Österreichische Schule der Nationalökonomie

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Die Österreichische Schule weist eine in der ökonomischen Theoriegeschichte einmalig lange und vielfältige Entwicklung auf: Während ihre Anfänge in den 1870er Jahren zu suchen sind, gibt es bis heute weltweit zahlreiche Wissenschaftler, die unter der Selbstbezeichnung „Austrian Economics“ in der Tradition dieser Schule deren Forschungsprogramm weiter betreiben, dieses um neue Ansätze anreichern und auf neue Felder anwenden.

1. Die Gründung durch Carl Menger

Als Startpunkt in der Geschichte der Österreichischen Schule gilt die Veröffentlichung der Wiener Habilitationsschrift von Carl Menger im Jahre 1871. Diese Schrift wird gemeinhin als Teil der „Marginalistischen Revolution“ gesehen, welche zeitglich von C. Menger, Léon Walras und William Stanley Jevons ausgelöst wird. Im Nachgang zu dieser Revolution erfolgt eine Umorientierung der ökonomischen Theorie, weg von der objektiven hin zur subjektiven Werttheorie (Wert, Klassische Nationalökonomie, Neoklassik). Außerdem rückt die marginalistische Analyse (in Kategorien wie Grenznutzen oder Grenzkosten) in den Mittelpunkt der ökonomischen Theoriebildung (Marginalismus, Nutzen). Allerdings ist zu betonen, dass C. Menger bedeutende Unterschiede zu den Ansätzen von L. Walras und W. S. Jevons ausmacht, etwa bzgl. der Notwendigkeit mathematischer Formalisierung oder auch bzgl. der Bedeutung der Gleichgewichtsanalyse. Darüber hinaus versteht sich C. Menger selbst nicht als Revolutionär, sondern als Reformer, denn die subjektive Werttheorie ist in der deutschen Nationalökomie des 19. Jh. – anders als in der von der objektiven Werttheorie dominierten englischen Klassik – lange vor C. Menger von zentraler Bedeutung.

2. Die Konsolidierung in den letzten Jahrzehnten Österreich-Ungarns

C. Menger gelingt es frühzeitig, zwei junge Wissenschaftler für seinen Ansatz zu gewinnen, die nicht bloß das Denkgebäude ihres Lehrers verbreiten, sondern dieses auch wesentlich weiterentwickeln. Eugen von Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser tragen elementar dazu bei, dass man ab den 1880er Jahren von einer Österreichischen (oder Wiener) Schule zu sprechen beginnt, und werden in der Historiographie zur Schule als deren zweite Generation bezeichnet. C. Menger löst im Jahre 1883 den „Methodenstreit“ mit der Jüngeren Historischen Schule (Historismus in der Wirtschaftswissenschaft) aus, bei dem es u. a. um die Beziehung von Deduktion und Induktion in der ökonomischen Theoriebildung sowie um die Beziehung von Theorie und Praxis in der gesellschaftlichen Rolle von Ökonomen geht. E. von Böhm-Bawerk und F. von Wieser beteiligen sich maßgeblich am „Methodenstreit“. Des Weiteren popularisieren sie die spezifisch Mengersche Fassung der subjektiven Werttheorie in den frühen angelsächsischen Fachzeitschriften. V. a. entwickeln sie das Mengersche Forschungsprogramm fort: E. von Böhm-Bawerk auf dem Gebiet der Kapital- und Zinstheorie, F. von Wieser auf dem Gebiet der Kosten- und Produktionstheorie (Kapital, Kosten, Produktion). Außerdem entwirft F. von Wieser eine Wirtschaftssoziologie, welche bes. an das Forschungsprogramm Max Webers anschlussfähig ist.

Bereits zu dieser Zeit vollzieht sich der Austausch bei Weitem nicht nur innerhalb der Universität Wien, stattdessen sind außeruniversitäre Kreise und Privatseminare wesentliche Diskussionsplattformen. Diese bieten auch stets die Möglichkeit, dass sich die Ökonomen mit anderen Wiener Kreisen vernetzen und mit verschiedenen Wissenschaftlern und Praktikern im als „Laboratorium der Moderne“ bezeichneten Wien in Austausch treten.

3. Die Blüte und der Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit

Ein bes.r Höhepunkt in der internationalen Ausstrahlung der Österreichischen Schule ist der Zeitraum zwischen 1920 und 1938. Schüler E. von Böhm-Bawerks, insb. Ludwig von Mises, und F. von Wiesers, insb. Friedrich August von Hayek, entwickeln genau wie ihre Lehrer den Mengerschen Ansatz kreativ und kritisch weiter. Es sind hier insb. zwei Diskurse zu nennen: Die Debatten zur Wirtschaftsrechnung in der sozialisitischen Wirtschaftsordnung (Zentralverwaltungswirtschaft), welche von 1920 bis 1945 andauert, und die Debatten zur Konjunkturpolitik (Konjunktur), welche bes. im Kontext der Großen Depression in der Auseinandersetzung mit John Maynard Keynes zentral sind. In beiden Diskursen spielen diese und andere Vertreter der dritten und vierten Generation der Schule eine federführende Rolle, was auch zu Innovationen insb. auf dem Gebiet der Marktprozess-, Geld-, Kapital- und Konjunkturtheorie führt. Im Ergebnis erreicht die Österreichische Schule Mitte der 1930er Jahre den Zenit ihrer internationalen Anerkennung. Ihre Ansätze werden vor dem Ausbruch der „Keynesianischen Revolution“ (Keynesianismus) in den Konsens der um diese Zeit dominierenden neoklassischen Theorie integriert.

4. Die Emigration und die Zuwendung zur Sozialphilosophie

Bereits Anfang der 1930er Jahre wird Wien von immer weiteren Vertretern der Schule verlassen. Während bei einigen primär Karriereüberlegungen im Vordergrund stehen, etwa bei F. A. von Hayeks Wechsel an die London School of Economics 1931, antizipieren andere das Ende der Ersten Republik und wandern deswegen aus, etwa L. von Mises mit der Annahme eines Rufes nach Genf 1934. Bis 1938 ist dieser Prozess nahezu vollständig abgeschlossen. Bei einigen Vertretern, etwa Gottfried von Haberler, Fritz Machlup und Oskar Morgenstern, sind die USA das unmittelbare Auswanderungsziel, während bei L. von Mises und F. A. von Hayek die Stationen New York bzw. Chicago erst 1940 bzw. 1950 erreicht werden.

Die Emigration bedeutet einen vielfachen Bruch, u. a. in sprachlicher, kultureller und wissenschaftssoziologischer Hinsicht, und verläuft bei den verschiedenen Ökonomen unterschiedlich erfolgreich. Der Begriff „Schule“ ist für die Gruppe nach dem Verlust Wiens als Mittelpunkt im engeren Sinne nicht mehr zutreffend. Während G. von Haberler, F. Machlup und O. Morgenstern weiterhin ökonomische Theorie i. S. d. angelsächsisch geprägten Volkswirtschaftslehre (Wirtschaftswissenschaften) der Nachkriegszeit betreiben, vollziehen L. von Mises und F. A. von Hayek mit Blick auf die bedrängte westliche Zivilisation zunehmend eine Hinwendung zu Fragen der Sozialphilosophie. Hierfür steht nunmehr eine Erneuerung des Liberalismus in inhaltlicher und organisatorischer Hinsicht im Vordergrund, etwa im Rahmen der 1947 gegründeten Mont Pèlerin Society (Neoliberalismus).

5. Die Transformation zur „Austrian Economics“

Mitte der 1970er Jahre beginnt in den USA eine Erneuerung der Tradition, welche bei den Beteiligten zur Selbstbezeichnung „Austrian Economics“ führt. Diese findet an verschiedenen Kristallisationspunkten statt. Während an der New York University insb. Israel Kirzner eine Erneuerung im akademischen Sinne anstrebt, zielt Murray Rothbard stärker auf eine Politisierung der „Austrians“. Bis heute besteht dieser Gegensatz fort: Während das Ludwig von Mises Institute in Auburn (Alabama) die Agenda M. Rothbards betreibt, ist die George Mason University in Fairfax (Virginia) der Mittelpunkt der akademischen Weiterentwicklung der Tradition der Österreichischen Schule. In der Forschungsagenda von Peter Boettke erfolgt dies insb. in Verknüpfung mit den Erkenntnissen der Public Choice-Schule und der Bloomington-Schule. Ebenso zeigen moderne „österreichische“ Ansätze i. d. R. ein Interesse an qualitativen Forschungsmethoden und sind um interdisziplinären Austausch bemüht. Auch innerhalb des Faches Geschichte des ökonomischen Denkens erfreut sich die Historiographie der 150jährigen Entwicklung zunehmenden Interesses.