsams“ der Justiz und der übrigen Rechtsumsetzer.

8. Schwächen

Eine Schwäche der I. bzw. ihrer Vertreter zeigte sich im Hinblick auf ihre Prämissen. Das rechtstaatliche Gesetz und zuletzt die anerkannten gesellschaftlichen Wertungen sind hier die einzige rechtliche Sicherung. Reduziert man es aber auf das Gesetz als bloße Rechtsform, gar als Führererlasse, Staatsratsbeschlüsse oder sonstige sozialistische „Normativakte“, so entsteht die Gefahr, die sich nach 1933 im Nationalsozialismus und nach 1949 in der DDR realisierte. Das Gesetz wird zur vergifteten Waffe, zum Instrument der jeweils Herrschenden. Die Jurisprudenz hat keinerlei relativ selbstständige Rolle, es herrscht der Primat der Politik. Ihre Fachmethode kann die allfällige Willkür allenfalls etwas hemmen – wenn sie ein Minimum von Stetigkeit und Gleichheit festhält, was natürlich nicht garantiert ist, sondern eine Frage des Juristenpersonals. Hans Stoll und P. Heck haben aus welchen weltanschaulichen Gründen auch immer sich dem NS-Gesetzgeber nach 1933 gebeugt, P. Heck leider in bes. deutlicher Weise. Er hat damit den urspr. liberal-rechtsstaatlichen Kontext seiner Methode verlassen. Das war ein drastischer Beweis, dass normative Methoden von normativen Prämissen abhängen, juristische also vom jeweiligen Rechtsbegriff. „Allgemeingültig“ sind dabei nur die „Normen der Logik und die konventionellen Normen der Gedankenmitteilung“ (Somló 1917: 379). Alle weiteren juristischen Methodenfragen sind Verfassungsfragen.