Görres-Gesellschaft

1. Zielsetzung und Aufbau

Die „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft“ (G.-G.) ist eine der ältesten deutschen Wissenschaftsgesellschaften in privater Trägerschaft, ein rechtsfähiger Verein mit Sitz in Bonn. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, „in Bewahrung ihres im katholischen Glauben wurzelnden Gründungsauftrags wissenschaftliches Leben auf den verschiedenen Fachgebieten an[zu]regen und [zu] fördern und die Gelegenheit zum interdisziplinären Austausch [zu] bieten“ (Satzung idF von 2016). Diesen Zweck sucht sie zu erreichen durch

a) wissenschaftliche Arbeit und Nachwuchsförderung,

b) Mitgliederversammlungen, öffentliche Tagungen und Symposien,

c) wissenschaftliche Unternehmungen, insb. durch Gründung und Unterhaltung wissenschaftlicher Institute sowie durch Herausgabe wissenschaftlicher Zeitschriften, Reihen und Einzelwerke,

d) Förderung internationaler Beziehungen und Verbindung mit gleichgesinnten Wissenschaftlern und gleichgearteten Institutionen,

e) Unterstützung wissenschaftlicher Bestrebungen im Sinne der G.-G., bes. durch Gewährung von Stipendien.

Die G.-G. als freie Vereinigung von Wissenschaftlern und Wissenschaftsfreunden aus verschiedenen Berufszweigen gliedert sich, entspr. den Hauptrichtungen der von ihr geförderten wissenschaftlichen Tätigkeit, in Sektionen. Sie unterhält Institute in Rom (seit 1888) und Jerusalem (seit 1908), früher auch in Madrid (seit 1926) und Lissabon (seit 1962) und kooperiert u. a. mit dem Cusanuswerk. Geleitet wird die G.-G. von einem ehrenamtlichen Vorstand, der aus dem Präsidenten, seinen beiden Stellvertretern, dem (hauptamtlichen) Generalsekretär sowie aus sechs Beisitzern besteht. Der Vorstand wird, wie die Leiter der einzelnen Sektionen, von der Mitgliederversammlung gewählt. Die jährlichen Generalversammlungen der G.-G. finden an wechselnden Orten statt, auch in Österreich und in der Schweiz.

2. Entstehung

Die G.-G. repräsentiert ein Stück deutscher Wissenschafts- und Katholizismusgeschichte (Katholizismus) seit dem letzten Drittel des 19. Jh. Gegründet wurde sie in Koblenz am 25.1.1876, dem 100. Geburtstag von Joseph von Görres, dem Vorkämpfer staatsbürgerlicher und kirchlicher Freiheitsrechte. Die Gründungsversammlung wurde von einem preußischen Polizeikommissar samt Stenographen auf „staatsfeindliche Umtriebe“ (Becker 1981: 265) beobachtet. Anlass dazu bildete die Situation des Kulturkampfs, durch den auch katholische Wissenschaftler in erheblichem Umfang benachteiligt wurden (Nichtberücksichtigung der Parität, faktische Berufsverbote und gesellschaftliche Isolierung).

Aus dem Selbstbehauptungswillen einer Gruppe vornehmlich jüngerer Wissenschaftler, insb. des Philosophen Georg von Hertling und des Historikers Hermann Cardauns, Privatdozenten in Bonn, in Verbindung mit dem Kölner Publizisten und Rechtsanwalt Julius Bachem sowie dem von der preußischen Regierung abgesetzten früheren Bonner Oberbürgermeister Leopold Kaufmann kam der Anstoß, die Vorherrschaft des weltanschaulichen Liberalismus zurückzudrängen und eine Gesellschaft „zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland“ (Becker 1981: 265) zu gründen. Der Vereinszweck umfasste das Angebot auch materieller Hilfe insb. an jüngere Gelehrte durch Stipendien und Publikationsmöglichkeiten. Die G.-G. hatte Ende 1876 bereits 730 Mitglieder.

3. Geschichte

Unbeschadet ihrer Gründung als eine Art von Not- und Verteidigungsgemeinschaft trat die G.-G. v. a. durch jährliche Generalversammlungen rasch aus ihrer geistigen Defensivrolle und zeitbedingten apologetischen Akzentuierung heraus, was ihr durch den Abbruch des Kulturkampfs erleichtert wurde. Sie richtete ihre Aktivität als „Laienorganisation“ von Gelehrten – mit Theologen als Mitgliedern, aber ohne eigene theologische Sektion und ohne Konkurrenz zum neugestärkten kirchlichen Lehramt – auf die geistige Auseinandersetzung mit den Problemen der modernen Welt. Das geschah auf dem Fundament des „Bekenntnisses zum christlichen Glauben und Menschenbild in der Tradition der Katholizität, zur Freiheit als personaler und sozialer Kategorie der Staats- und Gesellschaftsgestaltung“ (Böhm 1980: 258) sowie aus der Überzeugung, dass der Verdacht einer Unvereinbarkeit von wissenschaftlicher Rationalität und christlichem Glauben überholt ist.

Die G.-G. begann, durch Beiträge und Spenden ihrer Mitglieder finanziert, ihre Arbeit in vier Fachsektionen: für Rechts- und Sozialwissenschaft (seit 1877), Philosophie (seit 1877), Geschichte (seit 1878) und Naturwissenschaften (seit 1906). Ihre Tätigkeit, die mit „Vereinsschriften“ und Jahrbüchern der Sektionen einsetzte, wurde entscheidend geprägt von ihrem ersten Präsidenten G. von Hertling. Bereits früh gelang es, übergreifende Forschungsunternehmungen in Gang zu setzen, die teilweise bis in die Gegenwart hinein weitergeführt bzw. durch Neubearbeitung fortgesetzt werden konnten, darunter das zunächst wesentlich von J. Bachem (in der 5. Aufl. von Hermann Sacher und in der 6. Aufl. von Clemens Bauer) geprägte, gegen staatliche Omnikompetenz konzipierte „Staatslexikon“ (1. Aufl. 1889–97; 6. Aufl. 1957–61 mit Ergänzungsbänden 1969–70; 7. Aufl. 1985–93; 8. Aufl. 2017–20) sowie Editionen aus dem Vatikanischen Archiv zum „Concilium Tridentinum“ (wesentlich geprägt von Stephan Ehses, Hubert Jedin und Theobald Freudenberger) und zur Geschichte der päpstlichen Hof- und Finanzverwaltung, auch Nuntiaturberichte. Zu den rasch begründeten Zeitschriften der G.-G., die bis heute erscheinen, so das „Historische Jahrbuch“ (seit 1880), die „Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte“ (seit 1887), das „Philosophische Jahrbuch“ (seit 1888), sind inzwischen zahlreiche weitere hinzugetreten.

Der ursprünglich in den Geisteswissenschaften liegende Schwerpunkt der Arbeiten der Gesellschaft hat sich zunehmend, ablesbar an der Errichtung neuer Sektionen und neuer Publikationsreihen, in andere Gebiete ausgeweitet (Kirchenmusik, Pädagogik, Psychologie und Psychotherapie). Als geistig fundierte Gemeinschaft hat sie von vornherein ein „interdisziplinäres Element in ihrem Verständnis als wissenschaftliche Gruppe“ (Becker 1981: 278) aufgenommen und lieferte damit auch einen Beitrag zur wissenschaftlichen Pluralität.

Nachfolger G. von Hertlings als Präsidenten der G.-G. waren die Historiker Hermann von Grauert (1919–24), Heinrich Finke (1924–38) die Rechtswissenschaftler Hans Peters (1940/41, 1948–66) und Paul Mikat (1967–2007), der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Bergsdorf (2008–2015) und der Amerikanist und Literaturwissenschaftler Bernd Engler (seit 2016). Ihrer Zielsetzung entspr. war die G.-G. – die vor dem Ersten Weltkrieg an der römischen Kurie zu Unrecht in den Verdacht „modernistischer Häresie“ geraten war (Modernismus) – nach 1933 den nationalsozialistischen Machthabern verhasst. Sie wurde von ihnen aber zunächst noch – insb. wegen ihrer Auslandsinstitute und des internationalen Ansehens ihres Präsidenten H. Finke – geduldet, allerdings in ihrer Arbeit erheblich behindert, am 11.6.1941 dann vom Reichsminister des Innern aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt. Die Mitgliederzahl lag damals bei knapp über 3 000 (1925 auf ihrem Höhepunkt: bei 4600). Zwischen 1938 und 1948 konnten keine Generalversammlungen stattfinden.

4. Entfaltung in der Gegenwart

Im Oktober 1945 beantragte die G.-G. in Freiburg bei der französischen Militärregierung die Wiederzulassung. 1948 wurde sie im Bonner Vereinsregister eingetragen. Das Römische Institut der G.-G. hatte als einziges deutsches wissenschaftliches Auslandsinstitut auf dem exterritorialen Boden des Campo Santo überlebt. Vorrangig erschienen die in der Nachkriegsnot schwierige Werbearbeit, die Wiederanbahnung enger Beziehungen zur katholischen Kirche (Kardinal Josef Frings 1949) und zum Ausland (Consejo Superior in Madrid), die Wiederbelebung der Sektionen sowie tragender Unternehmungen: des Philosophischen (ab 1946), des Historischen Jahrbuchs (ab 1950) und der großen Editionen (Joseph von Görres, Concilium Tridentinum: beide mit Kriegsverlusten durch die Zerstörung der Verlagshäuser Bachem und Herder). Mit der Absage an das „Vakuum“ wert- und voraussetzungsfreier Wissenschaft, in die folgerichtig die „politische Theologie des Staates“ (Peters 1949: 39) eingebrochen sei, verband Präsident H. Peters auf der Generalversammlung 1949 den Aufruf zur Mitwirkung an der Neugestaltung der Gesellschaft. Die G.-G. müsse die „Defensivstellung“ (Peters 1949: 40) verlassen, neben der Einzelforschung den Blick auf das Ganze richten, dem Zusammenhang zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nachgehen. Sie solle „Nachwuchsförderung“ (Peters 1949: 42) betreiben, möglichst viele katholische Wissenschaftler um sich scharen und für alle an sie herantretenden Kontakte offen sein. Die G.-G. erschloss sich neue Arbeitsgebiete (Medizin, Politische und Kommunikations-Wissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Soziologie) und suchte aus traditionellen Arbeitsfeldern Antworten auf zeitgemäße Fragen zu gewinnen. Der Überbetonung der „Gesamtgesellschaft“ durch die „kritische Theorie“ hielt der Philosoph Max Müller im Anschluss an Thomas von Aquin die „Möglichkeiten personaler Existenz“ entgegen. Das Problem der zunehmenden Orientierungslosigkeit und Gewalt thematisierte die G.-G. 1994. Die Reformvorschläge der „Saarbrücker Viererbande“ von 1967 (Konrad Repgen, Josef Dolch, Hermann Krings, Wieland Siebel) zielten darauf, die G.-G. über den Beirat an den Hochschulorten zu verankern und sie zum Ansprechpartner der Universitätsleitungen und Kultusministerien zu machen. Sie verblieb aber in den Bahnen einer unabhängigen, ehrenamtlichen, von Einzelinitiativen zehrenden Wissenschaftsgesellschaft, die sich erst 2004 eine bescheidene Geschäftsstelle (in Bonn) zulegte. Sie erhielt eine effiziente Leitung von großer Kontinuität durch die Wahl des Bochumer Juristen Paul Mikat (gegen Vizepräsident Johannes Spörl) zum Präsidenten (1967–2007). Er mied die Einmischung in politische und innerkirchliche Konflikte, machte der G.-G. keine inhaltlichen Vorgaben und erwies sich als ein unübertrefflicher Verfechter solider Gelehrtenarbeit. Ihm und seinem Nachfolger, dem Politologen Wolfgang Bergsdorf (2008–2015) gelang es, Repräsentanten des Staates und der Kirche sowie anderer Wissenschaftsorganisationen des In- und Auslands zu den Generalversammlungen hinzuzuziehen. Doch legte die G.-G. stets auch Wert auf die Mitgliedschaft außerhalb des Universitätsbetriebs stehender Gebildeter sowie zunehmend auf konfessionelle Öffnung. Mit einem Ehrenring zeichnet sie seit 1977 verdiente Persönlichkeiten des wissenschaftlichen und öffentlichen Lebens aus. Von 1949 bis 2016 wuchsen die elf Sektionen der G.-G. auf 20 an. Sie publizieren (2017) bei elf Verlagen elf wissenschaftliche Reihen aus verschiedenen Fachdisziplinen, 13 Zeitschriften/Jahrbücher, drei (von fünf) Editionen und fünf Lexika/Handbücher (neben dem StL z. B. das „Lexikon der Bioethik“ und das „Handbuch der Wirtschaftsethik“). Die G.-G. unterhält Auslandsinstitute in Rom und Jerusalem. Der Gesellschaft gehörten 1949 801 und 1975 2 032 Mitglieder an. Ende 2014 hatte sie 2 758 Mitglieder. Die Stagnation bei evidenter Zunahme der Publikationsbreite machte verstärkte Bemühungen um die Nachwuchsförderung (beim Cusanuswerk seit 2007) notwendig, die unter dem 2015 gewählten Präsidenten, dem Tübinger Anglisten Bernd Engler, Intensivierung erfahren.