Komplexität

1. Begriff

Der Begriff K. (von lateinisch complectere: umfassen, umschließen) bezeichnet eine Eigenschaft von Systemen, deren konstitutive Elemente und ihre Eigenschaften zwar bekannt sind, aus denen das Verhalten und die Entwicklung des Gesamtsystems aber nicht hergeleitet werden können. Auch wenn man also sämtliche Elemente, die in ihrer Wechselwirkung ein System begründen, und ihre für das System relevanten Eigenschaften kennt, lässt sich keine vollständige Voraussage über den kausalen Einfluss der Elemente auf das Gesamtsystem treffen. Lassen sich die Elemente vollständig beschreiben und lässt sich dadurch dennoch nicht erklären oder vorhersagen, welche Strukturen das Gesamtsystem in zukünftigen Zeitpunkten annimmt, dann bezeichnet man einen zwar durch die Elemente verursachten, aber nicht erklärbaren Übergang des Systems in einen neuen Zustand als Emergenz (von lateinisch emergere: auftauchen).

Ursache dafür, dass Systemen die Eigenschaft der K. zugesprochen werden kann, sind die mannigfaltigen und nicht überschaubaren Wechselwirkungen zwischen den Elementen, die in ihrem systematischen Zusammenwirken unvorhersehbare, d. h. emergente Gesamtwirkungen entfalten. Die Emergenz von Systemzuständen wird in schwache und starke Emergenz unterteilt. Schwache Emergenz beschreibt die Annahme, dass ein System nur nach aktuellem Forschungsstand als komplex erscheint, dass es aber möglich wäre, seine Zustandsänderungen unter besseren Modellierungsbedingungen vollständig zu erklären. Es handelt sich hier also um das u. U. behebbare Problem der Datenkompression. Starke Emergenz hingegen behauptet die prinzipielle Unerklärbarkeit der Entwicklungen komplexer Systeme. Im Rahmen der Emergenz neuer Zustände eines Systems spricht man auch von einer spontanen Selbstorganisation oder von der Herausbildung spontaner Ordnungen.

K. ist ein disziplinübergreifender Begriff, der in Sozialwissenschaften ebenso eine Rolle spielt wie in den Naturwissenschaften, der Mathematik und den Geisteswissenschaften. Der Verweis auf die Existenz komplexer Systeme kann als Argument gegen einen reduktionistisch-deterministischen Physikalismus angeführt werden, demzufolge im Sinne des „Laplaceschen Dämons“ eine Berechnung aller vergangenen und zukünftigen Zustände der Welt möglich wäre, wenn man sämtliche Naturgesetze und alle Initialbedingungen wie Masse, Lage oder Geschwindigkeit aller im Kosmos existenter physikalischer Teilchen kennen würde. Die K.s-Theorie (die Lehre von den Eigenschaften komplexer Systeme) wird von wissenschaftlichen Feldern wie der Chaostheorie oder der Systemtheorie flankiert.

2. Sozialwissenschaftliche Bedeutung

Der Begriff der K. wird in der Ökonomie und ihren Nachbardisziplinen seit den 1990er Jahren zunehmend gebräuchlich. Dabei richtet sich K.s-Ökonomik im Regelfalle gegen die Vorstellungen allgemeiner Gleichgewichtsmodelle und schlägt vielmehr vor, wirtschaftliche Prozesse als komplexe Entwicklungen mit emergenten Ergebnissen zu behandeln. Flankiert wird sie dabei von Ansätzen wie der Evolutionsökonomik (evolutionary economics), die wie die K.s-Ökonomik davon ausgeht, dass wirtschaftliche oder gesellschaftliche Systeme nicht linear modellierbar und damit in ihrer Entwicklung nicht prognostizierbar sind. Eine der häufigsten Kritiken entzündet sich an dieser Untauglichkeit zur Erstellung präziser Prognosen, da dies den wissenschaftlichen Nutzen der K.s-Forschung stark zu mindern scheint. Vertreter komplexitätstheoretischer Ansätze betonen dagegen die Möglichkeit von Mustervoraussagen und Wahrscheinlichkeitsargumenten einerseits sowie den Nutzen der Ergänzung und der Kritik realitätsferner Gleichgewichtmodelle andererseits.

In der heutigen K.s-Forschung spielen computergestützte Modellierungen komplexer Systeme eine besondere Rolle, wie bspw. das seit 1989 am Santa Fe Institute entwickelte Modell einer computersimulierten Börse. Komplexe Modelle bestehen dabei aus Elementen, oft „Akteure“, deren Verhaltensweisen durch bestimmte Algorithmen festgelegt sind und die in mannigfacher Wechselwirkung zueinander stehen, wodurch sie ein Gesamtsystem konstituieren. In den meisten Modellen führen diese Akteure eine bestimmte Anzahl von Aktionen in bestimmter Abfolge durch. Dabei ist die jeweilige Aktion des Einzelakteurs unter gegebener Information über den genauen Zustand des Gesamtsystems vorhersagbar, nicht aber die Entwicklung des Gesamtsystems selbst, dass durch die unüberschaubar vielen Wechselwirkungen in seiner Entwicklung nicht prognostizierbar ist und in dem dadurch schwach emergente Zustände beobachtbar sind.

Neben der modernen computergestützten K.s-Forschung lassen sich jedoch auch ältere Traditionen auffinden, die im Bezug auf soziale Erscheinungen von K. sprechen. Bereits in der klassischen Ökonomie und später besonders in der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie (Historismus in der Wirtschaftswissenschaft) sowie der Österreichischen Schule der Nationalökonomie findet sich die Annahme, das auch einfache gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen nur als komplexe Prozesse verstanden werden können. Besonders Friedrich August von Hayek bemüht sich seit den 1950er Jahren um eine Definition und Anwendung des K.s-Begriffs und seiner funktionalen Bedeutung für das Entstehen „spontaner Ordnungen“, die bestimmten musterhaften Entwicklungen folgen und die in einem evolutionären Prozess entstehen, der nur im Nachhinein plausibilisiert, aber nicht im Vorhinein prognostiziert werden kann. Spätere Ansätze der K.s-Ökonomik gehen daher häufig auf F. A. von Hayek zurück.