Materialismus

Version vom 4. Januar 2021, 12:03 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Materialismus)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

1. Begriffsbestimmung

Der M. ist eine philosophische Theorie über den Aufbau der Wirklichkeit als Ganzer. Sie besagt, dass alle Entitäten rein materiell sind. Auch komplexere Entitäten wie Lebewesen sind vollständig aus einfacheren materiellen Entitäten zusammengesetzt. Die Existenz nicht materieller Entitäten (Seele, Gott) wird geleugnet. Der M. ist abzusetzen vom idealistischen Monismus, der die Realität der Materie leugnet, und vom Dualismus, der Materie und Geist als prinzipiell unabhängige Seinsdimensionen ansieht.

2. Geschichte

Materialistische Positionen sind in allen Perioden der Philosophiegeschichte vorzufinden. In der vorsokratischen Philosophie vertreten Leukipp und Demokrit schon im 5. vorchristlichen Jh. die Auffassung, dass die Welt aus leerem Raum und atomaren Materieteilchen besteht. Jede Veränderung ist gegründet in der Bewegung dieser kleinsten Bausteine alles Wirklichen. Der gesamte Kosmos ist nur ein mechanisches Wechselspiel der Atome. Es gibt keine Form- oder Zielursachen, die in die Entwicklung strukturierend eingreifen. Die unterste Ebene der Atome bestimmt alle höheren Stufen. Auch Lebewesen sind nur speziell im Raum angeordnete Mengen von Atomen. Erlebnisqualitäten wie „rot“ oder „süß“ sind nur subjektiver Schein. Alle Erkenntnis stammt aus den Wirkungen, welche die Atome auf die Sinnesorgane ausüben. Mit der materialistischen Metaphysik geht eine empiristische Erkenntnistheorie einher. Alle Erkenntnis stammt aus der Sinneserfahrung.

Der M. vermochte sich allerdings gegen Ansätze, die idealistisches und rationalistisches Gedankengut verteidigten, in der Antike und im Mittelalter nicht durchzusetzen. Der Einfluss des Platonismus und des Christentums verhinderten dies. Erst mit dem Erstarken der Naturwissenschaften nahm sein Einfluss zu. Eine Blütezeit erlebte der M. im Zeitalter der Aufklärung. Ein Standardwerk des M. legte Paul-Henri Thiry d’Holbach mit seinem „Système de la nature“ (1770) vor. Das Buch „L’homme machine“ (1748) von Julien Offray de La Mettrie machte materialistisches Gedankengut einem breiteren Publikum bekannt. Das Selbstverständnis des Menschen als rein materielle Maschine ist für den M. zentral, da eine mechanistische Sicht der außermenschlichen Natur die zusätzliche Existenz von menschlichen Geistseelen noch nicht ausschließt. Der M. der Aufklärung versteht hingegen die menschliche Person konsequent mechanistisch. Dieses materialistische Selbstverständnis des Menschen gewann erst durch die Verbreitung der darwinistischen Abstammungslehre (Darwinismus) an Bedeutung, weil hier durch die Einbettung in den durch blinden Zufall gesteuerten mechanischen Abstammungszusammenhang jede metaphysisch relevante Sonderstellung des Menschen in der Natur ausgeschlossen wird.

Im Ausgang vom Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels entwickelte sich der dialektische M. als eine Geschichtsphilosophie (Geschichte, Geschichtsphilosophie). Er wurde von Karl Marx und Friedrich Engels begründet. Während G. W. F. Hegel die Geschichte als einen Prozess dialektischer Überwindung von Widersprüchen des Geistes ansah, vertraten die dialektischen Materialisten die Auffassung, dass die dialektische Bewegung ein Fortschreiten vom Einfachen zum Komplexen innerhalb einer rein materiellen Wirklichkeit ist (Dialektik). Der Kampf der Gegensätze innerhalb der physischen Welt ist die Grundlage von Entwicklung. Wird diese Theorie auf die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse angewandt, so spricht man auch vom „historischen M.“, der ebenfalls auf K. Marx und F. Engels zurückgeht. Der historische M. sieht die gesamte menschliche Geschichte als einen durch sozio-ökonomische Widersprüche angetriebenen Prozess. Im 20. Jh. entstanden materialistische Entwürfe in subtil ausgearbeiteter Form in der analytischen Philosophie. Im Zentrum stand dabei das Bemühen, mentale Zustände auf physikalische Zustände zurückzuführen. So gab es den Versuch, alle Aussagen über mentale Zustände in Aussagen über Verhalten zu übersetzen. Ein solcher „logischer Behaviorismus“ wurde im frühen 20. Jh. im „Wiener Kreis“ (Carl Gustav Hempel, Otto Neurath, Paul Rudolf Carnap) vertreten. Vertreter der psychophysischen Identitätstheorie identifizierten mentale Zustände mit Zuständen des Gehirns. Nach dem australischen Philosophen John Jamieson Carswell Smart bezieht sich das Sprechen über mentale Zustände letztlich auf physiologische Zustände. Obwohl die Sprache über mentale Gegebenheiten nicht in eine Sprache über physikalische Gegebenheiten übersetzbar ist, so bezieht sie sich doch auf identische Zustände. So wie ein Blitz durch wissenschaftliche Analyse als elektrische Entladung bestimmt werden kann, so kann auch bspw. Schmerzempfindung als elektrische Aktivität zwischen Nervenzellen bestimmt werden. Die „eliminative“ Form des M. hingegen bestreitet, dass sich unsere alltäglichen Ausdrücke über mentale Gegebenheiten überhaupt in einer wissenschaftlich rekonstruierbaren Weise auf die Realität beziehen, bspw. bei Richard Rorty. Unser Reden über Wünsche und Überzeugungen ist dann allenfalls pragmatisch gerechtfertigt. Weder sind mentale Prädikate in physische Prädikate übersetzbar, noch beziehen sie sich auf dieselben Entitäten, vielmehr soll unser vorwissenschaftliches Reden über Gefühle und Gedanken in Zukunft vollständig durch eine rein neurophysiologisch orientierte Sprache eliminiert werden.

3. Systematik

Der Begriff des M. lässt sich nicht a priori bestimmen. Denn dann müsste man rein begrifflich die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür angeben können, was unter „materiell“ überhaupt verstanden wird. Das Verständnis der Materie verändert sich aber mit dem Fortschritt der Wissenschaften. Während Demokrit die Welt noch komplett aus atomaren Materieeinheiten zusammengesetzt sah, werden in der modernen Physik Energie und Felder von materiellen Elementarteilchen unterschieden. Man spricht daher heute statt von M. meistens von „Physikalismus“. Der Physikalismus behauptet, dass die Fakten, die von der Physik beschrieben werden, alle anderen Fakten festlegen. Würde man also hypothetisch unsere Welt kopieren wollen, so müsste man nur die physikalische Ebene kopieren, alle anderen Ebenen stellten sich dann von selbst ein. Was aber versteht man genau unter der physikalischen Ebene der Wirklichkeit? Hier tut sich ein bereits von C. G. Hempel beschriebenes Dilemma auf. Ist es die Wirklichkeit, die nur diejenigen Entitäten enthält, welche die gegenwärtige Physik kennt? Dann wäre der heutige Physikalismus mit höchster Wahrscheinlichkeit unvollständig oder falsch, da die zukünftige Physik revolutionäre Entdeckungen machen wird. Oder ist das Physische die Wirklichkeit, die von einer idealen und bisher noch nicht erreichten Physik beschrieben wird? Da man diese zukünftige Physik noch nicht kennt, wird der so verstandene Physikalismus inhaltlich weitgehend unbestimmt bleiben. Alternativ könnte man einfach sagen, dass alles, was ganz prinzipiell durch die Methoden der Naturwissenschaft beschreibbar ist, als physisch gelten kann. Die Naturwissenschaft enthält aber nicht nur eine mathematische Begrifflichkeit, sondern auch die Vorstellung eines kausalen Netzwerkes, das alle Entitäten unter der Maßgabe universeller Naturgesetze verbindet. Außerdem nimmt sie an, dass alle Verursachung rein wirkursächlich ist. Es gibt keine Ziele oder Werte, die für den Ablauf der natürlichen Ereignisse in irgendeiner Form bestimmend wären. Der M. könnte also behaupten, dass nichts existiert, was nicht in diesen universellen Zusammenhang mathematisch beschreibbarer wirkursächlicher Naturnotwendigkeit eingebettet ist. So verstanden ist der M. gleichzusetzen mit dem Naturalismus. Der Naturalismus in seiner allgemeinsten Form behauptet, dass alle physischen Ereignisse vollständig auf physische Ursachen zurückgeführt werden können. Weder eine Geistseele noch Gott wirkt auf irgendeine Weise in das natürliche Geschehen ein. Der M. verstanden als Naturalismus beruht also v. a. auf der These der kausalen Geschlossenheit des physischen Bereichs.

4. Kritik

Die Annahme, dass es für jedes physische Ereignis eine vollständige physische Ursache gibt, ist aber in der Physik selbst umstritten. Nach einer geläufigen Interpretation der Quantenmechanik ereignen sich viele physische Ereignisse unverursacht. Ebenfalls in der Interpretation der Quantenmechanik nimmt eine wichtige Strömung – die Kopenhagener Interpretation – an, dass die mathematisch gesetzesartige Beschreibung der Wirklichkeit (Schrödingergleichung) nicht vollständig ist, sondern dass zusätzlich ein weiterer Prozess wirksam ist. Dieser steht eventuell im Zusammenhang mit der Messung durch einen bewussten Beobachter. Man kann daher feststellen, dass die gegenwärtige Physik sich zumindest bei einigen ihrer Vertreter von einem materialistischen Paradigma entfernt.

Das grundsätzliche Problem des M. besteht aber darin, dass es ihm nicht gelingt, eine überzeugende Erklärung mentaler Phänomene zu liefern. Auch jemand, der über eine lückenlose Kenntnis der Neurophysiologie der Farbwahrnehmung verfügte, aber noch niemals eine Farbe gesehen hätte, könnte aus seiner wissenschaftlichen Kenntnis nicht ableiten, wie es sich anfühlt, eine Farbe zu sehen. Bekannt wurde die These von Thomas Nagel, dass auch das vollständige Studium des Gehirns einer Fledermaus uns kein vollständiges Wissen darüber vermitteln könne, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein. Zwischen den funktionalen Strukturen auf der physiologischen Ebene und dem intrinsischen Gehalt eines bewussten Erlebnisses tut sich eine Erklärungslücke auf. Wir erfassen das Wesen eines Schmerzes, sobald wir ihn empfinden. Wir brauchen keine neurophysiologische Erklärung, um das Wesen des Schmerzes zu erfassen. Wir können uns sogar vorstellen, dass es Wesen gibt, die Schmerzen haben, aber nicht über Gehirne verfügen, die unseren physiologisch ähnlich wären. Wenn wir auf der anderen Seite annehmen, dass wir das Wesen eines neurophysiologischen Zustandes durch seine naturwissenschaftliche Erforschung erfassen können, dann bleibt die beschriebene Kluft unüberbrückbar. Der Zusammenhang von Erleben und materieller Realisierung ist zu unklar, um als Identität aufgefasst werden zu können. Ein Vertreter des M. könnte dagegen argumentieren, dass wir das Wesen des Schmerzes nicht durch Erleben erfassen, sondern dass allein die neurophysiologische Analyse das Wesen des Schmerzes offenbart. Diese These ist aber wenig plausibel, da einem Subjekt der Inhalt seiner Empfindungen und Gedanken unmittelbar transparent gegeben ist. Es ergibt keinen Sinn zu behaupten, dass jemand, der Schmerz empfindet, nicht weiß, was Schmerz ist. Der M. steht also vor der bisher unbewältigten Aufgabe, das Auftreten von bewusstem Erleben eines Subjektes in der physikalischen Welt zu erklären. Ein weiteres Problem für den M. besteht darin, den gesamten Bereich des Formalen, der logischen Folgerungen, der mathematischen Ableitungen und des geistigen Bezugs (Intentionalität) auf diesen Wirklichkeitsbereich zu erklären. Die Beziehung zwischen einem Denkakt und seinem geistigen Inhalt ist nicht auf rein physische Relationen zu reduzieren. Dies zeigt, dass sich die Theorie des M. in einem Selbstwiderspruch bewegt. Das Denken kann sich nämlich sowohl auf abstrakte Inhalte außerhalb von Raum und Zeit (Mathematik) als auch auf nicht aktuell existierende, bloß mögliche Gegenstände beziehen. Der ganze Bereich formaler Beziehungen und abstrakter Entitäten der Logik und Mathematik ist philosophisch in seiner Objektivität kaum grundzulegen, wenn man mentale Repräsentation nur als Wechselwirkung zwischen Gehirn und physischer Umwelt auffasen will. Bis heute ist daher weder für die Frage des phänomenalen Erlebens noch für die Frage nach den logisch-mathematischen Zusammenhängen und unserer Fähigkeit, sie geistig zu erfassen, eine rein materialistische Erklärung in einer allg. überzeugenden Weise gelungen.