Liebe
L. bezeichnet eine bes. Qualität menschlicher Beziehungen. Erotische Attraktivität, außergewöhnliche Wertschätzung der Person und mitfühlende Fürsorge stellen Dimensionen dar, die in den verschiedenen Formen der L. nicht alle gleichermaßen präsent sind.
1. Formen
Idealtypisch für L. steht die mit starker emotionaler Zuneigung verbundene erotische Geschlechtsbeziehung, in der die Liebenden frei zueinander gefunden haben und füreinander von einzigartiger Bedeutung sind. Ihre L. bezieht sich umfassend auf Person und Lebensvollzüge, Leib und Geist des anderen. L. glückt, indem wechselseitig dem aktiven Part des Liebens das passive, geschenkhafte Geliebt-Werden korrespondiert.
Eltern und Kinder haben in ihrer L. ebenfalls einzigartige Bedeutung füreinander. Ihre Beziehung ist i. d. R. durch Abstammung begründet. Sie ist von Asymmetrien geprägt, die sich im Lebensverlauf auflösen bzw. wandeln. In der körperlichen Nähe und in der Sorge für das leibliche Wohl ist auch der Leib in die L. einbezogen. In den familialen Kontext gehört auch die L. der Geschwister.
Freundschaft ist durch wechselseitige Zuneigung, Wertschätzung und Fürsorge gekennzeichnet. Als frei gewählte und nicht exklusive Bindung markiert freundschaftliche L. den Übergang zur größeren Gemeinschaft.
In der Nächsten-L. (Caritas, Diakonie) rücken auch Personen in das Beziehungsfeld, die nicht schon vertraut sind, sondern aufgrund ihrer Bedürftigkeit Fürsorge erfahren. Die Bibel versteht die Nächsten-L. als das zentrale soziale Gebot; in der Konkretisierung als Feindes-L. wird jede Einschränkung des Personenkreises ausgeschlossen. L. gewinnt einen universalistischen Horizont und rückt nahe an Solidarität und Gerechtigkeit (vgl. Benedikt XVI.: Deus caritas est, 2005, Nr. 26–29).
2. Gottesliebe
In analoger Rede wird in Judentum und Christentum von der L. Gottes gesprochen, die sich in der Heilsgeschichte als frei geschenkte zeigt. Sie wird z. T. in Bildern der erotischen L. und der Eltern-L. dargestellt. Die L. zu Gott ist Annahme und Antwort seiner L. Das Gebot der Gottes- und Nächsten-L. ist Summe christlicher Ethik, wobei im Nächsten zugleich Gott geliebt wird. Mit Glaube und Hoffnung gehört die L. zu den göttlichen Tugenden und wird als deren größte hervorgehoben (1 Kor 13,13).
3. Personale und gesellschaftliche Bedeutung
L. zeigt die Sozialbedürftigkeit und -fähigkeit des Menschen in besonderer Deutlichkeit und in ihrer Attraktivität: Die Sorge füreinander schafft erweiterte Lebensmöglichkeiten; die intensiven Beziehungen ermöglichen Entwicklungen der Personen und gegenseitige Welterschließung; die Nähe wird als Bereicherung und Glück erfahren. L. kommt so grundlegende Bedeutung für die Gesellschaft zu. Diese ist darauf angewiesen, dass L. auch über den engen Nahbereich hinaus als Solidarität praktiziert wird, um allen Mitgliedern ein menschenwürdiges Leben und einen gerechten Anteil am Wohlstand (Wohlfahrt) zu sichern. Caritas bedarf in komplexen Gesellschaften auch einer organisierten Gestalt und einer staatlichen Absicherung (Sozialstaat).
In der neuzeitlichen Entwicklung werden intime Beziehungen zunehmend von Vorgaben anderer gesellschaftlicher Bereiche freigesetzt, so dass L. Paarbeziehung und Familie begründen und strukturieren kann. Ihr Anspruch auf Höchstrelevanz kann zu religionsanalogen Qualitäten führen („Liebe als Nachreligion“ [Beck/Beck-Gernsheim 1990: 231]). Zugleich sieht sich L. in der Moderne Spannungsverhältnissen und der Konkurrenz von Handlungslogiken – etwa zwischen Gabe und Aufrechnung – ausgesetzt, die auch in die L.s-Beziehungen selbst eindringen.
4. Normativität und politische Gestaltung
Aus der L. selbst entspringen Handlungsimpulse, die von Wohlwollen, Achtung und Solidarität geprägt sind. Die L. in Partnerschaft und Familie erfährt weitere gesellschaftliche und religiöse Normierungen, die auch der Einordnung der L.s-Beziehung in das Ensemble der Funktionssysteme dienen. Das kirchliche Lehramt bindet den sexuellen Ausdruck erotischer L. an die Ehe.
L. ist als Teil der privaten Freiheitssphäre von staatlichen Regelungen freizuhalten, solange Rechte Beteiligter nicht verletzt werden. Jedoch muss der Staat Schutz vor Vernachlässigung und familiärer Gewalt gewährleisten. Im Interesse realer Freiheit sind auch die Voraussetzungen zu sichern, die dem Gelingen und der Formgebung der L.-Beziehungen dienen (z. B. Bildung, Beratung, Rechtsinstitute, insb. Ehe). Andere gesellschaftliche Funktionssysteme müssen Raum und Zeit für die Eigenlogik der L. lassen und z. B. die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit gewährleisten.
Literatur
C. Breitsameter: Liebe. Formen und Normen, 2017 • S. Goertz/C. Witting (Hg.): Amoris laetitia. Wendepunkt für die Moraltheologie?, 2016 • M. Ebner u. a. (Hg.): Liebe, in: JBTh 29 (2015) • I. Karle: Liebe in der Moderne, 2014 • M. C. Nussbaum: Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014 • E. Illouz: Warum Liebe weh tut, 2012 • E. Özmen: Freundschaft, in: NHphG, Bd. 1, 2011, 833–841 • J.-C. Kaufmann: Was sich liebt, das nervt sich, 2008 • B. Laux: In Verteidigung der Liebe, in: JCSW 49 (2008), 269–295 • A. Giddens: Wandel der Intimität, 1993 • U. Beck/E. Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe, 1990 • N. Luhmann: Liebe als Passion, 1982 • P. L. Berger/H. Kellner: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit, in: SozW 16/3 (1965), 220–235.
Empfohlene Zitierweise
B. Laux: Liebe, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Liebe (abgerufen: 31.10.2024)