Enteignung

1. Begriff

Nach der heutigen Rechtsprechung des BVerfG ist die E. im verfassungsrechtlichen Sinn (Art. 14 Abs. 3 GG) „auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver, durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet“ (z. B. BVerfGE 104, 1, 9). In jüngerer Zeit hat das BVerfG den E.s-Begriff darüber hinausgehend weiter reformalisiert und den E.s-Tatbestand auf solche Fälle beschränkt, „in denen Güter hoheitlich beschafft werden, mit denen ein konkretes, der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienendes Vorhaben durchgeführt werden soll“ (BVerfGE 104, 1, 10). In der Folgezeit hat die Verfassungsrechtsprechung diesen „konfiskatorischen“ Ansatz aber nicht durchhalten können. Denn vor dem Hintergrund des Schutzzwecks des Art. 14 Abs. 3 GG kann es keinen Unterschied machen, ob der unter Durchbrechung der allgemeinen Eigentumsordnung erfolgende staatliche Zugriff auf einzelnen Eigentumsgüter mit dem Ziel einer eigenen Nutzung dieser Güter einhergeht oder allein auf die Beseitigung dieses Eigentumsrechts gerichtet ist.

Selbst wenn man den E.s-Begriff weiter fasst und unabhängig von einer eigenen Verwendungsabsicht des Staates auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben beschränkt, schließt dies aus, hoheitliche Beschränkungen des Eigentums, v. a. durch Regelungen der Nutzung des Eigentums, als E. zu qualifizieren. Die Handlungsform E. ist dann von Schrankenbestimmungen des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG strikt getrennt. Während die E. auf den konkret-individuellen Entzug einer von Art. 14 GG geschützten Rechtsposition gerichtet ist, zielen sozialbindende Schrankenziehungen als abstrakt-generelle Regelungen auf die Eigentumsnutzung und bewirken eine – teilweise oder vollständige – Entleerung der formal fortbestehenden vermögenswerten Rechtsposition. Bei diesem Verständnis der E. kann diese, anders als früher, nicht mehr von der Intensität des staatlichen Eigentumszugriffs her begriffen werden. Eine Schrankenziehung schlägt auch bei einer im Einzelfall schweren Beeinträchtigung des privatnützigen Eigentums nicht in eine E. um, sondern bleibt eine – möglicherweise unverhältnismäßige und deshalb verfassungswidrige – Schrankenziehung. Allerdings kann nach der Verfassungsrechtsprechung die Intensität der Belastung im Rahmen von eigentumsbeschränkenden Regelungen gegebenenfalls Ausgleichspflichten bedingen: Die allgemeine Eingriffsgrenze der Verhältnismäßigkeit, die auch bei Schrankenziehungen zu beachten ist, erfordert bei erheblich belastenden Eingriffen einen Ausgleich für die dem Eigentümer auferlegten Nachteile in Gestalt der „ausgleichspflichtigen Sozialbindung“.

Mit der Kreation des Instituts der „ausgleichspflichtigen Sozialbindung“ des Eigentums durch die Rechtsprechung, für die Schwere- und Zumutbarkeitskriterien eine entscheidende Rolle spielen, werden die sich stellenden Probleme in zweifelhafter Weise in den Bereich des Art. 14 Abs. 1 GG verlagert. Dabei sollte nach der Systematik des Art. 14 GG klar sein, dass die Ermächtigung zur ja grundsätzlich entschädigungslosen Schrankenziehung nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG sich nicht nur auf Eigentumsnutzungs-, sondern auch auf Eigentumsbeschneidungen oder -wertbeschränkungen erstrecken soll. Diese Grundsatzentscheidung des Verfassungsgebers darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass bei schwerwiegenderen Beschränkungen mit Hilfe des Grundsatzes des milderen Eingriffs und der Gleichbehandlung im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG ohne Zögern Ausgleichs- oder Entschädigungspflichten postuliert werden. Der sozialgestalterischen Gesetzgebung im Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG würden damit Fesseln angelegt, die in der Verfassung nicht vorgesehen und in dieser Allgemeinheit ausdrücklich nur für die E. bestimmt sind.

In Anwendung des Abgrenzungskriteriums der (Un-)Verhältnismäßigkeit ist die nahezu vollständige Beseitigung der Privatnützigkeit eines geschützten Baudenkmals (Denkmal) durch den Entzug praktisch jedweder sinnvollen Nutzungsmöglichkeit nicht nur keine zulässige Schrankenziehung mehr. Eine Substanz- oder Totalentleerung des Eigentums, die keine Rechtsposition belässt, die den Namen Eigentum verdient, sollte vielmehr als Durchbrechung der Bestandsgarantie des Eigentums zur Verfolgung übergeordneter Ziele des Gemeinwohls und damit E. begriffen werden.

2. Enteignung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes

Eine E. darf nur durch Gesetz (Legal-E.) oder auf Grund eines förmlichen Gesetzes (Administrativ-E.) erfolgen. Die Legal-E. wird nach allgemeiner Auffassung nur unter besonderen Umständen für zulässig gehalten, weil sonst der Rechtsschutz des Bürgers verkürzt werde.

3. Wohl der Allgemeinheit

E.s-Zweck darf nur das Wohl der Allgemeinheit sein (Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG). Die Qualifizierung der E. als gezielte Durchbrechung der Bestandsgarantie führt dazu, dass nur bes. Gemeinschaftsinteressen dieses Erfordernis auszufüllen vermögen, die Eingriffsschwelle also höher liegt als bei der bloßen Eigentumsbeschränkung. Eine E. lediglich „aus allgemeinen Zweckmäßigkeitserwägungen heraus“ ist daher ausgeschlossen. Der vom parlamentarischen Gesetzgeber als dem „Wohle der Allgemeinheit“ dienend ausgewählte E.s-Zweck – die Bestimmung des Gemeinwohlziels ist nur einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich – muss von einem derartigen Gewicht sein, dass es gerechtfertigt ist, um seiner Erfüllung willen private Rechte zu entziehen oder – löst man sich vom engeren E.s-Begriff der Rechtsprechung – (enteignend) zu beschränken, wenn anders die öffentliche Aufgabe nicht verwirklicht werden könnte. Auch Private, d. h. privatrechtlich organisierte öffentliche Unternehmen oder privatwirtschaftliche Unternehmen, dürfen E.s-Begünstigte sein, wenn und soweit die gesetzlich vorgesehenen oder zugelassenen E.s-Zwecke eine i. S. d. so konkretisierten Wohls der Allgemeinheit vorrangige öffentliche Aufgabe darstellen. Gemeinwohl und private Gewinnerzielung schließen sich nicht gegenseitig aus.

4. Entschädigung

Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG macht die E. von einer angemessenen Entschädigung abhängig. Bei der Bestimmung von deren Art und Ausmaß sind die Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten gerecht abzuwägen (Art 14 Abs. 3 S. 3 GG). Die Entschädigung wird nicht schon ausdrücklich durch die Verfassung auf ein volles Äquivalent, den gemeinen Wert oder den Marktwert des Rechtsverlusts festgelegt. Weil aber ein Zugriff auch auf den Vermögenswert des E.s-Objekts dem Übermaßverbot widersprechen würde, weil die vermögensmäßige Gleichheit des Enteigneten und der Nichtenteigneten zu wahren ist und weil die E. nicht als Instrument der Vermögensmehrung der öffentlichen Hand eingesetzt werden darf, hat die Entschädigung demjenigen, dem das Sonderopfer abverlangt wird, grundsätzlich einen äquivalenten Ausgleich für den Rechtsverlust zu geben (zutreffend BGHZ 39, 198, 200).

Die sogenannte Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG verlangt, dass die Entschädigungsregelung im E.s-Gesetz enthalten ist. Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG eröffnet für Streitigkeiten über die Höhe der Entschädigung den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten.

5. Enteignender und enteignungsgleicher Eingriff

Die überkommene Ausgestaltung des E.s-Rechts beruht auf dem Rechtsgedanken der Aufopferung, wie er erstmals in den §§ 74, 75 Einl. PrALR von 1794 formuliert wurde und im Folgenden gewohnheitsrechtliche Geltung (Gewohnheitsrecht) für das gesamte Reichsgebiet erlangte. Eine folgerichtige Anwendung des Aufopferungsgedankens zwingt dazu, über die Fälle der E. im technischen Sinne hinaus eine Entschädigungspflicht nach E.s-Grundsätzen auch in den einer E. gleichartigen Fällen anzuerkennen, in denen durch rechtmäßiges oder rechtswidriges Handeln eines Trägers öffentlicher Gewalt ein als Eigentum geschütztes Recht entzogen oder greifbar beeinträchtigt wird. Die Zivilrechtsprechung begreift daher ungewollte, insb. unvorhergesehene Nebenfolgen an sich rechtmäßigen hoheitlichen Handelns als „enteignenden Eingriff“ und erkennt – so z. B. bei Zufalls- und Unfallschäden – eine Entschädigung zu. Der Betroffene kann sich dieser Folgen nicht im Wege der Abwehr- oder Unterlassungsklage erwehren.

Ein Entschädigungsanspruch aus „enteignungsgleichem Eingriff“, d. h. auf Grund rechtswidriger Beeinträchtigung des Eigentums, wird zum einen anerkannt, wenn es sich um die rechtswidrige Anwendung eines mit gesetzlicher Entschädigungsregelung versehenen E.s-Gesetzes handelt. Ein Entschädigungsanspruch besteht darüber hinaus, soweit es um die Nebenfolgen rechtswidrigen Handelns geht, die im Falle der Rechtmäßigkeit über das Institut des „enteignenden Eingriffs“ zu entschädigen wären, und in Fällen, bei denen sich das hoheitliche Handeln im Falle seiner Rechtmäßigkeit als Konkretisierung der Sozialbindung darstellen würde (Beispiel: die rechtswidrige Zuweisung eines Mieters).