Interkulturalität

1. Definition

I. bezeichnet Prozesse des Austauschs, der Verständigung und davon angestoßener Entwicklungen, die dann bedeutsam werden, wenn Kulturen auf der Ebene von Individuen, Gruppen oder Symbolen in Kontakt treten sowie die betroffenen Personen divergierende Wertorientierungen, Bedeutungssysteme und Wissensbestände aufweisen. Im Art. 4 Abs. 8 des „Übereinkommens über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ der UNESCO vom Oktober 2005 heißt es: „Interkulturalität bezieht sich auf die Existenz verschiedener Kulturen und die gleichberechtigte Interaktion zwischen ihnen sowie die Möglichkeit, durch den Dialog und die gegenseitige Achtung gemeinsame kulturelle Ausdrucksformen zu schaffen“.

I. ist abzugrenzen von Begriffen wie Multikulturalität (Multikulturalismus), dem Nebeneinander von Angehörigen verschiedener Kulturen innerhalb einer Gesellschaft, oder Transkulturalität, der Verwischung und Aufhebung kultureller Grenzen durch Verflechtung: „Inter“, als „zwischen“, „wechselseitig“ oder „vermittelnd“ verweist darauf, dass etwas Neues im Prozess entsteht. Interagierende Personen gestalten und handeln neue Kommunikations- und Verhaltensregeln aus, die als Ergebnis wechselseitiger Interpretations- und Anpassungsprozesse von in den jeweiligen Einzelkulturen praktizierten Verhalten abweichen können.

Aufgrund politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und religiöser Divergenz oder Dominanz gestaltet sich I. häufig konfliktbeladen und ist ein Phänomen für Wissenschaft und Praxis. Dabei lassen sich drei Perspektiven unterscheiden: (1) Pragmatismus: In der praxisorientierten Perspektive fragt man danach, wie Kulturkontakte gestaltet werden, um persönliche oder berufliche Ziele leichter zu erreichen. (2) Forschungsgegenstand: In der wissenschaftlichen Perspektive analysiert man kulturelle Spezifika, Unterschiede sowie interkulturelle Interaktionen und versucht, diese zu verstehen. (3) Humanismus: In der gesellschaftlichen Perspektive interessiert man sich dafür, wie I. im Sinne der Völkerverständigung durch Verständnis für kulturelle Unterschiedlichkeit zum friedvollen Miteinander beitragen kann.

2. Forschung und Wissenschaftsdisziplinen

Historisch hat sich I. in den 1940er Jahren in den USA aus der Forderung der Praxis entwickelt, wichtige Akteure der Politik, Diplomatie oder Wirtschaft für Friedensmissionen und Entwicklungszusammenarbeit auf „fremde Völker und Kulturen“ (Moosmüller 2007: 13) vorzubereiten. I. wird von zahlreichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen erforscht. Ursprungsdisziplin ist die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie. Begründer der Forschungen zur interkulturellen Kommunikation war Edward Twitchell Hall (1981), der die kulturspezifische Nutzung von Raum, Zeit oder Information herausarbeitete. Eine weitere wichtige Fachdisziplin zum Studium von I. ist die Sozialpsychologie, die sich mit der kulturellen Prägung von Fremdwahrnehmungsmustern, Werteorientierungen und Verhaltensweisen von Individuen beschäftigt. Auch die Sprachwissenschaft bzw. speech communication, die sich mit Interaktionen, verbaler und non-verbaler Kommunikation, Semantik und Semiotik beschäftigt, hat die I. beeinflusst. Die interkulturelle Pädagogik untersucht, wie Individuen durch Lernprozesse unterstützt werden können, um interkulturell zu agieren. Dabei stehen Ziele, Inhalte und Methoden interkulturellen Lernens im Mittelpunkt. Die interdisziplinär ausgerichtete Managementforschung mit ihrem Feld „interkulturelles Management“ analysiert I. in Organisationen und dabei v. a. arbeitsbezogene Verhaltensweisen wie Kommunikation, Kooperation und Führung, dgl. Zusammenhänge von multiplen Kulturen wie National-, Organisations- und Berufskulturen. Andere Wissenschaftsdisziplinen wie Soziologie oder Politikwissenschaft sind noch wenig an der Erforschung von I. beteiligt. Sie beschäftigen sich zwar mit Kulturbegriffen und Akteuren, auch in internationalen Kontexten, jedoch weniger mit interkulturellen Interaktionen.

Diese Disziplinenvielfalt mit ihren so unterschiedlichen Paradigmen, theoretischen Bezugsrahmen, Begriffssystemen und Forschungsmethoden stellt eine große Herausforderung dar. Auch das hat dazu geführt, dass die interkulturelle Kommunikation sich bis heute nicht als eigenständige wissenschaftliche Disziplin etablieren konnte.

3. Interkulturelles Lernen und Agieren

In jüngster Zeit beschäftigt sich ein Teil der Forschung mit der konstruktiven Gestaltung von I.: Wie können Individuen in unterschiedlichsten Lebens- und Arbeitsbereichen befähigt werden, mit der Komplexität von I., v. a. mit interkultureller Andersartigkeit samt möglicherweise auftretenden Missverständnissen und Konflikten konstruktiv umzugehen? Interkulturelle Kompetenz, als Kombination von Bewusstsein, Wissen und Handlungsfähigkeit, bildet hierfür die Ausgangsbasis. Sie fußt auf einer kulturrelativistischen Einstellung, die es ermöglicht, kulturelle Eigenarten und Unterschiede als ebenbürtig wahrzunehmen und sie werturteilsfrei zu respektieren, um dementsprechend angemessen mit anderskulturellen Interaktionspartnern zusammenwirken zu können. Zur Darstellung verschiedener Formen von I. im Spannungsfeld von Eigen- und Fremdkultur dient das folgende Modell von Adler (2002).

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4. Ausblick

Interkulturelle Forschung und Praxis waren – v. a. in ihrer US-amerikanischen Anfangszeit – von positivistischen und funktionalen Paradigmen mit deterministisch wirkenden Kategorisierungen und Zuschreibungen geprägt. An deren Stelle treten nun zunehmend interpretative, postmoderne und postkoloniale Paradigmen europäischer und nicht-westlicher Forschung (Postmoderne, Postkolonialismus). Diese Ansätze nehmen I., die sich lange Zeit nur auf Nationalkultur bezog, wesentlich differenzierter und mehrschichtiger wahr: Individuen sind in offene Gesellschaften eingebettet, die zunehmend zur Herausbildung von multiplen Kulturen und hybriden Identitäten führen. Zunehmend werden sozialhistorische Kontexte, dynamische interkulturelle Interaktionsprozesse, Machtasymmetrien und Akteursinteressen berücksichtigt. Um Globalisierung, Europäisierung und multilaterale Beziehungen zu gestalten, ebenso wie für die Organisation interkultureller innergesellschaftlicher und politischer Aushandlungsprozesse, bedarf es einer wechselseitig wertschätzenden Haltung sowie des aufgeschlossenen Verständnisses für kulturelle Unterschiedlichkeit. Erst dann können differenzierte Wahrnehmung und Interpretation anderskulturellen Handelns erfolgen, die Voraussetzung für ein konstruktives Zusammenleben und Zusammenarbeiten sind.