Maoismus

1. Begriff und Definitionen

Der Begriff M. bezeichnet im westlichen wissenschaftlichen Diskurs drei Bedeutungsfelder: a) die historische Phase der Dominanz Mao Zedongs innerhalb der KPCh; b) die Grundzüge seines politischen und philosophischen Denkens; sowie c) seine konkrete politische Herrschaftspraxis („actually existing Maoism“ [Walder 1987]). Die folgenden Ausführungen beziehen sich nur auf das zweite Begriffsfeld. In der VR China ist die Bezeichnung M. ungebräuchlich. Bereits Mao lehnte den Begriff ab, da er eine nicht gegebene Systematik sowie eine Differenz zum Marxismus-Leninismus suggeriere. Sowjetische und osteuropäische Kritiker verwendeten M. zeitgenössisch abwertend als Kampfbegriff. In der VR China wird offiziell der Begriff „Mao-Zedong-Ideen“ verwendet, der seit 1981 als „Kristallisation der kollektiven Weisheit der Führung der KPCh“ (o. V. 1981: 29) definiert wird. Die bis heute gültige Entpersonalisierung wirkt kontinuitätsstiftend. Sie blendet jedoch große Teile der Theoriebildung Maos nach 1957 aus und kennzeichnet diese als Irrweg. Die internationale Rezeption des M. bezieht sich hingegen primär auf Reden und Schriftgut der Spätphase. Für die Gesamtheit der Marxismus-Rezeption in China bis in die Gegenwart werden die Begriffe „sinisierter Marxismus“ oder „Sinomarxismus“ verwendet.

2. Kerninhalte

Offizielle Definitionen beschreiben die theoretischen Leistungen Maos auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Inhaltlich werden die Massenlinie, d. h. die perpetuierte Selektion von im Volk diskutierten Ansichten durch die KPCh und die Transformation „korrekter“ Ansichten in politische Richtlinien, nationale Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sowie ferner das Postulat „die Wahrheit in den Fakten suchen“ herausgestellt. Dieser letzte Aspekt verweist auf Maos induktive Herangehensweise und auf die Betonung konkreter Untersuchungen für politischen Erfolg. Auf analytischer Ebene wird eine Trias aus proletarischem Standpunkt, dem Gesichtspunkt des historischen Materialismus und der dialektischen Methode als Schlüssel für erfolgreiche sozialistische Politik definiert. In der VR China dominiert somit heute ein erkenntnistheoretischer Rückbezug auf Mao. Westliche Definitionen des M. verweisen zumeist auf die spezifischen Adaptionen des Marxismus-Leninismus in China sowie auf deren Rolle als globales Revolutionsvorbild. In der Wissenschaft herrscht bis heute Dissens, ob Mao als origineller Denker betrachtet werden kann. Unter dem Schlagwort der „Sinisierung“ plädierte Mao zeitgenössisch für eine Anpassung der „universellen Gesetze“ des Marxismus an lokale Gegebenheiten und wandte sich gegen doktrinäre Buchgläubigkeit. Neben der machtpolitischen Dimension bzgl. der interpretatorischen Hoheit in Theoriefragen zeigte der Bruch mit der KPdSU um 1960, dass Mao Aspekte wie den Klassenkampf und den gewaltsamen Umsturz kapitalistischer Systeme für unveräußerliche Bestandteile der marxistischen Lehre hielt. Nikita Sergejewitsch Chruschtschows Konzept des friedlichen, parlamentarischen Übergangs in den Sozialismus galt ihm als revisionistisch. Die Notwendigkeit, abstrakte Theorien auf lokale Kontexte anzuwenden, zeigte sich paradigmatisch bei der Behandlung der Bauernfrage. In Anbetracht des Fehlens eines chinesischen Industrieproletariats als Träger der Revolution kommt im M. der Organisation der Bauern, dem Einkreisen der Städte durch die Dörfer (auch auf weltpolitischer Ebene) sowie dem Partisanenkrieg (Guerilla) eine zentrale Bedeutung zu. Wenngleich sich Ansätze hiervon auch im klassischen marxistischen Schriftgut finden, machte erst der praktische Erfolg den M. zum globalen Revolutionsvorbild. Auch wenn im M. der Primat der ökonomischen Basis nicht in Frage gestellt wird, spielt der Überbau eine entscheidende Rolle. Dies gilt sowohl bei der Schaffung revolutionären Bewusstseins als auch bei der Aufrechterhaltung der „permanenten Revolution“ bzw. später der „fortgesetzten Revolution unter der Diktatur des Proletariats“. Das Erlahmen des revolutionären Bewusstseins durch bürokratische Routinen stellte für Mao die größte Gefährdung sozialistischer Staaten dar und bedingte als Gegenmaßnahme Massenkampagnen wie den „Großen Sprung nach vorn“. Im M. gelten Widersprüche als die entscheidende Triebkraft historischer Entwicklung und blieben auch nach dem – im Jahr 1956 postulierten – Übergang zum Sozialismus von fundamentaler Bedeutung. Die konkrete Analyse und Hierarchisierung der jeweiligen Widersprüche ist demnach die wichtigste Aufgabe der Partei (Kommunistische Parteien). Ideologische Ausrichtungskampagnen dienten der Korrektur „falscher“ Ansichten, um das Umschlagen „nicht-antagonistischer“ Widersprüche (innerhalb des Volkes) in „antagonistische“ Widersprüche (zwischen Freund und Feind) zu vermeiden. Insgesamt ist zu konstatieren, dass es sich beim M. nicht um ein statisches Gedankengebäude handelt, sondern um situations- und zeitspezifische Analysen mit teils widersprüchlichem Charakter.

3. Maoismus-Rezeption außerhalb Chinas

Die M.-Rezeption im Westen erlebte während der Studentenproteste 1968 (Studentenbewegungen) eine Hochphase. Der radikale M. der frühen Kulturrevolution, symbolisiert von Rotgardisten und Mao-Bibel, galt vielen Kritikern des Status quo als Alternative zum sowjetischen Modell. Intellektuelle wie Alain Badiou sahen im M. der Kulturrevolution den Versuch, einen Sozialismus jenseits des Korsetts der Parteidiktatur zu schaffen, und betonten dessen emanzipatorische Stoßrichtung („vier große Freiheiten“). Die gewaltsamen Exzesse der Bewegung wurden nicht wahrgenommen oder bagatellisiert. Zahllose Gruppierungen studierten die entkontextualisierten Zitate Maos, diskutierten die Anwendbarkeit in Berufs- und Privatleben und agitierten unter Fabrikarbeitern. Parallel dazu erlebte die gewaltsame Dimension des M. in Form des Partisanenkriegs einen massiven Aufschwung in der Dritten Welt. In Indien und Nepal etwa bestehen bis heute maoistische Bewegungen, während die Mao-Begeisterung im Westen im Verlauf der 1970er Jahre deutlich nachließ.

4. Maoismus heute

Nach der Kulturrevolution wurde der radikale M. der Jahre 1957–76 in der VR China als Linksabweichung kritisiert und seine maßgeblichen Vertreter (v. a. die „Viererbande“) verfolgt. Die politische Neuausrichtung unter Deng Xiaoping wurde zwar ebenfalls mit Zitaten Maos untermauert, die Reformpolitik resultierte aber in einer Abkehr von zentralen Maximen des M., insb. vom Klassenkampf und von der permanenten/fortgesetzten Revolution. Das offizielle dialektische Instrumentarium der maoistischen Widerspruchsanalyse blieb zwar in Kraft; die inhaltliche Stoßrichtung aber galt nunmehr der Bekämpfung „rückständiger gesellschaftlicher Produktion“, de facto mit oftmals kapitalistischen Methoden (Kapitalismus). Heute spielt der radikale M. in China nur noch eine marginale Rolle, während die Mao-Zedong-Ideen nach wie vor Teil der Führungsideologie sind. Die „neue Linke“, ein loser Verbund von Intellektuellen, beruft sich partiell auf Maos Schriften, um Einkommensdisparitäten und Kaderwillkür zu kritisieren. Patriotische Erinnerung und linke Kritik an gegenwärtigen Entwicklungen haben bis zum Amtsantritt Xi Jinpings v. a. online nennenswerte Verbreitung gefunden. Die konkreten, oftmals willkürlichen Herrschaftstechniken des M. erleben indes derzeit einen Wiederaufschwung.