Notwehr

1. Allgemeines

Die N. ist ein Rechtfertigungsgrund, der dem Verteidiger erlaubt, bei der Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs Rechtsgüter des Angreifers zu verletzen und dabei sanktionslos Straftatbestände zu verwirklichen. Die Anerkennung eines N.-Rechts ist für jede Rechtsordnung zwingend, weil der Staat durch ein N.-Verbot den Angreifer bei der Verfolgung seiner rechtswidrigen Ziele de facto unterstützen und sich damit auf die Seite des Unrechts schlagen würde. Vor diesem Hintergrund ist das N.-Recht in seinem Kern naturrechtlich vorgegeben (Naturrecht), und letzten Endes bedarf nicht die Gestattung, sondern im Gegenteil jegliche Einschränkung der N., durch die die Effektivität der Verteidigung in Frage gestellt wird, einer besonderen Legitimation. Der bei der N. verletzte Angreifer kann sich in diesem Zusammenhang zu seinen Gunsten grundsätzlich nicht auf staatliche Schutzpflichten berufen, weil er es selbst in der Hand hat, den Folgen einer durch N. gerechtfertigten Tat zu entgehen, indem er einfach nur das tut, was die Rechtsordnung ohnehin von ihm verlangt – nämlich den rechtswidrigen Angriff zu unterlassen. Nach bislang herrschender Meinung soll das N.-Recht neben den Belangen der individuellen Opfer rechtswidriger Angriffe auch dem staatlichen Interesse an der Bewährung der Rechtsordnung dienen (sogenanntes dualistisches N.-Konzept). Vorzugswürdig erscheint indessen die vordringende Gegenansicht, wonach es bei der N. allein um das Interesse des Einzelnen an der Abwehr rechtswidriger Angriffe geht (sogenanntes individualrechtliches N.-Konzept). Gesetzlich geregelt ist die N. in § 32 StGB, inhaltsgleiche Vorschriften finden sich in § 227 BGB und § 15 Abs. 1 und 2 OWiG.

2. Notwehrlage

Der von § 32 Abs. 2 StGB geforderte rechtswidrige Angriff besteht in der Bedrohung rechtlich geschützter Interessen durch ein wenigstens sorgfaltswidriges (zumeist, aber nicht notwendigerweise vorsätzliches und auch nicht unbedingt schuldhaftes) menschliches Verhalten, das nicht seinerseits durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. Notwehrfähig sind dabei alle Individualrechtsgüter, unabhängig davon, ob sie dem N.-Täter selbst oder einem beliebigen Dritten zustehen (Gleichwertigkeit von Selbstverteidigung und Nothilfe; eine Ausnahme bildet insofern lediglich die Unzulässigkeit einer vom Angegriffenen erkennbar abgelehnten „aufgedrängten“ Nothilfe). Nothilfe zugunsten der öffentlichen Hand erlaubt § 32 StGB nur dort, wo diese als Träger von Individualrechtsgütern in Erscheinung tritt (bes. bei öffentlichem Eigentum), nicht jedoch zur Verteidigung allgemeiner Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ebensowenig ist entgegen verbreiteter Ansicht eine „Staatsnotwehr“ zum Schutz bedeutender Staatsinteressen anzuerkennen. Um Bürgern ein angemessenes Vorgehen gegen gravierende staatsfeindliche Aktionen zu ermöglichen, ist vielmehr auf andere Rechtfertigungsgründe wie Notstand nach § 34 StGB, Festnahmerecht nach § 127 StPO und Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG zurückzugreifen, bei denen die (der N. fremde, s. u. 3.) Bindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation geringer erscheinen lässt. Um Präventivschläge auf der einen und Selbstjustiz auf der anderen Seite auszuschließen, begründet ein rechtswidriger Angriff nach § 32 Abs. 2 StGB nur dann eine N.-Lage, wenn er gegenwärtig ist. Dazu muss die Beeinträchtigung der Rechtsgüter, gegen die sich der Angriff richtet, zeitlich unmittelbar bevorstehen, gerade stattfinden oder dergestalt andauern, dass noch eine Intensivierung des Schadens droht.

3. Notwehrhandlung

Bei bestehender N.-Lage erlaubt § 32 StGB grundsätzlich jede zur Abwendung des Angriffs erforderliche Handlung, soweit diese Rechtsgüter des Angreifers (also nicht etwa unbeteiligter Dritter) verletzt. „Erforderlich“ bedeutet dabei, dass es sich entweder um das einzige oder – unter mehreren zur Verfügung stehenden Alternativen – um das mildeste Mittel zu sicheren Abwehr des Angriffs handelt (wobei die eventuelle Möglichkeit einer Flucht im Normalfall außer Betracht bleibt, an der Rechtmäßigkeit einer gewaltsamen Verteidigung also nichts ändert). Dies kann im Einzelfall bei beliebig eingriffsintensiven Gegenmaßnahmen der Fall sein, die unstreitig bis zur Tötung des Angreifers (nach zutreffender, allerdings sehr umstrittener Ansicht auch zur Zufügung willensbeugender Schmerzen) reichen können. Die Erforderlichkeit darf nicht mit Verhältnismäßigkeit i. S. v. Güterproportionalität verwechselt werden; es geht vielmehr ausschließlich um den Schutz des Angreifers vor solchen Beeinträchtigungen, die nicht notwendig sind, um das Verteidigungsziel zu erreichen. Der Verteidiger ist dabei nicht verpflichtet, sich auf das Risiko unzureichender Maßnahmen einzulassen. Steht ihm kein milderes Mittel zur Verfügung, das eine hinreichend sichere Abwehr des Angriffs ermöglicht, so darf er ggf. auch eine Verteidigung wählen, die dem Angreifer deutlich größeren Schaden zufügt, als der Verteidiger zu erwarten hätte, wenn er den Angriff widerstandslos hinnehmen würde (bspw. einen – im Extremfall auch tödlichen – Waffeneinsatz gegen einen Schläger, den man nach dem bestehenden Kräfteverhältnis nicht problemlos mit den Fäusten abwehren kann).

4. Sozialethische Einschränkungen

In bestimmten Konstellationen wird die Schärfe des N.-Rechts, die im absoluten Vorrang der Verteidigerinteressen bei der Erforderlichkeitsbetrachtung und im Fehlen einer Ausweichpflicht zum Ausdruck kommt, allgemein als unangemessen betrachtet. Hier greifen nach der Rechtsprechung und der ganz herrschenden Meinung im Schrifttum sogenannte sozialethische Einschränkungen des N.-Rechts, die dazu führen können, dass eine grundsätzlich erforderliche Verteidigungshandlung ausnahmsweise nicht i. S. v. § 32 Abs. 1 StGB „geboten“ erscheint. Anerkannte Fallgruppen sind: Angriffe schuldlos (Kinder, Geisteskranke, schuldlos Irrende) oder nur fahrlässig handelnder Personen, Fälle grober Unverhältnismäßigkeit zwischen geschütztem und verletztem Interesse, persönliches Näheverhältnis zwischen Angreifer und Verteidiger und Angriffe, die der spätere Verteidiger in vorwerfbarer Weise provoziert hat. Das N.-Recht wird dabei nicht ausgeschlossen, unterliegt aber gewissen Einschränkungen (Pflicht zum Ausweichen, wo dies möglich ist, Hinnahme geringfügiger Beeinträchtigungen), deren Reichweite je nach Fallgruppe und Umständen des Einzelfalls sehr unterschiedlich sein kann.

5. Subjektives Rechtfertigungselement

Neben einer Erfüllung der vorgenannten objektiven Erfordernisse setzt eine Rechtfertigung durch N. ein sogenanntes subjektives Rechtfertigungselement voraus. Dabei ist umstritten, ob dieses lediglich in einer Kenntnis von den notwehrbegründenden Umständen besteht, oder ob die Angriffsabwehr zugleich das (allerdings nicht zwangsläufig alleinige) Motiv des N.-Täters sein muss (so der BGH in st. Rspr.).