Ökonomische Theorie der Moral

Ö. T. d. M. ist ein von Ingo Pies geprägter und dann gemeinsam mit Karl Homann verwendeter Name für ein Forschungsprogramm, dem es um eine ökonomische Situationsanalyse zur anreizgestützten Implementierung moralischer Anliegen geht. I. Pies verwendete den Begriff bereits Ende der 1980er Jahre. Erstmals im Titel einer Veröffentlichung erscheint die Wendung in einem gemeinsamen Aufsatz von K. Homann und I. Pies (1994). Der Ansatz prägte dann das Forschungsprogramm verschiedener Autoren der „Homann-Schule“ (K. Homann, I. Pies; Andreas Suchanek, Christoph Lütge usw.). Obgleich sich diese Autoren nach einer Reihe von Jahren andere Überschriften ihrer Theoriestrategien zulegten (A. Suchanek [2007]: „Ökonomische Ethik“; I. Pies [2015]: „Ordonomik“ usw.), blieb der Grundgedanke des Ansatzes bei diesen Autoren doch allgegenwärtig, v. a. in den Arbeiten von I. Pies.

1. Das Konzept

Die moraltheoretisch entscheidende Weichenstellung des Konzepts liegt darin, dass Moral als Kooperationsmoral rekonstruiert wird: „Hier lautet die systematische These, dass sich alle Konkretisierungen von Moral – also alle Normen/Ideen/Prinzipien, von den zehn Geboten oder der Goldenen Regel bis hin zu den inhaltlichen Forderungen moralischer Appelle – auf die Intention zurückführen lassen, im sozialen Raum ‚mutual gains from trade‘ realisieren zu können: Kooperationsmoral zielt auf wechselseitige Kooperationsgewinne“ (Pies 1997: 184).

Auf dieser moraltheoretischen Grundlage beruhen dann die institutionenökonomischen und -ethischen Konsequenzen (Institutionenökonomik; Institutionenethik): Da die angestrebten wechselseitigen Kooperationsgewinne nur unter Wettbewerbsbedingungen (in Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft usw.; Wettbewerb) und damit, so die selektive Konzeption, unter den Bedingungen sozialer Dilemmasituationen (Stichwort: „Gefangenendilemma“) realisiert werden können, bedarf es institutioneller Ordnungsregeln („Spielregeln“), um die gesellschaftlich erwünschte Produktivität der „Spielzüge“ (von Unternehmen, Konsumenten usw.) sicherzustellen (Ordnungsethik, Ordonomik usw.).

Systematischer Ausgangspunkt ist aber immer eine ö. T. d. M.: Unter der moralischen Oberfläche einer Spielregel haben stets ökonomische Klugheitsargumente vom Typ Win-Win (I. Pies [2000: 34]: „orthogonale[r] Positionierung“) zu stehen; anderenfalls handelt es sich um bloßes „Moralisieren“. Die Rechtfertigung eines institutionellen Arrangements besitzt eine ökonomisch rationale Tiefenstruktur und hängt von der ökonomischen Zweckmäßigkeit für beide Seiten ab, also davon, ob tatsächlich wechselseitige Vorteile generiert werden. Moral wird ökonomisch oder „positiv abgearbeitet“ (Pies 1993: 86). Mit der ö.n T. d. M. wird die philosophische oder theologische Ethik in Ökonomik übersetzt und (trotz gegenteiliger Beteuerungen) auch faktisch ersetzt bzw. „überboten“: Moralische „Normativität [ist] auf progressive Erübrigung angelegt“ (Pies 1993: 86).

2. Diskussion

Das Konzept wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite ist die ö. T. d. M. und die aus ihr konsequent folgende ökonomische Institutionenethik zweifelsohne ein fruchtbares einzelwissenschaftliches Forschungsprogramm, das für seinen erklärten Zweck einer ökonomischen Situationsanalyse zur anreizgestützten Implementierung moralischer Anliegen theoretisch wie praktisch nützliche und belastbare Erkenntnisse und Vorschläge generiert. Da Menschen empirisch zahllose Eigennutzinteressen haben, liefert eine Rational-Choice-Modellierung, die den homo oeconomicus i. S. der ö.n T. d. M. methodisch zur Analyse ökonomischer (monetärer und nicht-monetärer) Situationseigenschaften nutzt, wertvolle Hinweise für eine zweckmäßige Ausgestaltung der institutionellen Spielregeln.

Auf der anderen Seite resultiert aus der moraltheoretisch entscheidenden Weichenstellung der ö.n T. d. M. ein moralphilosophisch und pragmatisch „blinder Fleck“ des Konzepts.

a) Moralphilosophisch ist zu sagen, dass Moral zwar in vielen Fällen tatsächlich den Charakter einer Kooperationsmoral hat (Fairness), sich darin aber nicht erschöpft. Moral kann bspw. auch in der moralischen Verpflichtung einer Solidarität mit Hilfebedürftigen bestehen, obgleich diese (möglicherweise sozialstaatliche) Hilfe nicht als Investition in eine Kooperationsrendite rekonstruiert werden kann und somit in der ö.n T. d. M. invisibilisiert wird.

b) Über diese Theoriediskussionen hinaus liegt der pragmatisch blinde Fleck der rein ökonomisch arbeitenden Institutionenethik darin, dass sie nicht-ökonomische, nämlich genuin moralische Gestaltungsoptionen ausblendet und damit verschenkt. Bspw. haben Verhaltensökonomen empirisch gezeigt, dass es nicht nur (im weiten Sinn) ökonomische Interessen und Anreize gibt und dass das Setzen genuin moralischer Anreize (etwa das Entgegenbringen von Vertrauen) produktiver wirken kann als das Arbeiten mit ökonomischen Anreizen.

Einzelwissenschaftliche Analysemethoden wie das Konzept der ö.n T. d. M. müssen nicht das Gesamt der relevanten Wirklichkeitsaspekte abbilden. Jedoch ist stets im Blick zu behalten, dass hier jeweils methodisch bedingte Abstraktionen vorliegen. Solche abstrahierenden Modellierungen (wie etwa ein Stadtplan oder die ökonomische Situationsanalyse der ö.n T. d. M.) sind außerordentlich nützlich, können aber – insoweit die ausgeschlossenen Dinge relevant sind – auch suboptimale Ergebnisse produzieren bzw. nützliche Gestaltungsmöglichkeiten (etwa das Aktivieren von moralischen Interessen durch moralische Anreize) verschenken. Eine halbwegs umfassende Aufarbeitung aller relevanten Dimensionen der Wirklichkeit erfordert eine wirklich multidisziplinäre Kooperation.