Öffentliche Meinung: Unterschied zwischen den Versionen

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W. Schulz: Öffentliche Meinung, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Öffentliche Meinung}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 15. August 2021, 11:51 Uhr

Es ist üblich, von der ö.n M. im Singular zu sprechen und damit die in einer Gesellschaft vorherrschenden, allg. akzeptierten Ansichten oder Überzeugungen zu bezeichnen. Die ö. M. kann dem Einzelnen eine Richtschnur für das Verhalten im sozialen Umgang bieten. Sie kann Politikern als Orientierung bei ihren Entscheidungen dienen. Obwohl schwer greifbar, ist die ö. M. eine soziale Tatsache („fait social“, [Durkheim 1895: 19]), die den Einzelnen in der Gesellschaft zwar angeht, mitunter sogar als Zwang empfunden wird, die aber ein vom Einzelnen unabhängiges Eigenleben führt. Das gilt ähnlich für soziale Phänomene wie Zeitgeist, Sitte oder Tabu. Auf die ö. M. wird in vielen Zusammenhängen Bezug genommen, u. a. in der Politik, im Rechtswesen, in der Wirtschaft, in den Medien, in der Alltagssprache. Doch die Vorstellungen davon, was ö. M. ist, wie sie entsteht, wie und warum sie sich ändert, sind sehr unterschiedlich. Entspr. vielfältig sind die Versuche, die ö. M. begrifflich zu bestimmen. Dass die Massenmedien die ö. M. artikulieren ist genauso umstritten wie die Auffassung, dass sich die ö. M. mittels Meinungsforschung messen lässt.

1. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung

Weil sie ein allgegenwärtiges, jedoch schwer zu erklärendes Phänomen ist, fasziniert die ö. M. Philosophen und Staatstheoretiker, Historiker und Soziologen seit Jh. Bezüge auf das Phänomen ö. M. finden sich bereits in Schriften der griechischen und römischen Antike. Als politische Kategorie spielt die ö. M. in den staatsphilosophischen Schriften des 16. bis 18. Jh. eine Rolle, so etwa in Frankreich bei Michel de Montaigne als „l’opinion publique“, bei Jean-Jacques Rousseau als „volonté generale“, in England bei John Locke als „law of opinion“, bei David Hume als „climate of opinion“. In der neueren Zeit widmeten Ferdinand Tönnies und Wilhelm Bauer der ö.n M. umfangreiche Abhandlungen. Für die gegenwärtige Auffassung von ö.r M. waren Arbeiten von Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Elisabeth Noelle-Neumann einflussreich.

Als politische Kategorie gewann die ö. M. ihre für die Gegenwart prägende Bedeutung in der Epoche der Aufklärung. Mit der Emanzipation des Bürgertums und der Verbreitung einer unabhängigen politischen Presse entstand eine politische Öffentlichkeit als Sphäre zwischen Staat und Gesellschaft. Dass die publizistischen Medien für die Formation und Artikulation der ö.n M. eine wichtige Rolle spielen, ist für das heutige Verständnis liberaler Demokratie zentral. Im berühmten Spiegel-Urteil von 1966 nimmt das BVerfG auf die ö. M. Bezug und weist der Presse eine wichtige Rolle zu: „In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung; die Argumente klären sich in Rede und Gegenrede, gewinnen deutliche Konturen und erleichtern so dem Bürger Urteil und Entscheidung“ (BVerfGE 20,174 f.). Diese Formulierung vereinigt zwei verbreitete Deutungen: erstens dass die Presse und andere publizistische Medien das Forum sind, auf dem sich ö. M. im öffentlichen Diskurs bildet; zweitens, dass die Medien das Organ der ö.n M. sind und als Sprachrohr den Themen, Argumenten und Urteilen Gehör verschaffen, die für die Meinungsbildung der Bürger bedeutsam sind.

Während die Organ-Metapher an Popularität eingebüßt hat, werden Analogien wie Forum, Markt, Arena und Spiegel gern verwendet, um eine Vorstellung von ö.r M. zu vermitteln. Das Bild des Forums veranschaulicht ein zentrales Merkmal der politischen Öffentlichkeit, nämlich dass es sich um eine offene, für jedermann zugängliche Sphäre handelt. Das waren in früheren Gesellschaften die Stadt und darin die griechische Agora, das römische Forum und schließlich der mittelalterliche Marktplatz. In den Flächenstaaten der Moderne stellen die Medien virtuell die Sphäre der Öffentlichkeit her. Da mediale Kommunikation, insb. Kommunikation im Internet heute nicht mehr an nationalstaatliche Grenzen gebunden ist, trägt sie zum Entstehen einer transnationalen Öffentlichkeit bei. Im Spiegel-Modell dient die – medial hergestellte – Öffentlichkeit dazu, dass sich die Gesellschaft selbst beobachten kann. Das Arena-Modell verweist auf unterschiedliche Rollen von Akteuren in der Öffentlichkeit, und zwar einerseits „Darsteller“ (wie Politiker, Experten, Prominente) in der Arena und andererseits das zuschauende Publikum auf den „Rängen“ (z. B. vor den Bildschirmen). Die digitalen Medien brachten als neuen Akteurstypen den „Prosumer“ hervor, der Beiträge im Internet und in sozialen Netzwerken nicht nur konsumiert, sondern auch selbst produziert. Das Arena-Modell ermöglicht außerdem die Unterscheidung von Ebenen der Meinungsbildung mit unterschiedlicher Reichweite und Teilnehmerzahl, u. a. verschiedene Versammlungsöffentlichkeiten und die Medienöffentlichkeit. Das Markt-Modell soll verdeutlichen, dass interessierte Akteure bei der Durchsetzung von Themen und Meinungen um öffentliche Aufmerksamkeit konkurrieren. Die ö. M. ist dann die herrschende Meinung, die sich durch Kommunikation in der Öffentlichkeit durchgesetzt hat.

Dass die ö. M. aus kommunikativen Prozessen hervorgeht, in denen sich Argumente in Rede und Gegenrede „klären“, wie es das BVerfG ausdrückt, ist eine stark idealisierte Auffassung, inspiriert v. a. durch die Arbeiten von J. Habermas. Nach dessen Darstellung der Geschichte der ö.n M. nahm bereits in der Mitte des 18. Jh. „opinion publique die strenge Bedeutung einer Meinung an, die durch kritische Diskussion in der Öffentlichkeit zur wahren Meinung geläutert ist“ (Habermas 1962: 118). J. Habermas entwirft das Idealmodell einer „deliberativen Demokratie“, in der politische Auseinandersetzungen mit rationalen Argumenten diskursiv geführt werden, um kollektive Akzeptanz durch zwangfreie Überzeugung zu erreichen. Eine Voraussetzung dafür ist der freie und egalitäre Zugang zur Öffentlichkeit für alle Bürger. Die hohen Ansprüche dieses Modells lassen sich in Massendemokratien und in medial hergestellten Öffentlichkeiten nur zu geringen Teilen erfüllen. Mit dem neueren Medienwandel kam anfangs die Hoffnung auf, durch das Internet entstünde eine Online-Öffentlichkeit, die J. Habermas’ Idealmodell näher käme. Inzwischen werden im Hinblick auf Öffentlichkeit und ö. M. nicht nur die Chancen, sondern zunehmend auch die Risiken des Internets und der sozialen Medien (Social Media) breit diskutiert.

2. Funktionen

Ein Ansatz zum Verständnis des Phänomens ö. M. besteht darin, nach dessen Funktionen bzw. Leistungen zu fragen. Eine Leistung der ö.n M. besteht in der Auswahl von Themen, zu denen sich Meinungen bilden können, um so die „Beliebigkeit des politisch […] Möglichen“ (Luhmann 1970: 6) einzuschränken. Die Auswahl politischer Themen geschieht nach bestimmten Aufmerksamkeitsregeln. Öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich u. a. auf Krisen oder Krisensymptome, auf Akteure mit hohem Status und auf die Neuigkeit von Ereignissen. In einer anderen, weniger abstrakten Betrachtung handelt es sich dabei um Entscheidungsregeln von Journalisten. Sie helfen den publizistischen Medien, den Nachrichtenwert von Ereignissen zu bestimmen und so eine strukturierte Auswahl aus der Vielfalt des täglichen Geschehens zu treffen.

Wichtige Funktionen werden der ö.n M. in Bezug auf politische Herrschaft und insb. im Hinblick auf das Funktionieren des demokratischen Staates zugeschrieben. Die ö. M. gilt einerseits als Kontrollorgan staatlicher Politik. Andererseits hat sie auch eine Orientierungsfunktion. Das gilt selbst für die Machthaber in totalitären Systemen (Totalitarismus), die mit Geheimdiensten und Spitzelsystemen die Stimmung der Bevölkerung zu ermitteln suchen. In demokratischen Systemen sind Parteien, Parlamente und Regierung weitgehend auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen. Der Grad der Zustimmung kommt periodisch bei Wahlen zum Ausdruck, wird aber auch kontinuierlich durch Meinungsumfragen und Medienbeobachtung ermittelt. Diese Quellen gelten als Gradmesser der politischen Responsivität, d. h. inwieweit politische Entscheidungen der ö.n M. Rechnung tragen. Internet und soziale Medien bieten inzwischen nicht nur neue Möglichkeiten der Beobachtung von Wählermeinungen, sondern auch der Förderung der Responsivität durch direkte, netzbasierte Kommunikation zwischen Politikern und Wählern.

In der Soziologie ist es üblich, zwischen manifesten und latenten Funktionen eines sozialen Phänomens zu unterscheiden. Als manifest wird eine bewusste und beabsichtigte Funktion bezeichnet, als latent eine unbeabsichtigte und nicht oder wenig bewusste Funktion. Entspr. dieser Unterscheidung kann man die Kontroll- wie auch die Orientierungsfunktion als manifeste Funktionen der ö.n M. ansehen. Eine latente Funktion besteht demgegenüber in der sozialen Kontrolle des alltäglichen Verhaltens. Die ö. M. entfaltet mitunter einen Konformitätsdruck, dem sich der Einzelne nicht entziehen kann, weil er sonst in eine peinliche Situation gerät oder sogar gesellschaftliche Isolation fürchten muss.

3. Meinungsforschung und Meinungsbeeinflussung

Eine Möglichkeit, die ö. M. empirisch zu ermitteln, bietet die Meinungsforschung (Demoskopie). Unter bestimmten methodischen Voraussetzungen lassen Stichproben mit meist wenigen tausend Befragten Rückschlüsse auf die Meinungsverteilung in der Gesamtbevölkerung zu. Dagegen, dass die so erfragte Mehrheitsmeinung als die ö. M. gelten kann, argumentierten v. a. Anhänger einer als „Elitekonzept“ der ö.n M. bezeichneten Auffassung. Danach vertreten nur die informierten und urteilsfähigen Bürger – insb. gewählte Volksvertreter – die ö. M. Tatsächlich liefern die Umfragen zunächst nur eine statistische Zusammenfassung vieler Einzelmeinungen zu einer Mehrheitsmeinung. Als ö. M. in einem anspruchsvollen Sinn kann die Mehrheitsmeinung dann angesehen werden, wenn von ihr ein Konformitätsdruck ausgeht. Das ist der Fall, wenn es sich um eine wertgeladene, insb. moralisch aufgeladene Mehrheitsmeinung handelt, zu der man sich öffentlich bekennen muss, wenn man sich nicht gesellschaftlich isolieren will, oder die man öffentlich vertreten kann, ohne sich zu isolieren.

Mit dem Modell der Schweigespirale beschreibt E. Noelle-Neumann den Prozess, der zu einer Änderung der ö.n M. bzgl. eines umstrittenen, moralisch aufgeladenen Themas führen kann. Ausschlaggebend dafür ist, dass die Anhänger einer bestimmten Meinungsposition bes. redebereit sind, weil sie sich subjektiv in der Mehrheit fühlen, während die Anhänger der Gegenposition weniger redebereit sind, weil sie sich subjektiv in der Minderheit fühlen. In dieser Situation setzt ein sich selbst verstärkender Prozess ein, in dessen Verlauf die redebereiten Anhänger der vermeintlichen Mehrheitsposition zunehmend stärker erscheinen, die eher schweigsamen Anhänger der Gegenposition zunehmend schwächer. Die (Fehl-)Annahmen über Mehrheits- und Minderheitsmeinung, aus denen die Dynamik der Schweigespirale resultiert, können zum einen auf einer kollektiven Fehlwahrnehmung des Meinungsklimas beruhen, wie es z. B. das Phänomen der „pluralistic ignorance“ beschreibt (d. h. die Mehrheit täuscht sich über die Meinung der Mehrheit). Zum anderen können dafür auch die Massenmedien verantwortlich sein, wenn in diesen hauptsächlich eine Sichtweise eines umstrittenen Themas zu Wort kommt und damit der Eindruck entsteht, dass dies die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung sei. Die Theorie der Schweigespirale gilt daher auch als eine Theorie der Medienwirkung.

Theorien der Medienwirkung wie auch Ergebnisse der Meinungsforschung sind eine Grundlage für Bemühungen um die Beeinflussung der ö.n M. durch Aufklärungskampagnen und Wahlkämpfe, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (PR). Welchen Einfluss die Medien auf die ö. M. ausüben, ist daher nicht nur von theoretischer, sondern auch von praktischer Bedeutung. Daher werden von der Praxis – wie auch von der interessierten Öffentlichkeit – möglichst eindeutige und einfache Erklärungen für Medienwirkungen auf die ö. M. erwartet. Diesem Anspruch kann allerdings die Wissenschaft kaum nachkommen, weil die Erklärungen von vielen Zusatzbedingungen abhängen, u. a. von verschiedenen Inhalten und Formaten der Medien und von wechselnden situativen Bedingungen, insb. vom politischen und vom medialen Wandel.

In der ersten Hälfte des vergangenen Jh. gingen wissenschaftliche Erklärungen zunächst davon aus, dass die Bevölkerung die in der Presse und im Radio verbreiteten Meinungen häufig übernimmt. Diese Erklärungen orientierten sich an Wirkungsannahmen, wie sie aus der klassischen Rhetorik und der politischen Propaganda bekannt waren. In amerikanischen Wahlstudien der 1940er und 1950er Jahre zeigte sich jedoch ein begrenzter Einfluss der Medien auf Meinungen, weil das Publikum Medieninhalte nicht passiv konsumiert, sondern aktiv so auswählt, dass sie bereits bestehende Überzeugungen bestärken. Neue Theorien, die in den 1960er Jahren aufkamen, konzentrierten sich auf die mediale Vermittlung von Vorstellungen über die Realität. Prominentestes Beispiel ist das Agenda-Setting-Modell, das davon ausgeht, dass die Massenmedien durch ihre Auswahl und Gewichtung der Themen, die in der ö.n M. vorherrschenden Themen prägen. Eine wichtige Erklärung dafür waren die spezifischen Wirkungsbedingungen des damals neuen Mediums Fernsehen. Das Fernsehen gilt als bes. glaubwürdig und begünstigt zudem passiven Medienkonsum, schränkt also aktives Selektionsverhalten ein. Mit der Verbreitung neuer digitaler Medien änderten sich erneut die Bedingungen, unter denen Einfluss auf die ö. M. zu erwarten ist. Dank einer enormen Angebotsvielfalt können Mediennutzer nun zielgenau die Inhalte auszuwählen, die ihre bestehenden Meinungen nur bestärken und nicht verändern. Zudem verlagerte sich die Mediennutzung mehr und mehr auf Online-Angebote und soziale Netzwerke. Deren Inhalte sind zunehmend auf die spezifischen Interessen der jeweiligen Nutzer zugeschnitten, sodass sich diese in einer Art „Filterblase“ von bestätigenden Fakten und Meinungen bewegen. Als Folge wird eine zunehmende Fragmentierung und Polarisierung der ö.n M. befürchtet.