Ordnungswidrigkeit

1. Begriff

Für den Rechtsanwender ist der Begriff der O. unproblematisch: Nach § 1 Abs. 1 OWiG ist die O. eine rechtswidrige und vorwerfbare Handlung, die den Tatbestand eines Gesetzes verwirklicht, das die Ahndung mit einer Geldbuße zulässt. Damit grenzt der Gesetzgeber die O. rein formal durch ihre spezifische Sanktionierung, die Geldbuße von den Straftaten ab (formaler Begriff der O.).

Umstritten ist, ob und wie Straftaten und O.en inhaltlich voneinander abgegrenzt werden können (materieller Begriff der O.). Die von James Paul Goldschmidt, Erik Wolf und Eberhard Schmidt und anfangs vom deutschen Gesetzgeber vertretene These der Wesensverschiedenheit hat sich nicht durchgesetzt. Die herrschende Meinung geht im Ansatz von einem reinen Quantitätsunterschied aus.

In der Rechtswissenschaft hat der Begriff der Verwaltungssanktion (administrative sanction) an Bedeutung gewonnen. Dieser wird zwar je nach Untersuchungszweck unterschiedlich definiert, stellt aber immer die Verwaltung als Akteurin in den Fokus. Aus dieser Perspektive ist die O. ein rechtswidriger, vorwerfbarer Gesetzesverstoß, auf den die Verwaltung aus spezial- und generalpräventiven Gründen repressiv durch die Auferlegung einer Geldleistungspflicht reagieren kann. Zusätzlich stehen der Verwaltung auch andere Maßnahmen der Rechtsdurchsetzung zur Verfügung. Dies mag man als steuerungswissenschaftlichen Begriff der O. bezeichnen.

2. Recht der Ordnungswidrigkeiten

Zum materiellen Recht der O. gehören die Voraussetzungen der Ahndbarkeit und die Rechtsfolgen der O. Es besteht aus einem allg.en (§§ 1–34 OWiG) und einem bes.n Teil (§§ 111–131 OWiG und die spezialgesetzlich geregelten O.s-Tatbestände). Wie im Strafrecht gelten das Gesetzlichkeits- und das Schuldprinzip. O.en können nach deutscher Rechtstradition wie Straftaten nur durch Menschen begangen werden. Anders als im Strafrecht gilt das Einheitstäterprinzip (§ 14 OWiG). Einzige Sanktion ist die Geldbuße, deren Höchstmaß meist spezialgesetzlich und subsidiär im OWiG geregelt ist. Mit der Geldbuße soll die O. angemessen geahndet und der durch die Tat erlangte wirtschaftliche Vorteil abgeschöpft werden. Das Verwaltungsermessen zur Bestimmung der zweckmäßigen Höhe wird oft durch Bußgeldkataloge gelenkt. Nebenfolgen der O. ergeben sich aus Spezialgesetzen und dem OWiG.

Zum formellen O.en-Recht zählen die Normen über Zuständigkeit, Verfahren und Form der Verfolgung und Ahndung von O.en (§§ 35–110e OWiG und Spezialnormen). Es gilt das Opportunitätsprinzip (§ 47 OWiG). Die Garantien des Strafverfahrens („in dubio pro reo“, „nemo tenetur se ipsum accusare“, „ne bis in idem“) sind auch im O.s-Verfahren zu beachten. Über § 46 OWiG finden die Vorschriften über das Strafverfahren grundsätzlich Anwendung. Wichtig ist die Ausrichtung des O.s-Verfahrens am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Verwaltung obliegt nach § 35 OWiG nicht nur die Verfolgung, sondern grundsätzlich auch die erstinstanzliche Ahndung einer O. Nach herrschender Meinung ist darin kein Verstoß gegen Art. 92 GG zu sehen. Allerdings steht dem Einzelnen der Rechtsweg offen. Der Richter entscheidet dann anders als im Verwaltungsprozess nicht nur über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns, sondern trifft eine eigene Ermessensentscheidung (Ermessen) über die Ahndung der O., § 47 Abs. 2 OWiG.

3. Entwicklung

Die O. wurde als ein von der Straftat abzugrenzendes Delikt mit dem WiStG 1949 unter maßgeblicher Mitwirkung von E. Schmidt eingeführt, der sich dabei auf Vorarbeiten von J. Goldschmidt und E. Wolf stützte. 1952 folgte ein allg.es Gesetz der O.en. Das Strafrecht sollte reduziert und die Rechtsbindung und -kontrolle der Verwaltung nach dem Ende des Nationalsozialismus wiederhergestellt werden.

Die Unterscheidung von Kriminal- und Verwaltungsunrecht existierte schon länger. Sie wurde mit der Entstehung der Polizeistrafgerichtsbarkeit in den absolutistischen deutschen Territorialstaaten (16.–18. Jh.; Absolutismus) notwendig, um die Kompetenzen von Polizei und Kriminaljustiz abzugrenzen. Die Polizei war zuständig für die Ahndung von Verstößen gegen die von ihr zur Förderung der allg.en Wohlfahrt erlassenen Ge- und Verbote und entschied darüber in einem reinen Verwaltungsverfahren. Die Rechtsbindung und -kontrolle polizeilicher Tätigkeit wuchs langsam und verstärkte sich dann in der Mitte des 18. Jh.

Im 19. Jh. etablierte sich zunehmend eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Polizeibefugnisse wurden auf die Gefahrenabwehr begrenzt. Im Streit über die Kompetenzen von Justiz und Verwaltung setzten sich die Befürworter der Abschaffung der Polizeistrafgewalt durch. Zunächst wurden die Polizeidelikte aus dem Polizei- bzw. Verwaltungsrecht gelöst und als Übertretungen ins Strafrecht überführt (RStGB und Reichsstrafprozessordnung 1877). Zwar konnten Polizei bzw. Verwaltung durch Strafverfügungen und -bescheide noch echte Kriminalstrafen verhängen, gegen diese stand jedoch der Rechtsweg offen und so war erstmals das Bestrafungsmonopol der Gerichte gesichert. Heute darf die Verwaltung nach herrschender Meinung schon von Verfassung wegen (Art. 92 GG) keine Kriminalstrafen verhängen.

In Wissenschaft und Lehre wird das Recht der O. traditionell nur dem Strafrecht zugeordnet, obwohl es seine Ursprünge ebenso im Polizei- bzw. Verwaltungsrecht hat. Langsam findet es als Teil des Verwaltungssanktionsrechts wieder Aufnahme auch in das Verwaltungsrecht.

4. Andere Rechtskreise

Bereits begrifflich wird zwischen O. (adminstrative offences) und Straftat (criminal offence) unterschiedlich differenziert. So war auf europäischer Ebene schon früh eine formale Unterscheidung von O. und Straftat erforderlich, weil das Strafrecht traditionell in die Gesetzgebungs- und Ahndungskompetenz der Mitgliedstaaten fällt. In Großbritannien werden bislang O. und Straftat kaum getrennt.

Weiter bestehen Unterschiede bei der gesetzlichen Verankerung der O. Während in Deutschland die O. in Abgrenzung zur Straftat konzipiert und im OWiG geregelt wurden, knüpfen die Niederlande an die Verwaltungssanktion an und haben diesen in ihr allg.es Verwaltungsgesetz aufgenommen.

Auch die Ahndungskompetenzen der Verwaltung sind sehr verschieden. In Dänemark ist für die Ahndung grundsätzlich das Gericht und nicht die Verwaltung zuständig. In Österreich verhängt die Verwaltung auch echte Kriminalstrafen.

5. Ausblick

Das Recht der O. hat zu einer Reduzierung des Strafrechts und Entkriminalisierung der Gesellschaft geführt. Gleichzeitig wurden die Befugnisse der Verwaltung an den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers gebunden und dem Einzelnen ähnliche Abwehrrechte zum Schutz und zur Verwirklichung seiner Freiheitsrechte wie im Strafrecht eingeräumt. Das sind große Errungenschaften, die es auch in der Zukunft zu wahren gilt.

Rechtstatsächlich ist zu beobachten, dass der Mensch mit jedem neuen bußgeldbewehrten Ver- oder Gebot und jeder „Verfahrensoptimierung“ zunehmend zum „Täter“ gemacht wird. So führen (wie im Straßenverkehrsrecht zu beobachten) verbesserte Kontrollmöglichkeiten dazu, dass mehr O.en entdeckt werden. Ähnliche Auswirkungen sind durch (wie im Steuerrecht zu beobachtende) Verlagerungen vom klassischen Verwaltungs- hin zum bloßen Kontrollverfahren zu erwarten. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Einzelnen, denn zu dessen Überführung stehen der Verwaltung zwar nicht dieselben Kompetenzen wie bei einem Straftäter, aber mehr Kompetenzen als im Verwaltungsverfahren zur Verfügung. Außerdem gehen Überregulierungen auch zulasten von Verwaltung und Gerichten.

Hier werden die Grenzen des Rechts der O. zukünftig weiter auszuloten sein. Vorrangig sollte die Vermeidung einer ausufernden Gesetzgebung sein. Erst dann mag es um die Suche nach dem Prinzip der recht- und zweckmäßigen Verwaltungssanktion gehen. Das ist keine Aufgabe, die die Rechtswissenschaft allein bewältigen kann.