Historismus in der Wirtschaftswissenschaft

Wissenschaftlich werden mit dem Begriff H. in erster Linie bestimmte Denkweisen und Erkenntnismethoden bezeichnet, die in der europäischen Welt des 18. Jh. wurzeln, sich in den beiden folgenden Jh. am nachhaltigsten in Deutschland entfalten konnten und bis in die Gegenwart fortwirken. Historistisches Denken beruht dann – grob gesagt – auf drei miteinander verwobenen Prämissen: Weil sich die Menschen ändern, kann ihre Welt nicht statisch begriffen werden (Dynamik). Daher ist es abwegig, Wertesysteme und Verhaltensweisen anhand absoluter Kriterien beurteilen zu wollen (Relativismus). Um verstehen zu können, welche Entwicklungen sich im Laufe der Zeit an verschiedenen Orten vollzogen haben, müssen die jeweils relevanten Tatsachen im Detail erforscht werden (empiristischer Positivismus). Mit diesen Sichtweisen beansprucht der H. Geltung für sämtliche Bereiche menschlicher Kultur (Sprache, Literatur, Kunst, Moral, Religion, Recht, Politik, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft). Entspr. durchdrang er nach und nach alle Disziplinen jenseits der Formal- und Naturwissenschaften, allerdings mit unterschiedlicher Intensität, je nachdem, wie stark er als konstitutive oder (nur) komplementäre Erkenntnismethode zum Zuge kam. Die mögliche Bandbreite solcher Infiltration offenbart die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft recht gut, weil deren Akteure seit Anbeginn kontrovers darüber diskutieren, ob und wie sie sich verschiedenster mathematisch-naturwissenschaftlicher und/oder geistes- wie sozialwissenschaftlicher Methoden bedienen sollten.

Historistische Elemente finden sich in den Forschungszielen und Erklärungsansätzen all jener Ökonomen, deren Denkstil folgendermaßen zu charakterisieren ist. Er ist relativistisch, weil die ökonomische Realität im raum-zeitlichen (geschichtlichen) Zusammenhang betrachtet wird; realistisch, weil weder mit der rationalistischen Kunstfigur des homo oeconomicus noch mit axiomatischen (mathematischen) Modellen hantiert wird; holistisch, weil das Erkenntnisinteresse auf Institutionen wie Gesellschaft, Gemeinschaft(en), Staat, Volk, Nation und Volkswirtschaft konzentriert ist, die jedoch nicht als bloße Summe ihrer Teile, sondern als selbstständige und übergeordnete Ganzheiten zu deuten sind; meist organizistisch und damit anti-mechanistisch, weil ökonomische Erscheinungen eher in Analogie zu biologischen Lebensvorgängen als zu physikalischen Gesetzen gesehen werden, weshalb Kausalanalysen häufig von teleologischen Betrachtungen überlagert sind; evolutorisch, weil vorrangig die Entwicklung (Dynamik), speziell der Fortschritt, von Gesellschaft und Wirtschaft untersucht wird; ethisch-normativ, weil die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungen nicht nur beschrieben, sondern auch bewertet werden, um Handlungsempfehlungen geben zu können; insofern empiristisch, als die induktive (wirtschaftshistorische und -statistische) Ermittlung von Tatsachen im Vordergrund steht und erforderlichenfalls der Theoriebildung vorausgeht; sozial-/kultur-/geisteswissenschaftlich, weil der gesamte Wissenschaftsschatz der mit den Menschen und ihrem Zusammenleben befassten Disziplinen in den ökonomischen Erkenntnisprozess einbezogen werden soll. Darüber hinaus eint diese Denkkollektive vielfach ihre oppositionelle Haltung gegenüber anderen wirtschaftswissenschaftlichen Richtungen, namentlich der klassischen (Klassische Nationalökonomie) und neoklassischen Wirtschaftstheorie in all ihren Verästelungen sowie bestimmten sozialistischen (Sozialismus), insb. marxistischen (Marxismus) Lehren.

Zur Verbreitung historistischen Gedankenguts trug wesentlich die romantische Bewegung (Politische Romantik) um die Wende vom 18. zum 19. Jh. bei, indem sie den Menschen für nicht ausrechenbar hielt sowie rückwärtsgewandt das „organisch Gewordene“ suchte und idealisierte. In der Nationalökonomie war es v. a. Adam Heinrich Müller, der zeitlos-abstrakte und materialistische Deutungen des Wirtschaftlichen zurückwies und auf qualitative Dimensionen wie das „Gesamtbedürfniß der menschlichen Natur“ (Müller 1809: 252) abhob. Ohne romantische Verklärung exponierte Friedrich List in seinem „organisch-nationalen System der politischen Oekonomie“ (1841) die historistische Entwicklungsidee: Auch wirtschaftlich seien die Veränderungsprozesse das Wesentliche. Sie vollzögen sich zudem in mehreren Stufen. Da dies indes kaum im Gleichschritt aller Länder geschehe, habe es die Wirtschaftswissenschaft nicht mit einer „Weltökonomie“, sondern mit „Nationalökonomien“ auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus zu tun.

Da einflussreiche deutschsprachige Volkswirte schon um die Mitte des 19. Jh. begannen, historistische Prinzipien systematisch anzuwenden, ist es üblich, von einer Älteren Historischen Schule zu sprechen. Wilhelm Roscher schuf mit seinem Werk „Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft. Nach geschichtlicher Methode“ (1843) das Programm für ein „System der Volkswirthschaft“, das in fünf Bänden als „Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende“ (1854–94) bis zur Jh.-Wende Maßstäbe setzte. Grundlegend war für W. Roscher die „Lehre von den Entwickelungsgesetzen der Volkswirthschaft, des wirthschaftlichen Volkslebens“ (Roscher 1854: 22), wobei diese holistischen Gesetze nicht dauerhaft Gültiges, sondern räumlich und zeitlich divergierende Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung bezeichneten. Indem damit teleologisch die Erwartung verbunden wurde, „höhere Kulturstufen“ zu erreichen, fügte sich diese historistische Nationalökonomie in den „Kreis der moralisch-socialen Disciplinen“ (Kautz 1858: VI) ein. Um die „speciellen Thatsachen einzelner Völker und Entwickelungsmomente“ (Hildebrand 1848: 27) besser erfassen zu können, waren zudem Bruno Hildebrand und sein Schüler Karl Knies bemüht, die Datenerhebung zu institutionalisieren und die „Statistik als selbständige Wissenschaft“ (1850) zu begründen. Der Anspruch der genannten Autoren, eine „politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpuncte“ (Knies 1883) her zu formen, schloss jedoch nicht aus, bestimmte ahistorische Positionen, z. B. in der Güterwertlehre oder der Geldtheorie, zu akzeptieren.

Homogener erscheint dagegen das Programm der Jüngeren Historischen, treffender: Historisch-Ethischen Schule, das Gustav Schmoller geformt und wirkungsvoll vertreten hat. Er verortete die Ökonomik eindeutig bei jenen Wissenschaften, „welche sich von den Bedingungen des Raumes, der Zeit und der Nationalität nicht trennen lassen“ (Schmoller 1860: 463) und daher „von der polyhistorischen Datensammlung zur Specialuntersuchung der einzelnen Epochen, Völker und Wirtschaftszustände überzugehen“ habe (Schmoller 1900: 118). Allerdings sollte dies nicht (nur) aus antiquarischem Interesse geschehen, sondern in der Absicht, aus dem Material Schlüsse im Hinblick auf aktuell zu lösende, namentlich soziale Probleme zu ziehen. Dabei abstrakt-isolierend und rational-deduktiv vorzugehen, wie es u. a. die österreichische Grenznutzenschule tat, lehnte G. Schmoller strikt ab, da allein historisch-induktives Forschen „feststehende Wahrheiten“ (Schmoller 1897) über unterschiedlichste Volkswirtschaften hervorbringe. Volkswirtschaften seien zweckgerichtete Gebilde, untrennbar mit Natur, Technik, Gesellschaft, Kultur, Sitte und Recht und deren jeweiligen Institutionen verwoben. Von diesen habe den Volkswirt zuallererst der Staat zu interessieren, weil er mit seinen Mitteln die Einkommens- und Vermögensverteilung gerechter machen und damit den inneren Frieden sichern könne. Da G. Schmoller nicht nur den Staat, sondern alle gesellschaftlichen Kräfte, auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, in der Pflicht sah, an Sozialreformen mitzuwirken, schuf er mit Gleichgesinnten 1872/73 den „Verein für Socialpolitik“. Dass sich dessen Mitglieder nicht nur darauf beschränkten, Fakten zusammenzutragen und politische Entscheidungen zu begleiten, sondern im Namen der Wissenschaft auch sozial- und wirtschaftspolitische Normen setzten, stieß auf heftigen Widerspruch all jener, die solche Werturteile für wissenschaftlich nicht begründbar hielten. G. Schmoller hingegen war davon überzeugt, dass „sich die guten, hochstehenden Menschen desselben Volkes, desselben Kulturzeitalters doch immer […] über die wichtigsten praktischen Werturteile einigen“ (Schmoller 1911: 494 f.) könnten. Nicht zuletzt dank dieser „sittlichen Kräfte“ würden Gesellschaft und Wirtschaft höhere, sprich: kultiviertere Stufen erklimmen. Auch ohne ethische Färbung wurden solche Stufenlehren präsentiert. Die bekannteste stammt von Karl Bücher, der in Arbeitsteilung und -vereinigung die Wechselkräfte wirtschaftlicher Entwicklung ausmachte. Werner Sombart und Arthur Spiethoff „theoretisierten“ das „Tatsachenmaterial“ noch konsequenter, indem sie die jeweiligen Wirtschaftsstufen bzw. -systeme meist mittels hermeneutischer (anschaulicher bzw. verstehender), sich des Stilgedankens bedienender Methoden analysierten, um regelmäßige und allgemeingültige Erscheinungen aus dem komplexen historischen Geschehen zu isolieren. Sogar prominente Kritiker historistischer Ökonomik, namentlich Adolph Wagner, Joseph Schumpeter und Walter Eucken, bemühten sich, die Kluft zwischen strikt historischer und rein theoretischer Forschung zu überwinden.

Bes. in der deutschen Wirtschaftswissenschaft gewann der H. großes Ansehen, das auch international ausstrahlte. Ökonomen in aller Welt, von denen etliche (auch) in Deutschland studiert hatten, übernahmen zumindest Bausteine und passten diese in die eigenen, oft landesspezifischen Lehrgebäude ein. Einige Fälle: Die erst Ende des 19. Jh. Gestalt annehmende US-amerikanische Wirtschaftswissenschaft orientierte sich zum einen sowohl an W. Roschers Werken als auch an G. Schmollers Aktivitäten, weshalb z. B. die „American Economic Association“ 1885 auf Betreiben von Richard Theodore Ely nach dem Vorbild des „Vereins für Socialpolitik“ entstand. Zum anderen kam in den USA ein dem H. vergleichbarer Institutionalismus auf, den Thorstein Veblen durch eine komplexe, den hedonistischen Kalkül überwindende Sozialpsychologie des amerikanischen Kapitalismus und seiner Wandlungen nachhaltig inspirierte. In der Folge bewegten amerikanische Institutionalisten wissenschaftlich wie praktisch viel. So analysierte John Rogers Commons die divergierenden Interessen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Institutionen und beeinflusste die Gesetzgebung v. a. zum Schutz der Schwächeren. Wesley Clair Mitchell betrieb Ökonomik als „funktionelle Wissenschaft“, die auf wohlfahrtsstaatliche Reformen auszurichten sei und dazu Tatsachenwissen brauche, um den institutionellen Wandel und konjunkturelle Schwankungen erfassen zu können („analytical description“ [Mitchell 1927: 57]). Weil dazu vermehrt quantitative, insb. statistische Methoden nötig waren, gründete er 1920 das „National Bureau of Economic Research“. In Russland popularisierte Ivan Kondratevich Babst die Ansichten der Älteren und Aleksandr Ivanovič Čuprov die der Jüngeren Historischen Schule. Dies harmonierte mit der russisch-orthodoxen Weltsicht insb. der Slawophilen, die von einer integrierten Gesellschaft schwärmten und die Landgemeinden mit gemeinschaftlichem, aber regelmäßig umverteilten Grundbesitz idealisierten. In Japan war es Naburo Kanai, der sich aus historistischer Perspektive gegen extremen Individualismus sowie unkontrollierten Wettbewerb aussprach und staatliche Sozialpolitik befürwortete. Er begründete damit eine Tradition, die in der japanischen Ökonomik nachklang. Österreichische Ökonomen wiederum verlegten sich wie Karl Theodor von Inama-Sternegg primär auf wirtschaftsgeschichtliche und -statistische Untersuchungen, interpretierten deren Ergebnisse aber auch im Lichte der klassischen Marktökonomik. Abseits deutscher Einflüsse gab es in der britischen Politischen Ökonomie divergente historistische Strömungen. Angelehnt an die Evolutionstheorien (Evolution) von Charles Darwin und Herbert Spencer entwarf Walter Bagehot eine holistisch auf die „Charaktere“ von Nationen und die typischer (Wirtschafts-)Menschen abhebende Stillehre des zivilisatorischen und ökonomischen Fortschritts, hielt aber zugleich an deduktiven, vorwiegend ricardianischen Erklärungen des in England erreichten Zustands fest. Genau solche klassischen Theorien wurden aber als „dismal science“ (Carlyle 1849: 672) und „gospel of despair“ (Carlyle 1843: 249) von anderen, manchmal sozialistischen Ideen zuneigenden Historisten, etwa John Ruskin, die für eine Verbesserung der aktuellen Lebensbedingungen der unteren Klassen stritten, vehement verworfen. John Kells Ingram tat dies ebenso, aber aus ganz anderem Grund: Vom Positivismus Auguste Comtes eingenommen, wollte er die Ökonomik in eine allgemeine Gesellschaftslehre eingebettet sehen, welche die Entwicklungsgesetze induktiv erforscht.

Spätestens seit den 1930er Jahren wurde der H. i. d. W. zunehmend „als ein Gemisch von Empirie und Ethik und oft nicht mehr als ein Geschwätz“ (Preiser 1950: 241) diskreditiert und weltweit von ahistorischen, vornehmlich neoklassischen und keynesianischen Theorien zur Mikro- und Makroökonomik überlagert oder verdrängt. Dennoch hinterließ er bleibende Spuren bes. in jenen Fachgebieten, die sich mit empirischer Wirtschaftsforschung, dem Wandel staatlicher, gesellschaftlicher und ökonomischer Institutionen, der Rechts- und Wirtschaftsordnung sowie der Finanz- und Sozialpolitik befassen. Darüber hinaus sind seit neuerer Zeit in der Wirtschaftswissenschaft Tendenzen erkennbar, historistische Traditionen vermehrt zu beleben, weil die Werkzeuge herrschender Wirtschaftslehren nach Auffassung ihrer Kritiker zu stumpf oder ungeeignet sind, vertraute wie (vermeintlich) neue ökonomische Phänomene befriedigend zu erklären. Dies betreffe hauptsächlich die Eigenschaften und Handlungen des „Wirtschaftsmenschen“ sowie evolutorische Vorgänge (Änderungen der Bedürfnis- und Präferenzstruktur, Innovationen, Konjunkturen und Krisen, Globalisierung, Wissenstransfer, ökologische Prozesse), deren historische, rechtliche, technische, ethische, anthropologische und sozio-kulturelle Dimensionen jedenfalls mit bedacht werden müssten (contextual economics), um sie besser verstehen zu können.